Loe raamatut: «Winterpony»

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Captain Oates und die Ponys auf der Terra Nova

Iain Lawrence

WINTERPONY

Aus dem Englischen von Alexandra Ernst


In Liebe, für meinen Vater

Inhalt

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

DIE PONYS

DIE MÄNNER

ANMERKUNGEN DES AUTORS

DANKSAGUNG




Wir schreiben das Jahr 1910. Ein großes Abenteuer beginnt. Es wird zwei Jahre dauern und in einen verzweifelten Wettlauf durch den Südzipfel der Welt münden, und am Ende wird ein toter Mann gewinnen. Aber noch ist es nur ein Abenteuer.

Die amerikanischen Entdecker Robert Peary und Frederick Cook sind beide aus der Arktis heimgekehrt, wobei jeder von ihnen behauptet, den anderen auf dem Weg zum Nordpol geschlagen zu haben. Jetzt bleibt nur noch ein unerforschter Flecken Erde übrig, ein Stück Land, das entdeckt werden will: der Südpol. In sechs Ländern heben Männer Expeditionen aus, in der Hoffnung, der Erste zu sein, der dieses Stück Land erreicht.

Zwei sind den anderen voraus.

In London rüstet Robert Falcon Scott ein Schiff aus. Er ist Kapitän in der Royal Navy, ein Held in der Erforschung der südlichsten Regionen. Vor sieben Jahren hat er gemeinsam mit Ernest Shackleton und Bill Wilson das Polarplateau entdeckt und den zweiundachtzigsten Grad südlicher Breite überschritten, etwa fünfhundert Meilen vom Südpol entfernt. Niemand ist je näher herangekommen.

In England ist man der festen Überzeugung, dass ein Brite der erste Mensch am Pol sein sollte. Spenden für Captain Scotts Expedition fließen in Strömen. Achttausend Männer melden sich freiwillig für die Expedition. Lawrence Oates, ein Kavallerieoffizier der Inniskilling Dragoner, spendet eintausend Pfund in der Hoffnung, dass er mitkommen darf und sich um die Ponys kümmern kann, die mit den Spenden von Seemännern gekauft worden sind. Ein junger Biologe namens Apsley Cherry-Garrard kann ohne Brille kaum etwas sehen, aber auch er spendet eintausend Pfund, um Captain Scott zu begleiten. Schulkinder sammeln Geld für Schlittenhunde. Captain Scott reist kreuz und quer durch das Land und hält Bildvorträge mit einer Laterna Magica.

Der Norweger Roald Amundsen plant ebenfalls eine Expedition. Aber er hält seine Vorbereitungen geheim. Er macht seinen Geldgebern weis, dass er nach Norden gehen will, um das Arktische Meer zu studieren, indem er dem Packeis folgt. Er hat nicht einmal seiner Crew erzählt, wohin die Reise in seinem geliehenen Schiff, der berühmtem Fram, wirklich geht. Es würde auch keinen Unterschied machen; seine Männer folgen ihm überall hin. Amundsen war der erste Mensch, der die Nordwestpassage durchschifft hat. Er ist mit Hundeschlitten über das arktische Land gefahren und hat die Lebensweise der Inuit studiert. Er war Erster Maat auf der fürchterlichen Fahrt der Belgica, die so lang im Südmeer eingeschlossen war, dass Amundsens Gefährten den Verstand verloren.

Scott und Amundsen kennen den eisigen Kontinent. Jeder von ihnen ist von dem Verlangen getrieben, als Erster den Südpol zu erreichen.

Es ist der Hauptpreis, hinter dem sie her sind: Ruhm und Ehre, Respekt, ein Platz in der Menschheitsgeschichte. Aber was für eine Herausforderung!

