Loe raamatut: «Clarissa»
Samuel Richardson, Horst Tran
Clarissa
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Clarissa
Impressum neobooks
Clarissa
Brief I
Miss Anna Howe an Miss Clarissa Harlowe
10. Januar.
Liebste Freundin, ich bin wegen der Unruhe, in die Ihre Familie geraten ist, äußerst besorgt. Mir ist klar, wie sehr es Sie schmerzen muss, öffentlich so ins Gerede gekommen zu sein. Da der Anlass aber allgemein bekannt ist, lässt sich in diesem Zusammenhang unmöglich vermeiden, dass eine junge Dame, deren erlesene Vorzüge das Interesse der Leute wecken, die Aufmerksamkeit aller auf sich zieht. Die Einzelheiten darüber, wie wegen dieses von Ihnen nicht verursachten Vorfalls mit Ihnen umgegangen wird, möchte ich gerne von Ihnen selbst erfahren, wobei der Geschädigte, nach dem, was ich gehört habe, der Angreifer war.
Als ich von dem Zusammentreffen erfuhr, habe ich nach Mr. Diggs, dem Wundarzt, geschickt, um für Sie herauszufinden, wie es um Ihren Bruder steht. Er sagte mir, dass die Wunde harmlos sei, wenn keine Gefahr durch das Fieber entstünde, das sich durch die Verwirrung seines Gemüts anscheinend verschlimmert hat.
Gestern trank Mr. Wyerley bei uns Tee, und obgleich er für Mr. Lovelace keineswegs eingenommen ist, wie man vielleicht meinen könnte, macht er ebenso wie Mr. Symmes Ihrer Familie Vorwürfe wegen der Behandlung, die Mr. Lovelace erfuhr, als er sich persönlich nach dem Befinden Ihres Bruders erkundigte und zum Ausdruck brachte, wie sehr er den Vorfall bedauert.
Es heißt, dass Mr. Lovelace nichts anderes übrig blieb als seinen Degen zu ziehen, und dass die Ungeschicklichkeit oder das Ungestüm Ihres Bruders diesen schon im ersten Durchgang der Gewalt seines Gegners ausgeliefert hat.
Wie ich erfuhr, wich Mr. Lovelace einige Schritte zurück und sagte zu Ihrem Bruder: „Geben Sie Acht, Mr. Harlowe – Ihre Heftigkeit schwächt Ihre Deckung. Sie verschaffen mir zu viel Vorteil. Ihrer Schwester wegen vergebe ich alles: wenn –“
Dadurch öffnete Ihr Bruder aber noch mehr seine Deckung zum Vorteil seines Gegners, der ihm nach einem leichten Stich in den Arm sein Schwert wegschlug.
Es gibt Leute, die Ihren Bruder wegen seiner angeborenen Arroganz und Wildheit und seinem unbeherrschten Gemüt nicht mögen; sie sagen, dass die Hitze des jungen Herrn abkühlte, als er sein Blut an seinem Arm reichlich herabfließen sah; und dass er die großzügigen Dienste seines Gegners (der ihm aus seinem Mantel und seiner Weste heraushalf und seinen Arm verband, bis der Arzt kommen konnte) mit einer solchen Geduld annahm, dass der Besuch, den ihm sein Gegner abstatten wollte, um sich nach seiner Gesundheit zu erkundigen, nichts von Hohn oder Unangemessenheit hatte.
Wie dem auch sei, jeder fühlt mit Ihnen mit. So beharrlich und fest in Ihrem Verhalten; so erfüllt, wie Sie sagen, von dem Wunsch, bis zuletzt unauffällig durchs Leben zu gleiten; und, wie ich hinzufügen darf, auch ohne das Verlangen, Ihre stille Wohltätigkeit öffentlich bekannt zu machen, sondern glücklich und zufrieden im erhabenen Bewusstsein derselben, das damit einhergeht; eher nützlich als glanzvoll, nach Ihrem Motto; jetzt aber, zu Ihrem Verdruss, ins helle Licht gezerrt, wie ich es nenne, und im eigenen Haus für die Vergehen anderer Leute beschuldigt – wie muss eine solche Tugend durch und durch darunter leiden! – Und doch muss man zugeben, dass Ihre Klugheit Ihrer gegenwärtigen Prüfung gewachsen ist.
