Loe raamatut: «Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof»

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Hubertus Lutterbach

Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof

Hubertus Lutterbach

Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof

Wie Religion heute lebendig ist

Butzon & Bercker

„Orientierung durch Diskurs“ Die Sachbuchsparte bei Butzon & Bercker, in der dieser Band erscheint, wird beratend begleitet von Michael Albus, Christine Hober, Bruno Kern, Tobias Licht, Cornelia Möres, Susanne Sandherr und Marc Witzenbacher.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


Das Gesamtprogramm von Butzon & Bercker finden Sie im Internet unter www.bube.de

ISBN 978-3-7666-1862-7

E-Book (Mobi): ISBN 978-3-7666-4261-5

E-Book (PDF): ISBN 978-3-7666-4262-2

E-Pub: ISBN 978-3-7666-4263-9

© 2014 Butzon & Bercker GmbH, Hoogeweg 100, 47623 Kevelaer, Deutschland, www.bube.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Christoph M. Kemkes, Geldern

Satz: Schröder Media GbR, Dernbach

Printed in Germany

Inhalt

Einleitung

1. Religion – Ein gesellschaftliches Thema?

2. Aktuelle Trends: Individualität, Ganzheitlichkeit, Institutionenferne

3. Ziel: Das Aufspüren von religiösem Leben in unserer Gesellschaft

I. „… mitten im Leben“

1. Zwischen Selbstfindung und Gebeinverehrung – Pilgerschaft heute

a) Hape Kerkeling und andere Pilgerberichte

b) Das Christentum – Eine Religion des Weges

c) Fazit

2. Aktuelle partnerschaftliche Selbstinszenierungen – Liebesschlösser

a) „Irrste Hochzeiten“ – Private Events

b) Liebesschlösser – Individualität in der Öffentlichkeit

c) Fazit

3. Amtsverzicht – Warum zwei Bischöfe zurücktraten

a) Der Fall Margot Käßmann

b) Glaubwürdigkeit als Amtsideal

c) Walter Mixas Ende als Bischof von Augsburg

d) Menschenfreundlichkeit als Bischofsideal

e) Fazit

4. Einfach leben! – Anselm Grün

a) Das Credo von Anselm Grün – Tradition braucht Übersetzung

b) „Einfach leben“ – Bewährte Botschaft, neues Format

c) Anselm Grüns Impulse aus der Christentumsgeschichte

d) Fazit

5. Leben bis zum letzten Augenblick – Das Hospiz

a) Ein kurzer und steiniger Weg – Hospizarbeit in Deutschland

b) Cicely Saunders († 2005) – Wegbereiterin der Hospizbewegung

c) Christentumsgeschichtliche Wurzeln der modernen Hospizbewegung

d) Fazit

II. „vom Tod umfangen …“

1. Medizinisch tot, religiös fortlebend – Johannes Paul II. († 2005)

a) Johannes Paul II. – Ein Gottesmensch

b) Drei Gründe für das religiöse Fortleben eines Toten

c) Der Tote lebt – Nur wie lange?