Um an den Südpol zu kommen, muss man durch ein Eismeer, das nur im Spätsommer passierbar ist. Man muss sich seinen Weg durch Eisschollen bahnen, die sich jeden Moment zu einer festen Eisfläche zusammenschließen und ein Schiff festsetzen können – oder in einem einzigen Augenblick zerquetschen. Wenn man dann endlich Land betritt, hat man immer noch tausend Meilen vor sich, muss die Schluchten der Großen Eisbarriere überwinden, Berge von unvorstellbarer Höhe, eine weite Ebene, über die der Wind riesige Schneemassen treibt. Man kann nicht alle Vorräte und Ausrüstungsgegenstände transportieren, also muss man entlang der Route Depots anlegen und weit in den Süden marschieren und wieder zurück, um den Proviant vorauszuschicken. Dann muss man einen Unterschlupf an der Küste errichten, wo man den antarktischen Winter verbringt – mit Temperaturen, die oft unter minus fünfzig Grad Celsius liegen, und einer Dunkelheit, die monatelang dauert. Sobald der Frühling kommt, geht es los. Die Reise zum Pol muss schnell gehen, ein Trip, hin und zurück. Bevor der Winter einsetzt, muss man zurück sein, ansonsten wird man auf offenem Land überrascht, womöglich ohne Vorräte, wo einem die Füße und die Finger abfrieren.

Wenn man Glück hat, ist das Schiff bereit und es ist immer noch früh genug, um den Kontinent hinter sich zu lassen, ehe das Meer wieder zufriert. Aber wenn man zu spät kommt oder der Winter zeitig einsetzt, muss man auf den nächsten Sommer warten.

Man kann sich von Robben und Pinguinen ernähren, obwohl viele Männer das ablehnen. Alles andere muss auf dem Schiff herangeschafft werden: Proviant für Männer und Tiere, Schlitten, Zuggeschirr, Skier und Stiefel und Winterkleidung. Auf dem siebten Kontinent wächst kein einziger Baum, also muss man Holz mitbringen, um sich eine Hütte bauen zu können, und genug Brennstoff, um alle Mahlzeiten zu kochen.

Es ist der einsamste Ort auf der ganzen Welt. Aber hin und wieder finden sich Spuren von Menschen, die schon hier waren. Am Grund des Meeres liegt ein Schiffswrack, das vom Eis zerquetscht wurde. Am Strand steht eine verlassene Holzhütte, und drinnen lagern tief gefrorene Vorräte und Schlafsäcke. Ein Schutzwall aus aufgeschichteten Steinen bröckelt an der Küste vor sich hin. Fetzen von verlassenen Zelten wehen im Wind wie Vogelscheuchen. Und auf der schrecklichen Barriere stehen immer noch kleine Hügel aus Schnee, obwohl der Wind sie allmählich abträgt.

Man fragt sich vielleicht, ob es das wert ist, diese unendlichen Mühen auf sich zu nehmen, all die Gefahren und Schrecken und die ständige Angst. Aber wenn man aus dem richtigen Holz geschnitzt ist, fällt die Antwort nicht schwer. Das Einzige, woran man dann denkt, ist der Preis: der Ruhm und die Ehre, als erster Mensch den Pol betreten zu haben. Viele Männer begehren daher den Preis, aber nur einer kann ihn gewinnen.

Amundsen nimmt fast hundert Hunde mit. Er glaubt, dass sie leichte Schlitten bis zum Pol ziehen können. Er will schnell vorwärtskommen und so wenig Vorräte und Ausrüstungsgegenstände wie möglich mitnehmen.

Captain Scott plant einen längeren Aufenthalt und einen wohlüberlegten Vorstoß zum Südpol. Er hat Wissenschaftler dabei, die Eis und Wetter studieren, die geologischen Beschaffenheiten, die Pflanzen- und Tierwelt. Er setzt auf Motorschlitten, um das Gepäck der Expeditionsteilnehmer zu transportieren. Er hat sie in Norwegen im Einsatz erlebt und war so beeindruckt, dass er drei dieser Gefährte angeschafft hat. Jedes davon kann tausend Pfund mit einer Geschwindigkeit von sieben Meilen pro Stunde bewegen, unermüdlich, ohne rasten oder Nahrung aufnehmen zu müssen.