Da all Ihre Freunde außerhalb lhres Hauses befürchten, dass aus einem so heftigen Streit, in den beide Familien nun wohl verstrickt sind, ein weiteres Unheil folgen könnte, muss ich Sie ersuchen, mir durch Ihre eigenen Nachrichten zu ermöglichen, bei passender Gelegenheit zu Ihrer Rechtfertigung beizutragen.
Meine Mutter und wir anderen wie auch der Rest der Welt reden unter diesen Umständen von nichts anderem als von Ihnen und von den Folgen, die aus dem Zorn eines Mannes von Mr. Lovelaces Gemüt erwachsen könnten, der nach seinen Worten von Ihren Onkeln höchst unwürdig behandelt wurde. Meine Mutter meint, dass Sie ihn weder sehen und mit ihm korrespondieren können, ohne den Anstand zu verletzen. Sie ist in hohem Maße von Ihrem Onkel Antony beeinflusst, der uns gelegentlich besucht, wie Sie wissen. Bei solchem Anlass hat er es ihr als Verbrechen dargestellt, wenn eine Schwester einem Mann Hoffnung machte, der seinen Weg in ihre Gunst durch das Blut ihres Bruders geht (wie er es ausdrückte).
Schreiben Sie mir deshalb, meine Liebe, Ihre ganze Geschichte von der Zeit an, als Mr. Lovelace zuerst in Ihr Haus eingeführt wurde; und insbesondere einen Bericht über alles, was zwischen ihm und Ihrer älteren Schwester vorgefallen ist; worüber es unterschiedliche Nachrichten gibt; einige Leute behaupten bedenkenlos, dass die jüngere Schwester der älteren einen Verehrer gestohlen hat; und schreiben Sie bitte so ausführlich, dass es auch die zufriedenstellen würde, die über Ihre Angelegenheiten weniger wissen als ich. Wenn aus der Heftigkeit von Seelen wie solchen, mit denen Sie zu tun haben, irgendein Unglück entsteht, wird alles, was Sie über vorausgehende Ereignisse berichten, vorzüglich zu Ihrer Rechtfertigung dienen.
Sie sehen, was Ihnen widerfährt, wenn Sie über die Ihrem Geschlecht auferlegten Grenzen hinausgehen. Jede Frau, die Sie kennt oder über Sie gehört hat, glaubt von Ihnen für Ihr Verhalten in dieser so heiklen und kummervollen Lage Rechenschaft fordern zu können.
Alle Augen sind auf Sie gerichtet in der Erwartung, dass Sie ein Beispiel geben. Ich wünsche beim Himmel, dass Sie die Freiheit hätten, Ihre eigenen Wege zu gehen! Alles würde dann, so meine ich, zu einer angenehmen und ehrenvollen Lösung gelangen. Was mir große Sorge macht, sind aber jene, die Sie lenken; denn Ihre Mutter, so bewundernswert geeignet sie dafür ist, muss sich selbst der Leitung anderer unterwerfen. Ihre Schwester und Ihr Bruder werden Sie gewiss von Ihrem Weg abbringen.
Das ist aber ein Punkt, den genauer auszuführen Sie mir nicht gestatten würden; verzeihen Sie also bitte, dass es hiermit geschehen ist. – Wieso aber verzeihen? Wenn Ihre Sorgen auch meine Sorgen sind? Wenn Ihre Ehre meine Ehre ist? Wenn ich Sie liebe, wie keine Frau jemals eine andere geliebt hat? Und wenn Sie diese Sorge und diese Liebe zugelassen haben? Und ich über Jahre, die bei so jungen Leuten viele genannt werden können, zu Ihren besten Freundinnen gezählt habe?
Ihre ewig dankbare und zugeneigte
Anna Howe
PS. Wollen Sie mir den Gefallen tun und eine Abschrift der Einleitung zu Ihres Großvaters Testament übersenden, sowie mir gestatten, sie an meine Tante Harman zu schicken? – Sie würde es überaus gerne lesen. Sie ist von Ihrem Charakter aber so fasziniert, dass sie, obgleich mit Ihnen persönlich nicht vertraut, mit dem Vorzug einverstanden ist, der Ihnen in diesem Testament gegeben wird, noch bevor sie die Gründe des Erblassers für diesen Vorzug kennt.