d) Fazit

2. Respekt für einen Suizidenten – Robert Enke († 2009)

a) Selbsttötung – Aktuelle Verwirrung und historische Orientierung

b) Enkes Tod – Zwischen irdischer Depression und göttlicher Zusage

c) Fazit

3. Zeichen der Gemeinschaft – Unfallkreuze am Straßenrand

a) Vom ältesten menschlichen Zeichen zum Unfallkreuz

b) Das Unfallkreuz als Ort der Präsenz

c) Fazit

4. Trauer um die Opfer – Das Loveparade-Drama von Duisburg

a) Die Trauerfeier am 31. Juli 2010 in der Salvatorkirche

b) Die Trauerfeier im Pressespiegel

c) Öffentliche und private Trauer außerhalb des Gottesdienstes

d) Christentumsgeschichtliche Räume der Trauer

e) Fazit

5. Verstorbene Haustiere – Was sie mit verstorbenen Menschen teilen

a) Hundeluxus von Menschenhand – Die Vermenschlichung von Tieren

b) Das Tierkrematorium

c) Der virtuelle Tierfriedhof

d) Der herkömmliche Tierfriedhof

e) Bilder für das religiöse Fortleben verstorbener Tiere und Menschen

f) Fazit

Epilog

1. Subjektivierende Akzente

2. Streben nach Ganzheitlichkeit

3. Distanzierung von den kirchlichen Institutionen

4. Fazit

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Danksagung

Einleitung

Über Jahre hinweg habe ich als ehrenamtlicher Sterbebegleiter in einem Hospiz gearbeitet und Menschen in ihrer letzten Lebensphase unterstützt. Ich habe Schwerkranke erlebt, die von sich sagten, dass sie jahrzehntelang ihr Leben gemäß den kirchlichen Vorgaben gestaltet hätten. Doch in ihren letzten Wochen und Tagen hatten sie kein Verlangen mehr nach den ihnen vertrauten äußeren Zeichen. Stattdessen zogen sie sich in ihre eigene Stille zurück, waren wach für den Augenblick, öffneten sich für musiktherapeutische Angebote oder richteten ihre Blicke auf schöne Fotos. Umgekehrt traf ich auf Menschen, die mit ihrer grundsätzlichen Offenheit für Spiritualität keinen Kontakt zu einer verfassten Kirchlichkeit gepflegt hatten, allerdings in der Situation ihrer schweren Krankheit das Gespräch mit dem Pfarrer suchten, das Gebet guter Freunde erbaten oder sogar die Spendung des Krankensakramentes wünschten.

Während meiner Jahre im ehrenamtlichen Dienst der Telefonseelsorge habe ich immer wieder erlebt, wie überraschend sich „Religion“ in der Vielfalt der Lebensgestaltung zeigen kann – sowohl unter den ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als auch bei den anonymen Anruferinnen und Anrufern. Ehrenamtliche, die sich schon vor Jahren vom kirchengemeindlichen Leben abgewandt hatten, schildern ihre Arbeit in der Telefonseelsorge als ihre eigentliche christliche Praxis. „Mein Gottesdienst ist die Nächstenliebe“, formulieren einige. Vom menschenfreundlichen Klima unter den Ehrenamtlichen inspiriert, fragen sie: „Kann es mehr Religion geben, als wenn Menschen sich in einem Geist der Aufmerksamkeit und der Gastfreundschaft miteinander verbunden fühlen und für Ratsuchende oder Einsame da sind?“ – Wie oft habe ich es erlebt, dass Anruferinnen und Anrufer zu Beginn eines Telefonates bei der Telefonseelsorge fragen: „Sind Sie Priester?“, und auf meine verneinende Antwort spontan reagieren mit den Worten: „Das macht auch nichts, Hauptsache Sie sind ein Seelsorger.“

Im Bereich der ehrenamtlichen Gefangenenbetreuung sagt mir ein Gefangener: „Ob ich Christ bin, weiß ich nicht. Ich gehöre jedenfalls keiner Kirche an. Aber den Rosenkranz, den habe ich in meiner Zelle über dem Bett hängen und bete ihn täglich. Das brauche ich einfach.“ Ein anderer Gefangener betätigt sich bei der sonntäglichen Messe als Ministrant: „Das ist für mich die einzige Möglichkeit, mal aus der grauen Unscheinbarkeit aufzutauchen und mich meinen Mitgefangenen gegenüberzustellen, auch wenn ich von denen für diesen Dienst eher mit Verachtung als mit Bewunderung angeschaut werde.“

Zuletzt denke ich an eine kürzlich verstorbene, akademisch gebildete und hochbetagte langjährige Nachbarin, die sich selbst als Anhängerin sowohl des Anthroposophen Rudolf Steiner († 1925) als auch des Dalai Lama bezeichnete. Von beiden Vorbildern hatte sie beinahe das gesamte Schrifttum gelesen. Mit Blick auf ihre Nachbarschaft vor Ort sagte sie oft mit einem Schmunzeln: „Dass ein katholischer Theologe und ein evangelischer Allgemeinmediziner neben mir wohnen und ich mit beiden befreundet bin, betrachte ich als das Glück meines Alters. Was soll mir denn da noch passieren?!“

Die vorgetragenen Schlaglichter zur aktuellen Gestaltung religiös beeinflussten Lebens zeigen individuelle Zugangswege und persönliche Ausdrucksweisen. Über ihre Suche nach Authentizität hinaus stimmen sie im Bemühen um eine ganzheitliche Alltagsgestaltung und in der Überzeugung einer gewissen Institutionenskepsis überein.