Er setzt auf Zuggeschirre für die Männer, die traditionelle Art der Briten, sich bei Polarexpeditionen fortzubewegen. Zwar nimmt er auch Hunde mit, aber er fürchtet, dass sie ihn im Stich lassen werden. Auf seiner letzten Entdeckerreise hatte er große Probleme mit seinen Schlittenhunden und musste sie alle töten. Diesmal schickt er einen Mann nach Sibirien, um die besten zu beschaffen, die er finden kann.

Scott weiß, dass Ernest Shackleton auf seiner späteren Reise mehr Erfolg mit Ponys hatte. Und so beauftragt er den Mann, der die Hunde gekauft hat, noch zwanzig Ponys auszusuchen. Ein helles Fell müssten sie haben, alle miteinander, meint er. Alle dunklen Ponys, die Shackleton dabeihatte, sind umgekommen.

Der Mann heißt Cecil Meares und ist ein Experte in Sachen Hundegespanne, aber er hat so gut wie keine Ahnung von Ponys. Also beauftragt er wiederum einen russischen Jockey, ihm bei der Auswahl zu helfen. Gemeinsam reisen sie nach China, zur Großen Mauer, wo in Harbin ein Pferdemarkt stattfindet. Dort handelt man mit mandschurischen Ponys.

KAPITEL 1

Ich wurde im Wald geboren, am Fuß der Berge, auf einer Wiese, die ich als «den Gras-Ort» kannte. Das Erste, was ich sah, war die Sonne, die rot durch die Bäume schien, und sieben zottelige Tiere, die auf ihren Schatten grasten.

Es waren Ponys. Und ich war auch ein Pony, mit Beinen so schwach wie Weidenruten. Meine Mutter musste mich mit ihrer Nase auf die Füße schubsen, damit sie mich säugen konnte. Aber schon nach einem Tag war unsere kleine Herde wieder unterwegs. Ich hüpfte neben meiner Mutter her und glaubte, dass ich bereits so schnell und stark wie jedes andere Pony war. Ich wusste ja nicht, dass die anderen wegen mir langsam liefen, damit ich mit ihnen Schritt halten konnte.

Unser Anführer war ein silberner Hengst. Er war so wachsam wie eine Eule. Niemals überquerten wir offenes Land, ohne dass er vorgegangen wäre. Reglos stand er am Rand der Weide und hielt Ausschau nach Wölfen und Berglöwen. Er war immer der Letzte, der trank, und der Letzte, der graste, weil er Wache hielt, bis wir gesättigt waren. Bis auf einen dunklen Fleck auf seiner Brust war sein ganzer Körper schneeweiß. Ich fand es herrlich, zuzuschauen, wie seine silberweiße Mähne in Wind und Sonne flatterte, wie ein glänzendes Banner.

Wir folgten einem Weg, der uns innerhalb eines Jahres von den schneeverwehten Tälern des Winters zu den hoch gelegenen Weiden des Sommers brachte. Jedes Frühjahr führte er uns wieder zu einem steinigen Fluss, den wir einer hinter dem anderen durchquerten. In dem Wasser, das unsere Knöchel umspülte, machten unsere Hufe auf den Steinen ein lustiges, kicherndes Geräusch. Auf der anderen Seite stiegen wir die Böschung hinauf, liefen durch die Ausläufer eines Waldes und erreichten einen Grasplatz, der für mich der Mittelpunkt der Welt war.

Ich dachte, es würde immer so bleiben, ich würde immer jung und frei sein, ein Tag würde dem anderen folgen und ich würde tausend Sommer erleben.

Aber bereits in meinem ersten Jahr erlebte ich, wie junge Ponys älter wurden und wie ein altes Tier starb. Im Frühling war sie noch eine große, starke Stute gewesen. Aber dann, im Herbst, fing sie auf einmal an, ganz langsam zu gehen, und fiel hinter die Herde zurück. Sie beklagte sich nicht und rief nicht nach uns, wir sollten auf sie warten. Sie zog sich einfach nur zurück, und eines Nachts ging sie davon, zu einer Wasserstelle, und legte sich ganz allein in die Dunkelheit. Sie stand nicht mehr auf. Ich sah sie am nächsten Morgen. Ihre Nase berührte das gefrorene Wasser, die Beine ragten steif in die Luft wie die eines Insekts. Ich stupste sie mit meinen Lippen an und merkte, dass sie kalt und starr war, als ob ihr Körper zu Stein geworden wäre. In diesem Moment erkannte ich, dass nichts ewig lebt, dass sogar ich eines Tages sterben würde.