Brief II
Miss Clarissa Harlowe an Miss Howe
13. Januar
Wie Sie mich, liebste Freundin, mit Ihrer Höflichkeit erdrücken! Ich kann Ihre Aufrichtigkeit nicht bezweifeln. Achten Sie aber darauf, mir keinen Grund zu geben, Ihrer Parteilichkeit wegen Ihre Urteilskraft in Frage zu stellen. Sie übersehen die vielen wunderbaren Ratschläge, die von Ihnen kamen und die ich mit Geschick so verwende, als wären sie mein Werk. Denn in allem, was Sie tun und sagen, ja sogar in Ihren Blicken (so voller Leben!) belehren Sie jeden, der Sie liebt und beobachtet, so wie ich Sie liebe und beobachte – darum seien Sie in Zukunft bitte sparsamer mit Ihrem Lob, damit nach diesem Bekenntnis nicht der Verdacht aufkommt, dass Sie sich insgeheim selbst meinen, wenn Sie mich loben.
Unser Haus ist tatsächlich merkwürdig zerrüttet. – Zerrüttet! – Es ist seit dem unglückseligen Handel in Unruhe; und mir hat man die ganze Schuld zugeschoben. Ich hätte mir aber auch alleine viel Kummer gemacht, wenn andere mich damit verschont hätten.
Ob es nun an einer falschen Ungeduld liegt, weil ich zu nachgiebig erzogen worden bin, um gegen Vorwürfe unempfindlich zu sein; oder am Schmerz, diejenigen mich anklagen zu hören, die in Schutz zu nehmen meine Pflicht ist: Manchmal habe ich mir gewünscht, dass es Gott gefallen hätte, mich in meinem letzten Fieber zu sich zu nehmen, als alle mich liebten und schätzten; aber öfter noch, dass mich mein Großvater niemals so ausgezeichnet hätte, wie er es tat; denn diese Auszeichnung hat mich von den Gefühlen meines Bruders und meiner Schwester entfremdet, oder zumindest eine Eifersucht auf die geargwöhnte Gunst meiner beiden Onkel geweckt, die gelegentlich ihre Liebe überschattet hatte.
Jetzt, da mein Bruder glücklich von seinem Fieber genesen ist und Hoffnung auf Besserung seiner Wunde besteht, obgleich er sich noch nicht aus dem Zimmer getraut hat, will ich die kleine Geschichte so genau wiedergeben, wie Sie es wünschen. Der Himmel verhüte aber, dass irgendetwas geschieht, das ihre Verwendung für den Zweck erfordert, den Sie erwähnt haben!
Ich beginne nach Ihrer Anweisung mit Mr. Lovelaces Werben um meine Schwester. Ich fasse mich so kurz wie möglich und gebe nur die Fakten wieder. Ihnen überlasse ich, die Wahrheit der Behauptungen zu beurteilen, dass die jüngere Schwester die ältere bestohlen hat.
Aus einer Unterredung zwischen Lord M. und meinem Onkel Antony ergab sich, dass Mr. Lovelace (mit Zustimmung meiner Eltern) meiner Schwester Arabella seine Aufwartung machte. Mein Bruder war damals in Schottland damit beschäftigt, den Zustand eines beträchtlichen Landsitzes zu begutachten, den ihm seine freigiebige Patentante zusammen mit einem ebenso beträchtlichen Gut in Yorkshire hinterlassen hat. Ich war gleichfalls abwesend, da ich in meinem Meierei-Haus weilte, wie es genannt wird, und damit befasst, die Rechnungen des Gutes durchzusehen, das mir mein Großvater gütigerweise vermacht hat, und das einmal im Jahr von mir zu inspizieren war, auch wenn ich es gänzlich in die Verwaltung meines Vaters übergeben habe.
Meine Schwester besuchte mich am Tag nach Mr. Lovelaces Einführung und schien von dem Herrn höchst angetan zu sein. Seine Geburt, sein Besitzvermögen, ein reines Einkommen von 2000 Pfund jährlich, wie Lord M. meinem Onkel versichert hat; und voraussichtlicher Erbe der großen Güter des Lord; sowie das Beträchtliche, was er von Lady Sarah Sadlier und Lady Betty Lawrence zu erwarten hat, die wie sein Onkel den großen Wunsch hatten, ihn (den letzten seiner Linie) verheiratet zu sehen.