Die angesprochene Vielfalt der Lebensgestaltung unter Einschluss des Faktors „Religion“ ist auch im öffentlichen Leben unseres Landes gegenwärtig: Seit fast zwanzig Jahren moderiert Jürgen Domian allabendlich seinen in Radio und Fernsehen übertragenen „EinsLive Talk“. Als das Ziel seiner live übertragenen Telefongespräche mit inzwischen weit mehr als 20.000 Anruferinnen und Anrufern über Themen wie Glück, Liebe, Sexualität, Glauben, Papst, Politik, Krankheiten, Tod etc. formuliert er: „Ich frage die Leute alles, und die Leute können mich alles fragen.“ Auch während seiner Sendungen will Domian „Privatperson bleiben“: „Nur so entsteht Vertrauen“, unterstreicht er.1 Ebenso versteht er sich in seinem monografisch publizierten „Interview mit dem Tod“, das der ehemalige evangelische Christ nach dem Tod seines Vaters aus einer nunmehr buddhistisch beeinflussten Fragehaltung führt, als „Privatperson“: persönlich ehrlich, ganzheitlich ausgerichtet und institutionenskeptisch vorsichtig.2

Nicht zuletzt zeigen sich die Spuren religiösen Lebens aktuell in den Bereichen Sport und Musik. Ohne hier näher auf die auch wissenschaftlich heiß diskutierte Frage einzugehen, wie weit die Parallelen von Fußball und Religion tatsächlich reichen, sei immerhin an den beliebten Song „An Tagen wie diesen“ erinnert. Mit diesem Lied, das reich ist an religiösen Anspielungen und Bildern („Das hier ist ewig, ewig für heute“), besingt die Musikgruppe „Die toten Hosen“ wie selbstverständlich den Fußball ihrer Lieblingsmannschaft. Auch hier stimmen individueller Enthusiasmus („Komm, ich trag dich durch die Leute. Hab keine Angst, ich gebe auf dich Acht“), Gemeinschaftszugehörigkeit als Ausdruck der Ganzheitlichkeit („Wir lassen uns treiben, tauchen unter, schwimmen mit dem Strom“) und eine gewisse Institutionenskepsis eine Rolle („An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit. An Tagen wie diesen haben wir noch ewig Zeit. Wünsch ich mir Unendlichkeit“).

Schon lange lassen mich die vielfältigen Ausdrucksweisen religiösen Lebens in der Gegenwart aufmerken und wecken immer wieder neu mein Interesse. Dass aus dieser Beobachtungsfreude ein Buch geworden ist, verdanke ich meinen Theologie- und Philosophiestudierenden an der Universität Essen ebenso wie manchen Rückfragen meiner Kolleginnen und Kollegen. Sie haben mich zu einer solchen Orientierungshilfe angeregt. Uns alle bewegt die Frage nach der Deutung von religiösem Leben in der Gegenwart. Um dieses Projekt, das den Fragehorizont vieler wacher Zeitgenossen erreichen mag, möglichst konkret zu gestalten, mische ich mich in die wissenschaftliche Diskussion mit zehn ausgewählten Fallstudien ein.

Der in Berlin lehrende Religionssoziologe Hubert Knoblauch teilt die wissenschaftliche Frage nach der Ausdeutung des gegenwärtigen Alltagslebens unter Einschluss des Religiösen3: „Die Vielfalt der gegenwärtigen Lebensführung schreit geradezu nach einer Beschreibung, die die Unübersichtlichkeit der eigenen Lebenswelt überwinden hilft. Denn während wir über historische Religionen (und historische Texte heutiger Religionen) enorm viel wissen, beschäftigen sich nur wenige mit dem, was man die gelebte Religion nennen kann. Das Verhältnis der Forschungen, die sich mit historischen Texten beschäftigen, zu denjenigen, die die gelebte Religion erkunden, fällt nach wie vor überdeutlich zu Ungunsten der Gegenwartsreligion aus. Entsprechend wissen wir zwar sehr viel über die ,Tradition‘ und die ,Schriften‘, wenig aber über die gelebte Religion der heutigen Menschen.“4