Das war schwer zu begreifen. Was bedeutete es zu sterben? Dem Gras machte es nichts aus, gefressen zu werden, und dem Wasser war es egal, wenn ich es trank. Aber die Kaninchen schrien, wenn der Fuchs zuschlug, und die kleinen Mäuse fiepten, wenn sie in den Krallen des Adlers baumelten. Warum also hatte sich die Stute so still hingelegt, ohne Groll und ohne Widerstand, fast so wie ein umgefallener Baum?

Daran zu denken machte mir Angst, und ich war froh, als mich unser Anführer von der Stelle wegholte. Auf der anderen Seite des Tals heulten schon die Wölfe und berichteten einander von der Aussicht auf Frischfleisch. Und so machten wir, dass wir wegkamen. Eilig galoppierten wir durch den Wald. Wenn die Wölfe auf der Jagd waren, rannten die Ponys. Wir liefen über einen Hügel, hinunter in ein Tal und wieder nach oben, und wir blieben erst stehen, als wir den Grasplatz erreichten.

Der nächste Morgen war genauso wie der allererste, den ich erlebt hatte. Die Sonne war rot und warf Lichtspeere durch die Zweige. Die Ponys standen auf der Wiese verstreut, die zotteligen Mähnen hingen ihnen um die Ohren, während sie das süße Gras abrupften.

Als wir das Klappern von Hufen im Fluss hörten, schauten alle hoch. Meiner Mutter hingen grüne Halme rechts und links aus dem Maul. Der Anführer drehte den Kopf, seine Ohren zuckten.

Am Rand der Wiese flatterte unvermittelt eine Krähe aus einem Baum. Ich starrte dorthin und fragte mich, was den Vogel aufgeschreckt hatte. Und dann kamen, begleitet von Rufen und Schreien, vier schwarze Pferde mit Männern auf den Rücken aus dem Wald galoppiert. Mit donnernden Hufen stürmten sie über die Lichtung, sodass die Erde erbebte.

Ich hatte noch nie einen Mann gesehen. Ich hatte noch nie ein Pferd gesehen. Ich dachte, es sei jeweils ein einziges Tier, ein doppelköpfiges Monster, das auf mich zugaloppiert kam.

Meine Mutter rief mich, als sie mit einem Satz die Flucht ergriff. Mit zwei langen Sprüngen war sie im Wald und verschwand zwischen den Bäumen, während sie immer noch schrie, ich solle ihr folgen. Aber ich hatte zu viel Angst, um mich zu rühren, und die anderen Ponys rannten mich fast um, als sie versuchten, die Sicherheit des Waldes zu erreichen. Nur der Hengst blieb zurück. Er stellte sich den vier Pferden entgegen, erhob sich auf die Hinterhand und kam mir plötzlich so groß vor wie ein Baum. Er schlug mit den Hufen, bereit, es mit allen vier Monstern gleichzeitig aufzunehmen.

Sie kreisten ihn ein. Die Reiter schrien. Die schwarzen Pferde wieherten und schnaubten. Mit hohen, scheinbar nervösen Schritten staksten sie durch das Gras, als ob sie Füchse zertrampeln wollten. Doch der Hengst überragte sie alle. Seine silberne Mähne umwehte ihn.

Dann wendete einer der Reiter sein Pferd und stürmte auf mich zu. Die Hufe des Pferdes schleuderten Erde und Gras in die Höhe.

Ich rief nach meiner Mutter, aber sie konnte mir nicht helfen. Ich rannte auf die Bäume zu, schneller, als ich je zuvor gerannt war. Ich ließ den Hengst in seiner einsamen Schlacht hinter mir und floh blindlings in den Wald. Ich hörte die seltsamen Laute der Männer und das Schnauben ihrer Pferde, und ich dachte unwillkürlich, dass diese Monster zwei Stimmen hatten. Inmitten dieser tosenden Stimmen erklangen die schrillen Schreie des Hengstes, erfüllt von Wut und Angst, und die verzweifelten Rufe meiner Mutter, die im Wald immer leiser wurden.