„Was für ein hübscher Mann! – O du liebe Clary!“ (denn damals liebte sie mich, im Überfluss ihrer guten Stimmung wegen ihm, noch innig!) Er sei beinahe zu hübsch für sie! – Wäre sie so reizend wie nur irgendeine, dann könnte sie seine Gefühle wahrscheinlich an sich binden! – Denn er ist wild, habe sie gehört; sehr wild, sehr lebenslustig; er suche Liebeshändel – doch er ist jung; ein Mann von Verstand, der seine Fehler erkennen würde, wenn sie nur genug Geduld aufbrächte, falls diese nicht schon durch die Heirat kuriert würden!
So redete sie fort und bedrängte mich, dass ich „den bezaubernden Mann sehe“, wie sie ihn nannte. – Dann wieder war sie in Sorge, „nicht hübsch genug“ für ihn zu sein, und fand es „traurig“, dass „der Mann in dieser Hinsicht der Frau gegenüber im Vorteil“ sei. Dann aber trat sie vor den Spiegel und beglückwünschte sich dazu, „sehr gut“ auszusehen, und fand, dass es viele Frauen gäbe, die als passabel durchgehen, ohne ihr das Wasser reichen zu können; dass man sie immer für ansehnlich gehalten habe, und dass gutes Aussehen – „lasst dir sagen, Clary!“ – nicht so vergänglich sei wie Schönheit, sondern Bestand hätte, wenn jene verdunstet und verfliegt. „Nein, was das angeht“ – (und wieder ging sie zum Spiegel) – seien ihre Züge „nicht ungleichmäßig“ und ihre Augen „überhaupt nicht unschön“. Ich entsinne mich, dass diese damals ungewöhnlich glänzten. – „Kurzum, kein Makel, aber auch nichts sehr Anziehendes.“ Sie zweifelte wieder. „Was denkst du, Clary?“
Verzeihen Sie mir, meine Liebe, ich bin vorher nie so in die Einzelheiten gegangen, auch nicht Ihnen gegenüber. Ich würde auch nicht so offen über eine Schwester schreiben, wenn sie sich nicht vor meinem Bruder damit rühmte, nie etwas Gutes an Lovelace gefunden zu haben, wie ich nachher berichten werde. Zudem wollen Sie immer, dass ich genaue Beschreibungen gebe, und erlauben mir nicht, über die Miene und den Ton hinwegzugehen, womit über bedeutende Dinge gesprochen wird. Und tatsächlich verraten Miene und Sprechweise oft mehr als die begleitenden Worte.
Ich gratulierte ihr zu ihren Aussichten, was sie mit großer Selbstgefälligkeit entgegennahm.
Beim nächsten Besuch gefiel ihr der Herr noch besser. Er ging jedoch nicht sehr auf sie ein, obwohl es dafür Gelegenheit gab. Man erstaunte darüber, da mein Onkel ihn vor allem als Besucher meiner Schwester in unser Haus eingeführt hatte. Wir sind im Überschwang der Gefühle aber immer eilfertig mit Entschuldigungen bei der Hand, wenn jemand, dessen Zuneigung wir gewinnen wollen, uns durch seine Unhöflichkeit befremdet. So fand auch meine Schwester einen für Mr. Lovelace sehr vorteilhaften Grund, die ihm gegebene Gelegenheit nicht zu nutzen. – Es sei wahrhaftig Schüchternheit gewesen. (Schüchternheit bei Mr. Lovelace, meine Liebe!) – Tatsächlich wirkt er, seiner Heiterkeit und Lebhaftigkeit zum Trotz, nicht wie ein frecher Kerl. Ich denke aber, dass es viele, viele Jahre her ist, dass er schüchtern war.
Dennoch gelangte meine Schwester zu dieser Erklärung – Sie glaubte, dass Mr. Lovelace den schlechten Ruf nicht verdiene, den er in Bezug auf Frauen hat. – Er war in ihren Augen wirklich ein bescheidener Mann. Er würde sich erklärt haben, dachte sie; aber als er ein oder zwei Mal diese Absicht hatte, geriet er in eine so liebenswürdige Verlegenheit! Welch tiefen Respekt er vor ihr habe! Eine vollkommene Ehrfurcht, dachte sie; und fand es wunderbar, dass ein Freier „seiner Geliebten Ehrfucht erweist“. – Das finden wir wohl alle, meine ich, und mit gutem Grund; denn nach dem zu urteilen, was ich in vielen Familien gesehen habe, wird nachher davon nur noch wenig erwiesen. – Und meiner Tante Hervey sagte sie, sie wolle beim nächsten Mal weniger zurückhaltend sein. Sie sei nicht eine von diesen Närrinnen, nicht sie, die jemanden quälen, der gut behandelt zu werden verdient, und ihn umso mehr quälen, je höher er sie schätzt. – Ich wünschte, sie hätte damit nicht eine Person im Sinn, die ich liebe.