Die „gelebte Religion“ zeigt sich heutzutage vielfältig als „populäre Religion“: Genauerhin bildet die populäre Religion die Schnittmenge zwischen populärer Kultur und Religion und entwickelt sich zu einer immer bedeutenderen Arena, in der weltanschauliches und religiöses Wissen gelebt und vermittelt werden. So formt sie es in Weisen, die den sozial und kulturell unterschiedlichen Anforderungen der Subjekte auf den Leib geschnitten sind. Es verdient ausdrückliche Hervorhebung, dass die populäre Religion die Kommunikation in den Kirchen ebenso wie die zwischen den Kirchen und ihren Mitgliedern mit umfasst. Anders gesagt: Aufgrund der Mitberücksichtigung der spezifischeren kirchlichen religiösen Kommunikation geht der Fokus dieses Buches über die populäre Spiritualität mit ihrer Betonung von Erfahrung und Gefühl sowie mit ihrer Abstinenz hinsichtlich Lehre und geprägter Deutungsmuster deutlich hinaus.

Das vorliegende Buch greift das durch den Religionssoziologen Hubert Knoblauch formulierte Desiderat („Erforscht die gelebte Religion!“) in zweifacher Hinsicht auf. Erstens bietet es ausgewählte aktuelle Beispiele dafür, wo und wie Religion in ihren gelebt-populären Ausdrucksweisen im unübersichtlichen Alltag eine Rolle spielt. Wo lässt sich Religion „dingfest“ machen und wie wirkt sie sich in ihrer konfrontierenden Kraft oder in ihren hilfreichen Zeichen aus? Zweitens werden die zutage geförderten Ausprägungen von „gelebter Religion“ historisch eingeordnet: Inwieweit sind innerhalb des aktuell religiös pluriformen Verstehenshorizonts auch christentumsgeschichtlich geprägte „Erzählfiguren“ im Spiel? Sind sie den gegenwärtigen Akteuren unbekannt oder bekannt? Wie werden sie weitererzählt – in traditionellen oder neuartigen Weisen – und mit welchen Wirkungen? Überdies können die Leserinnen und Leser des vorliegenden Buches aus den historischen Vergewisserungen für ihr eigenes Religions- und Sozialleben umso mehr Orientierung ziehen.

1. Religion – Ein gesellschaftliches Thema?

Religionssoziologisch relevantes Zahlenmaterial gibt zu erkennen, dass die Religion in jüngerer Zeit auf ein rasant angestiegenes privates und öffentliches Interesse stößt. Besonders das „World Wide Web“ veranschaulicht durch die seit Jahren unaufhaltsam anwachsenden Trefferquoten, dass Religion in unserem Land und darüber hinaus ein einflussreicher gesellschaftlicher Faktor ist: Erzielte man bei www.altavista.de unter dem Stichwort „Religion“ 1999 noch 1,8 Millionen Treffer und 2004 etwa 105 Millionen Treffer, so werden im Jahr 2013 bereits 162 Millionen Treffer angezeigt. Bei www.google.de stiegen die Treffer von 610.000 im Jahre 1999 auf 9,1 Millionen im Jahre 2004, um bis 2013 auf 698 Millionen hochzuschnellen.5

Es ist fast unmöglich, aus diesen Zahlen und den „Klicks“ der User zu erschließen, wie Religion das persönliche und das öffentliche Leben konkret prägt. Sogar die mit Religion vielfältig befasste Sozialforschung tut sich schwer, klar zu sagen, wo in unserer Gesellschaft der Faktor Religion mitten im Alltagsleben der Menschen vorkommt und wie sich diese Ausdrucksformen des Religionslebens historisch einordnen lassen. Einen gewissen „Mangel an sozialer und historischer Tiefenschärfe“ ihrer Umfrage- und Untersuchungsergebnisse gestehen selbst die besten Religionssoziologen freimütig ein.6

Im Mittelpunkt dieses Buches stehen zehn Fallstudien zur „gelebten Religion“ in Deutschland im dritten Jahrtausend. Darin eingefügte historische Zwischenreflexionen machen die aktuellen Beeinflussungen auch des religiösen Lebens durch die um sich greifenden Trends der Individualisierung, des Ganzheitlichkeitsstrebens und der Institutionendistanzierung umso klarer erkennbar.