Ich folgte diesen Rufen. Ich stürzte mich durchs Unterholz und wich Bäumen aus, sprang durch eine Senke und über eine umgekippte Kiefer. Ich stolperte, fiel hin, rappelte mich auf und lief weiter. Ich schlug Haken, nach links und nach rechts, und die ganze Zeit wusste ich, dass mir das Monster auf den Fersen war. Ich hörte sein tiefes Keuchen und diese unheimlichen Rufe und das Knallen einer Lederpeitsche.

Ich erreichte den Fuß eines lang gezogenen Hügels. Für einen Augenblick sah ich über mir die Ponyherde, meine Mutter mittendrin. Ihre weißen Gestalten galoppierten wie eine Schar Geister durch den lichten Wald. Und dann fiel mir eine Seilschlinge um den Hals, die sich mit einem Ruck zuzog. Ich stolperte nach vorn, und mein Kopf wurde nach rechts gerissen, bis ich dachte, mein Hals sei gebrochen. Halb erwürgt und nach Atem ringend, lag ich auf dem Boden, während das Monster über mir stand und mich mit seinen vier Augen anfunkelte.

Was ich dann zu sehen bekam, ergab überhaupt keinen Sinn: Die Kreatur schien sich zu teilen. Der Mann auf dem Rücken des Pferdes erhob sich ein Stück und stieg dann aus dem Sattel. Und da wurde mir klar, dass ein Pferd fast wie ein Pony war, nur größer und schwarz. Ohne dass der Mann es ihm befehlen musste, machte das Pferd aus eigenen Stücken ein paar Schritte rückwärts, um das Seil gespannt zu halten. Es starrte mich ungerührt an, beinahe kalt und völlig unbeeindruckt von meinem Schmerz. Ich wehrte mich nicht. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, Luft zu bekommen. Ich sah dem Mann entgegen, der auf mich zukam, und ich fragte mich, was für ein Wesen das war, das ein Pferd zum Feind eines Ponys machen konnte.

Die Männer schleppten mich davon, weit, weit weg. Ich rief ständig nach meiner Mutter, aber es hatte keinen Sinn. Sie brachten mich ins Flachland, fort von Wald und Bergen, in ein Land voller Menschen. Sie steckten mich in ein Gebäude, in dem es so dunkel wie in einer Höhle war, in eine schmale Nische aus Holzlatten. Hier gab es keine Wiesen mehr, keine Flüsse. Ich trank aus einem rostigen Eimer, in dem das Wasser einen bitteren Geschmack bekam. Einmal am Tag wurde mir ein Leinensack vor das Maul gebunden, und ich leckte die Handvoll Körner auf, die sich darin befanden.

Jeden Morgen führte man mich nach draußen in einen schlammigen Korral. Dort wurde ich gebrochen. Ich wurde gezähmt und gezäumt, und dann lernte ich, den Menschen zu dienen. Ich lernte, schwere Lasten zu ziehen und Befehlen zu gehorchen, die mir immer zugeschrien wurden. Wenn ich den Befehlen nicht schnell genug nachkam, wurde ich geschlagen, mit einem Stock, einer Peitsche oder einer Faust. Einmal schlug man mich mit einer Glasflasche, wieder und wieder, bis sie an meinem Schlüsselbein zerbrach. Es war jeden Tag das Gleiche. Die Ausbildung zog sich stundenlang hin, bis die Männer es satthatten, mich zu verprügeln.

Nach dem Leben, das ich im Wald hatte, machte mich dieses Leben traurig. Ich wollte aus einem Fluss trinken, nicht aus einem Eimer. Ich wollte über die Hügel laufen und mich ins Gras legen. In meinem Stall konnte ich mich nicht umdrehen, geschweige denn hinlegen.