Bei seinem dritten Besuch verhielt sich Bella so freundlich und durchdacht, wie es ihr Plan war, so dass, nach ihrem eigenen Bericht, der Mann sich hätte erklären können. – Doch er war immer noch schüchtern; er vermochte diese unpassende Ehrfurcht nicht zu überwinden. So endete dieser Besuch wie der vorherige.
Nun begann sie, unzufrieden mit ihm zu sein. Sie verglich seinen allgemeinen Ruf mit diesem besonderen Benehmen ihr gegenüber. Und da sie niemals zuvor hofiert worden war, gestand sie, sie wisse nicht, wie mit einem so seltsamen Verehrer umzugehen sei. „Was hat der Mann im Sinn?“, fragte sie sich. Hatte ihr Onkel ihn nicht ausdrücklich als ihrer Freier zu ihr gebracht? – Schüchternheit konnte es nicht sein (wie sie nun dachte), da er seine Absicht auch ihrem Onkel hätte erklären können, wenn ihm der Mut fehlte, offen zu ihr zu sprechen. – Nicht dass ihr viel an ihm gelegen wäre; es wäre aber sicher doch rechtens, wenn, in einem Fall wie diesem, eine Frau über die Absichten eines Mannes frühzeitig die Wahrheit erführe, und zwar aus seinem eigenen Mund. – Tatsächlich begann sie nun zu glauben, er wäre erpichter auf die gute Meinung ihrer Mutter als auf ihre eigene! – Jedermann, gab sie zu, bewunderte die Konversation ihrer Mutter; er wäre aber im Irrtum, wenn er glaube, dass es mit Ehrerbietung gegenüber ihrer Mutter getan sei. Zu seinem eigenen Wohl sollte er es ihr überlassen, ob sie mit ihm einverstanden ist, falls er ihr dafür einen Grund gibt. Dieses distanzierte Betragen, so musste sie gestehen, sei umso ungewöhnlicher, als er seine Besuche fortsetzte und seinen großen Wunsch nach Freundschaft mit der ganzen Familie bekundete. Und an ihrem Verstand könne er nicht zweifeln, falls sie das glauben dürfe, was alle über sie dächten. Er habe ihn häufig bemerkt und viele ihre klugen Worte bewundert, wenn sie von ihren Lippen kamen. Geheimnistuerei sei offenen und freien Geistern wie dem ihren eine Qual; und sie müsse meiner Tante (an die das alles gerichtet war) sagen, dass sie niemals vergessen würde, was sie ihrem Geschlecht und sich selbst schuldig sei, wäre Mr. Lovelaces Benehmen auch so untadelig wie seine Erscheinung und sein Werben noch so eifrig.
Ich war bei der Beratschlagung nicht dabei, da ich noch auswärts weilte. Meine Tante Hervey und sie kamen überein, dass sie sich beim nächsten Besuch ganz förmlich und zurückhaltend geben solle, außer er würde sich in besonderer Weise an sie wenden.
Allerdings hatte meine Schwester die Sache wohl nicht gut durchdacht. Wie sich herausstellte, war das nicht der Weg, den man wegen einer bloßen Unterlassung bei einem Mann von Mr. Lovelaces Scharfsinn nehmen sollte, und auch bei keinem anderen Mann. Denn wenn Liebe nicht tief genug verwurzelt ist, um unter den günstigsten Umständen eine Liebeserklärung hervorzubringen, dann ist kaum zu hoffen, dass der verderbliche Sturm des Zorns oder der Rache sie kräftigt. Außerdem ist meine Schwester nicht von Natur aus die fröhlichste Person. Diese Wahrheit ist zu bekannt, als dass ich sie verbergen wollte, besonders vor Ihnen. Deshalb muss sie, fürchte ich, einen sehr nachteilhaften Eindruck erweckt haben, als sie darauf zielte, noch schlecher gelaunt als sonst zu wirken.