2. Aktuelle Trends: Individualität, Ganzheitlichkeit, Institutionenferne

Der Religionssoziologe Gert Pickel weist darauf hin, wie wichtig die „Behandlung religiöser Gegenwartsereignisse in der Öffentlichkeit“ ist.7 Diese Anregung greift das vorliegende Buch auf. Die hier untersuchten Erscheinungsformen des religiösen Lebens zeigen, dass gesellschaftlich relevante Trends und Vorlieben auch den Lebensbereich der populären Religion beeinflussen.

Erstens – die Zunahme der Individualisierung: Erst seit den 1960er Jahren bezeichnet die Privatisierung im Bereich der Religion die Tendenz, dass sich Religion mit ihren Themen immer mehr auf die Wünsche und Bedürfnisse des Individuums bezieht. Mit dieser neuartigen Entwicklung sind zwei Tendenzen verbunden: Zum einen verlagern sich die traditionellen Themen des religiösen Kosmos – Himmel, Hölle, Fegefeuer – auf die Anliegen und Fragen des privaten Lebens: das persönliche Glück, die individuelle Erfüllung, die subjektive Erfahrung, der gesunde Körper. Zum anderen unterliegt die Religion damit zunehmend der Tendenz, dass sie ihre soziale Gestalt verliert und zu einem individualistischen Kult wird. Also geht mit der strukturellen Individualisierung eine Auskoppelung des einzelnen Menschen aus den traditionellen sozialen Verbänden einher.

Zweitens – das Streben nach Ganzheitlichkeit: Je mehr das moderne Leben in immer kleinere Funktionseinheiten zerfällt, umso mehr regt sich ein Bedürfnis nach Ganzheitlichkeit. Wer aus finanziellen Gründen gleichzeitig mehrere Jobs erledigen muss, wer sich von einer Praktikumsstelle zur nächsten hangelt oder sein Berufsleben mit aufeinander folgenden Zeitverträgen bestreitet, hat ein hohes Bedürfnis nach allem, was einen übergreifenden Lebenszusammenhang erleichtert. Diese Menschen sehnen sich danach, ihr modernes Leben in ein verbindendes Ganzes einzubetten. Die Eröffnung eines solch konzentrierenden Horizonts, in den religiöse Lebens- und Deutungsmuster integriert sein können, erleben viele Menschen als hilfreich. Mit einer derart übergeordneten Perspektive halten sie die Einzelsegmente ihrer Alltagsbiografie zusammen und ordnen sich in einen größeren sozialen, ökologischen oder religiösen Zusammenhang ein.

Drittens – die Abkehr von den Institutionen: Tatsächlich fällt seit einigen Jahrzehnten auf, dass die Religion ihre Form verändert. Als Folge davon, dass sich die Religion zunehmend in den privaten Bereich verlagert, treten die Kirchen in Deutschland vermehrt als Anbieter von Dienstleistungen auf. Während den Kirchen und ihren Repräsentanten also die Möglichkeit verloren geht, auf die Werte, Einstellungen und Lebensformen ihrer Mitglieder Einfluss zu nehmen, treten sie umso mehr mit Serviceleistungen öffentlich in Erscheinung: mit Riten für die einschneidenden Situationen des Lebens bis hin zu Beratungs- und Therapieangeboten. Freilich darf auch die angesprochene Angebotspalette nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Menschen die von den Kirchen inserierten Leistungen lieber bei anderen Sinnanbietern abrufen.

3. Ziel: Das Aufspüren von religiösem Leben in unserer Gesellschaft

Die Fallbeispiele dieses Buches vermitteln ein vielfältiges Bild davon, wie der Rückgriff auf Religion auch heutzutage unterstützt: bei der Begründung von Gemeinschaftsbildung und sozialer Integration, bei der Bewältigung von Ängsten und Traumata, bei der Verarbeitung von schweren Schicksalsschlägen, in der Konfrontation mit Ungerechtigkeiten und Leiden oder bei der Entscheidung zugunsten von Widerstand und Auflehnung gegen gesellschaftliches Unrecht und soziale Ungerechtigkeit. Hier greifen Menschen auf heilige Texte und lebenspendende Gebräuche zurück. Sie orientieren sich an spirituellen Virtuosen und entwickeln Halt gebende Liturgien.