In dem Gebäude gab es viele Ponys, die alle in solchen schmalen Nischen standen, und irgendwo – so weit weg, dass ich ihn nicht sehen konnte – war der silberne Hengst. Ich hörte ihn oft schnauben und wiehern. Manchmal trat er gegen die Holzlatten und zerbrach sie, woraufhin Männer in das Gebäude gerannt kamen. Dann erklangen schreckliche Geräusche: das Knallen von Peitschen, das Brüllen von Männern, das jämmerliche Schreien eines Ponys.

Ich wollte das nicht hören und schickte meinen Geist auf Wanderschaft. Meistens kehrte ich in den Wald zurück, auf die Sommerwiesen, und ich hörte das Surren der schwarzen Fliegen und das Zischen unserer Schweife. Aber eines Tages ging ich an einen ganz anderen Ort.

Ich sah ein Land aus Schnee und Eis, ein Portal, das so gewaltig war, dass seine Pfosten aus Bergen bestanden und der Bogen aus einer gewölbten Wolkendecke. Ich sah es im Sonnenlicht glänzen, sah die eisige Fläche, wie ein herrliches, funkelndes Feld.

Mein Geist ließ mich dieses Portal nicht durchschreiten. Aber irgendwie wusste ich, was dahinter lag: ein Ort für Ponys. Ich wusste, dass dort die alte Stute aus meiner Herde war und all die anderen, die gestorben waren, bevor ich geboren wurde. Ich sagte mir, dass auch ich eines Tages dorthin gehen würde, wenn ich es schaffte, durch das Portal zu treten. Und wenn es mir gelang, würde dort meine Mutter auf mich warten.

Diese Vision machte mir keine Angst. Der Gedanke, dass es einen Ort für Ponys gab, der auf mich wartete, spendete mir Trost. Jedes Mal, wenn ich traurig oder einsam war, wenn mir das Leben besonders hart vorkam, ging mein Geist zu diesem sonnenüberfluteten, schneebedeckten Hang.

Die Männer verkauften mich an einen anderen Mann, einen Russen, klein gewachsen und fett, der viel und gerne ausspuckte. Als er mich das erste Mal sah, schob er mir sofort seine dicken Finger zwischen die Lippen, zog sie auseinander und begutachtete meine Zähne. Seine Finger schmeckten nach schrecklichen Dingen, und seine Fingernägel waren wie kleine Steine, die sich in mein Zahnfleisch bohrten.

Der Russe brachte mich zurück in den Wald. Erst fand ich das sehr nett von ihm und hoffte, er würde mich freilassen, damit ich wieder mit den anderen wilden Ponys laufen konnte. Aber stattdessen kam ich in ein Lager in den Bergen, weit weg von dem Ort, wo ich geboren worden war. Dort hatte er einen Trupp Männer, die Bäume fällten und sie in Stücke schnitten. Ich musste die Holzscheite aus dem Wald schleppen, während ein Mann an dem Zaumzeug an meinem Kopf zerrte und ein anderer mir mit einer Weidengerte auf die Flanken schlug. Den ganzen Tag hatte ich das Zuggeschirr an und zog Holz – durch Schlamm und Schnee, in Kälte und Hitze, so viele Monate lang, dass ich jegliches Zeitgefühl verlor. Aus den Monaten wurden Jahre. Im Sommer legten die Fliegen ihre Eier in die langen, offenen Wunden auf meinem Rücken, und der Juckreiz trieb mich fast in den Wahnsinn. Im Winter erfroren die Larven, was mir zumindest in dieser Hinsicht Erleichterung verschaffte. Bei jedem Schlag schrie ich auf.

Ich hatte nicht einmal einen Stall. Ich wurde in der Nähe des Hauses angebunden, wo die Männer schliefen. Wenn es kalt war, zitterte ich stundenlang, und wenn es warm war, kamen die Fliegen in Scharen, und ich dachte, ich würde bei lebendigem Leib aufgefressen. Jede Nacht hoffte ich, dass ich im Schlaf davongleiten würde, zu jenem Portal aus meiner Vision. Ich träumte davon, den Hang hinauf bis zu dem Ort für Ponys zu galoppieren.

Fünf Jahre lang schuftete ich dort, und als die Arbeit erledigt war, war ich es auch. Ich war erst acht Jahre alt und fühlte mich wie siebzehn.