Wie das nächste Gespräch der beiden verlief, weiß ich nicht. In Anbetracht des Ausgangs könnte man meinen, dass Mr. Lovelace so niederträchtig war und ausgerechnet diese Gelegenheit als passend ansah, um seinen Antrag zu stellen. Allerdings, sagte sie, kam es dazu erst, als er auf irgendeine Weise (sie wusste nicht wie) ihre Abneigung gegen ihn so gesteigert hatte, dass es ihr unmöglich war, sie in einem Moment wieder abzulegen. Dennoch wiederholte er seine Bitte, als erwarte er eine endgültige Antwort, ohne abzuwarten, dass ihre Stimmung aufheiterte, und ohne sich darum zu bemühen. Ihr blieb also nichts übrig, als sich der Bitte zu verweigern, doch auf eine Art, die ihn denken ließ, es sei nicht sein Anliegen, was sie verabscheute, sondern die Weise, in der er es vorgebracht hatte; dass sein Werben eher an ihre Mutter gerichtet zu sein schien als an sie selbst, als könne er ihrer eigenen Zustimmung zu jeder Zeit sicher sein.
Eine Zurückweisung, scheint mir, die eher anspornt als abkühlt, wie auch der Rest ihrer Einwendungen, als da wären, sie habe „keine Neigung, ihre Lage zu verändern“, und sei so „übermäßig glücklich“, dass sie „nie glücklicher“ sein könne. Und weitere bejahende Verneinungen, wie ich sie nenne, ohne dass ich meiner Schwester damit zu nahe treten möchte. Denn was soll eine junge Frau unter solchen Umständen sagen, wenn zu befürchten ist, dass ein zu rasches Einverständnis sie bei einem Geschlecht verächtlich macht, das den Wert einer Gunstbezeigung daran bemisst, wie schwierig oder leicht sie zu erlangen ist? Miss Biddulphs Antwort auf eine Abschrift von Versen eines Gentleman, die unser Geschlecht den Hang zur Verkleidung vorwirft, ist nicht so übel, obgleich Sie vielleicht denken werden, es verrate zu viell über den weiblichen Charakter.
Kleinherzige Männer! –
Die uns verachten, wenn wir gewogen sind;
Uns aber tadeln, wenn wir widerstehen!
Wollt ihr, dass wir die Wahrheit sagen,
Nehmt selbst die Maske ab und lügt nicht mehr.
Ihr redet von Buhlerei! – Doch euer falsches Herz
Zwingt uns zu falschem Spiel.
Hier muss ich die Feder beiseitelegen. Ich werde sie bald wieder aufnehmen.
Brief III
Miss Clarissa Harlowe an Miss Howe.
13. und 14. Januar
Und so bekam Mr. Lovelace die Antwort von meiner Schwester, die ihm genehm zu sein schien. Er fügte sich, wie er behauptete, mit großem Bedauern darein, wie er behauptete (er ist ein Heuchler, fürchte ich). So viel Entschlossenheit; so viel vornehme Festigkeit in meiner Schwester, dass es aussichtlos schien, ihre Meinung ändern zu wollen, die sie ganz überlegt gefasst hatte. Wie Bella uns berichtete, hat er beim Abschied geseufzt. Tief seufzend, so berichtete sie, nahm er ihre Hand und küsste sie inbrünstig – Zog sie dann mit ehrerbietigster Miene zurück – Er stand nun vor ihr. In ihrem Herzen fühlte sie beinahe Mitleid, obwohl er sie so verärgert hat. Eine Vorstufe zur Liebe, dieses Mitleid; denn zu dieser Zeit dachte sie kaum daran, dass er sein Werben nicht wiederholen würde.
Nachdem dem Abschied von Bella besuchte er meine Mutter und berichtete seinen Misserfolg in einer so ehrerbietigen Weise, sowohl im Hinblick auf meinen Schwester als auch auf die ganze Familie, und mit einer solchen Betroffenheit, weil ihm die Möglichkeit verwehrt blieb, mit dieser verbunden zu werden, dass sie alle (mein Bruder weilte damals, wie ich schon sagte, in Schottland) zu seinen Gunsten beeindruckt waren und sie glaubten, er würde in dieser Angelegenheit einen neuen Versuch unternehmen. Mr. Lovelace reiste aber unverzüglich nach London, wo er ganze zwei Wochen blieb und sich bei einem Gespräch mit meinen Onkel Antony über den grausamen Entschluss seiner Nichte beklagte, ihre Meinung nicht zu ändern. Man sah nun, dass die Sache am Ende war.