„Die womöglich von der Tradition abgekoppelten religiösen Elemente, die noch in der Kultur kursieren, können neu zusammengemischt werden, sodass auch neue religiöse Inhalte entstehen können, die sich an die geänderten Lebensverhältnisse anpassen.“8 Diese religionssoziologische Einsicht ruft die Leitfrage dieses Buches nochmals in Erinnerung: Wie wirken sich die gesellschaftlich „angesagten“ Veränderungen (Individualisierung, Ganzheitlichkeitsstreben, Institutionendistanzierung) auf die „gelebte Religion“ in Deutschland im dritten Jahrtausend aus?

Das Buch setzt bei gesellschaftlichen Schlüsselphänomenen an, also bei Ereignissen, Institutionen, Personen, Praktiken und Zeichen, die im gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik Deutschland jüngst Aufmerksamkeit bekommen haben und denen auf je unterschiedliche Weise auch eine religiöse Dimension eigen ist. Fünf gesellschaftliche Phänomene beziehen sich auf den Umgang mit dem Leben, mit der Lebendigkeit, während sich die übrigen fünf dem Umgang mit dem Tod und dessen Deutung widmen.

Entsprechend handelt der erste Teil des Buches unter der Überschrift „… mitten im Leben“ von der Erschließung des seit einigen Jahren höchst populären Pilgerns, von der Interpretation der Liebesschlösser, von den Reaktionen auf die Rücktritte von Margot Käßmann und Walter Mixa, von der Entschlüsselung jenes Erfolgs, der dem christlichen Bestsellerautor und Mönch Anselm Grün seit Jahren beschert ist, sowie vom Entstehen der gesellschaftlich einflussreichen – und im Dienste des Lebens stehenden – Hospizbewegung.

Auch der zweite Teil des Buches unter der Überschrift „Vom Tod umfangen …“ fragt nicht zuletzt nach der gemeinschaftlichen und der individuellen Bedeutung religiöser Interpretamente in der jüngsten Vergangenheit der Bundesrepublik Deutschland. So analysiert dieser Buchteil den öffentlichen Umgang mit dem Tod von Papst Johannes Paul II. († 2005), die auch medial intensiv thematisierte Selbsttötung des deutschen Fußballnationaltorwartes Robert Enke († 2009), die große Attraktivität von Unfallkreuzen am Straßenrand, die auch rituell gestaltete Trauer um die Opfer der Loveparade von Duisburg (2010) sowie den Umgang mit verstorbenen Haustieren.

Im Anschluss an die zehn Fallstudien fasst der abschließende „Epilog“ den Einfluss von Individualisierung, Ganzheitlichkeitsstreben und Institutionendistanzierung auf das religiöse Leben innerhalb der Gesellschaft zusammen. Dieses Ergebnis bietet denen eine Orientierungshilfe, die religiöse Ausdrucksweisen im persönlichen wie im öffentlichen Leben tiefer verstehen wollen oder die in unserer Gesellschaft für religiöses Leben in Deutung und Praxis gestaltend einstehen.

Es sei ausdrücklich angefügt, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch zu früh ist, um den Blick vom Christentum als Referenzpunkt auf andere Religionen auszuweiten. Eben diese Tendenz zeigen auch die Meinungsmacher und Elitejournalisten in ihrem aktuellen Umgang mit dem Thema „Religion in Deutschland“: „Bei ihrer Bestimmung des ,Religiösen‘ bleiben sie alle – in Anknüpfung oder Widerspruch – auf das Christentum und die in den christlichen Kirchen institutionalisierte Religion bezogen.“9 Tatsächlich lässt sich die bundesrepublikanische Gesellschaft aktuell immer noch dritteln in Katholiken, Protestanten und Menschen ohne Mitgliedschaft in einer religiösen Institution. Die Informationen des Zensus von 2011, in den auf Drängen der Kirchen in Deutschland auch Fragen nach der religiösen Organisiertheit und nach der religiösen Haltung der Menschen aufgenommen worden sind, liegen gegenwärtig noch nicht vor. So bleibt vorerst unklar, inwieweit nichtchristliche Religionen in Deutschland bereits „eingewurzelt“ und deutungsprägend sind.