Eines Tages – der Frühling hatte kaum eingesetzt und auf dem Boden lagen noch Inseln aus Schnee – wurde ich zum letzten Mal aus dem Wald geführt. Der Russe fuhr einen Wagen, hinter dem ich hergezogen wurde, hinunter in ein Tal und über einen rutschigen Pfad, der zu einer Straße führte, die nach Osten verlief.

Nachdem wir einige Tage unterwegs gewesen waren, kamen wir in ein trockenes Tal, wo sich eine riesige Mauer quer durch das Land zog. Sie erhob sich von einem Hügelkamm im Süden, tauchte in das Tal ein und gewann mit den Bergen im Norden wieder an Höhe – wie eine Schlange, die sich durch die Gebirgswelt schlängelt. Und mitten in diesem Tal lag eine Stadt.

Was für ein Gewusel an Menschen! Zu Tausenden strömten sie von allen Seiten herbei, wie Ameisen, die zu einem riesigen Bau krabbeln und dabei eine Wolke aus Staub aufwirbeln. Straßenverkäufer priesen dem Russen ihre Waren an und versuchten, ihm Teppiche und Schuhe und alle möglichen Tiere zu verkaufen, sowohl lebende wie tote. Kleine schwarze Äffchen schnatterten in ihren Käfigen und streckten die rosigen Hände durch die Gitterstäbe. Doch der Russe schaute nicht nach rechts oder links, sondern fuhr einfach nur weiter, mit mir im Schlepptau.

Auf einem schmutzigen Feld unterhalb der Mauer wurde ein Pferdemarkt abgehalten. Unzählige Ponys waren auf einem Flecken Gras zusammengetrieben worden, und Tausende von Menschen waren gekommen, um sie zu kaufen. Einige der Ponys wurden in halsbrecherischem Tempo durch die Menge geritten, während andere angebunden in langen Reihen dastanden. Viele sahen alt und erschöpft aus, aber es gab genauso viele junge, kräftige Tiere, die noch jahrelang arbeiten konnten. Ein paar von ihnen waren nicht bei Verstand, sondern gingen in blinder Wut auf jeden los, der sich ihnen näherte.

Der Russe übergab mich einem ungepflegten kleinen Mongolen, der ganz in Schwarz gekleidet war, und erhielt dafür eine Hand voll Geld. Er warf mir einen letzten Blick zu und spuckte mir dann vor die Füße.

Ich war froh, ihn los zu sein, aber gleichzeitig voller Angst, denn bislang hatte jede Veränderung für mich auch einen Abstieg bedeutet. Immer war es schlimmer gewesen als zuvor. Der Mongole packte mein Halfter und zerrte mich über das Marktgelände. Sein Haar war zu einem unordentlichen, schmierigen Zopf geflochten, der in seinem Nacken hin und her schaukelte.

Ich dachte, dass man mich zu den anderen kräftigen Ponys bringen würde, die wieder zur Arbeit in den Wald gehen konnten, doch stattdessen steckte man mich zu der bejammernswerten kleinen Gruppe, für die niemand einen Blick übrig hatte. Ich wurde zwischen den Alten und Kranken angebunden, zwischen denen, die verrückt geworden waren, und jenen, die man niemals hatte zähmen können. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendjemand sie kaufen würde, und ich fragte mich zum ersten Mal, was mit ausgelaugten, müden Ponys passierte. Ließ man sie im Wald frei, damit sie zu ihren Herden zurückkehren konnten? Kamen sie auf die Weide eines Bauern, wo sie nichts tun mussten außer fressen und schlafen? Oder erwartete sie ein anderes Schicksal, das ich mir nicht vorstellen konnte? Ich hoffte das Beste und befürchtete das Schlimmste.

Den ganzen Tag standen wir in der Sonne, in der Hitze und dem Staub. Viele Leute gingen vorbei, und der Mongole wurde immer lauter und hektischer. Er wedelte wie wild mit den Armen und fing an, die Passanten an den Ärmeln zu packen.