Meine Schwester machte das Beste aus der Situation. Sie verwandelte die Not in Tugend und Lovelace in einen ganz anderen Mann als zuvor. Ein eitler Kerl sei er, der seine Vorzüge allzu gut kenne, die aber von ganz anderer Art seien als die, welche sie sich vorgestellt habe. Kalt und warmherzig, ganz wie es ihm passt; seine Liebe wie ein Fieber. Ein aufrechter Mann von Tugend und Moral wiege tausend von diesen munteren Schmeichlern auf. Ihrer Schwester Clary möge die Mühe vielleicht wert sein, einen solchen Mann an sich zu binden; sie ist geduldig; sie kann meisterhaft überzeugen; und sie hat, das müsse man gerechterweise sagen, ein gewisses gutes Aussehen; was sie selbst aber betrifft, so könne sie keinen Mann haben, auf dessen Herz sie sich nicht für einen Augenblick verlassen kann; nein, um nichts in der Welt; und aufrichtig froh sei sie, ihn abgewiesen zu haben.
Als Mr. Lovelace aber aufs Land zurückkehrte, hielt er einen Besuch bei meinen Eltern für angeraten und sagte ihnen, wie unglücklich er über die Ablehnung der gewünschten Verbindung auch sei, so er hoffe doch, dass man ihm die freundschaftliche Verbundenheit mit einer Familie erlaube, die er immer geachtet habe. Unglücklicherweise, wie ich sagen darf, war ich in diesem Moment zuhause.
Sofort war zu spüren, dass er seine Aufmerksamkeit nun mir galt. Sobald er gegangen war, schien meine Schwester in einer Anwandlung von Heldentum sein Werben unterstützen zu wollen, falls es zu einem Antrag käme.
Meine Tante Hervey war zugegen und sagte erfreut, wir würden das schönste Paar in England abgeben – falls meine Schwester keine Einwände hätte. „Nein, wahrhaftig nicht!“, meinte diese mit wegwerfender Geste – das wäre doch seltsam, nachdem sie ihn so entschieden abgewiesen hatte.
Meine Mutter erklärte, was sie an einer Verbindung mit irgendeiner ihrer Töchter störe, sei einzig sein unmoralischer Lebenswandel.
Mein Onkel Harlowe fand, dass seine Tochter Clary, wie er mich seit meiner Kindheit nannte, aus ihm einen neuen Menschen machen könne, wenn nur irgendeine Frau das vermöge.
Mein Onkel Antony gab begeistert seine Zustimmung, machte es aber wie schon meine Tante von meiner Schwester abhängig.
Diese wiederholte, dass sie ihn verachte, und erklärte, ihn auch verschmähen zu wollen, wenn es gar keinen anderen Mann in England gäbe. Sie sei, wie sie versicherte, ganz im Gegenteil bereit, mit Brief und Siegel auf ihre Ansprüche zu verzichten, wenn Miss Clary sich von ihm blenden ließe und sonst alle mit seinem Antrag an das Mädchen einverstanden wären.
Nach langem Schweigen und von meinem Onkel Antony gedrängt, seine Meinung kundzutun, sagte mein Vater, er habe einen Brief von seinem Sohn erhalten, der von Mr. Lovelaces Besuchen bei seiner Schwester Arabella gehört hatte. Er habe ihn nur meiner Mutter gezeigt, weil bei seinem Empfang die Angelegenheit schon beendigt gewesen sei. Im Brief habe der Sohn seinen Abscheu vor einer Verbindung mit Mr. Lovelace ausgedrückt wegen dessen immoralischer Lebensführung; er, der Vater, wisse, dass zwischen beiden ein alter Groll schwele; er wolle aber, um jede Uneinigkeit und Feindseligkeit in der Familie zu vermeiden, seine eigene Stellungnahme bis zur Ankunft seines Sohnes aufschieben, um dessen weitere Einwände zu hören. Er sei umso geneigter, seinem Sohn diese Gefälligkeit zu erweisen, als Mr. Lovelaces allgemeiner Ruf die Abneigung des Sohnes nur zu sehr rechtfertige. Außerdem habe er (wie angeblich auch jeder andere) gehört, dass Mr. Lovelace sehr ausschweifend lebe; dass er auf seinen Reisen viele Schulden gemacht habe; und dass er ein Verschwender sei.
Tasuta katkend on lõppenud.