Die meisten schüttelten ihn mit einem verächtlichen Blick ab, als ob der schmutzige kleine Mongole nur ein weiterer Affe im Käfig war. Der einzige Mann, der stehen blieb und mich musterte, war merkwürdig blass und rosig. Er war Engländer, der erste, den ich je zu Gesicht bekommen hatte. Begleitet wurde er von einem russischen Jungen.

Der Engländer begutachtete mich von Kopf bis Fuß. Er kam näher und hob seinen Arm. Ich zuckte zurück. Doch statt mich zu schlagen, erstarrte der Engländer. Er blieb mit erhobener Hand stehen, bis ich aufgehört hatte zu zittern. Dann schaute er mir geradewegs in die Augen.

«Schon gut», sagte er sanft. «Ich werde dir nichts tun. Versprochen.»

Ich spürte Mitgefühl in seiner Stimme, ein Ton, den ich noch nie gehört hatte. Wieder streckte er den Arm aus, ganz langsam diesmal, und ich versuchte, nicht zu zittern, weil ich Angst hatte, dass ihn das wütend machen könnte. Ich ließ mir von ihm die Nase streicheln. Ich ließ zu, dass er mich zwischen den Ohren tätschelte und mit seinen Fingern durch meine Stirnlocke kämmte. Anfangs wollte ich weglaufen. Aber er sagte «Ist ja gut» in dieser ruhigen Stimme, und so schloss ich einfach nur die Augen und bebte leicht.

Der Mongole wirkte überrascht. Dann packte er den Jungen am Arm, und die beiden fingen an, auf Russisch aufeinander einzureden. Sie schwenkten die Arme, sie schrien, aber der Engländer streichelte mich unbeirrt weiter. Als er die Hand wegzog, war ich enttäuscht. Ich schnaubte und rückte ein bisschen näher, in der Hoffnung, dass er mich wieder berühren würde. Doch jetzt war er derjenige, der zurückwich, und ich sah, dass er auch ein bisschen Angst vor mir hatte, so wie ich Angst vor ihm gehabt hatte. Er fühlte sich unbehaglich, wenn sich ein so großes Tier an ihn drückte. Und so trat er stattdessen an meine Schulter und rieb dort die Muskeln. Als er die Narben bemerkte, berührte er sie sehr sanft. Seine Finger verharrten auf der Stelle, wo jemand vor langer Zeit eine Flasche zerbrochen hatte. Dann flüsterte er: «Jemand hat dir sehr schlimme Dinge angetan.»

Der Mongole und der Russe redeten immer noch, wenn auch nicht mehr so hektisch. Der Engländer griff in seine Tasche, und die schnelle Bewegung erschreckte mich. Mit einem ängstlichen Wimmern scheute ich zurück. Wieder erstarrte er. Dann bewegte er ganz langsam die Hand, und als er sie wieder aus der Tasche zog, sah ich, dass er einen kleinen weißen Würfel genommen hatte, wie ein winziges Stück Schnee. Er hob ihn an mein Maul, die Hand so flach wie ein Stein.

Ich war acht Jahre alt, aber ich hatte noch nie Zucker gefressen. Ich konnte nicht fassen, dass etwas so gut schmeckte. Ich hoffte, dass er noch einen Würfel in seiner Tasche hatte, und stupste ihn an, woraufhin er lachte. «Aha», sagte er, «jetzt habe ich einen Freund fürs Leben gefunden, nicht wahr?» Dann rieb er mir wieder über die Nase und wandte sich seinem Begleiter zu. «Was hältst du von dem hier?»

«Gutes Pony», sagte der Junge. Er deutete auf die Reihe mit den alten Ponys, während der Mongole hinter ihm stand und listig lächelte. «Alles gute Ponys.»

Der Engländer strich sich über das Kinn. Ich versuchte, ihm zu folgen, als er die Reihe entlangging, aber ich war angebunden. Ich hoffte sehr, dass er mich kaufen würde.

Er interessierte sich nur für die Ponys mit hellem Fell. An allen anderen ging er vorbei, obwohl einige der dunklen Ponys in viel besserem Zustand waren. Als er ganz unten am Ende der Reihe angekommen war, hörte ich ein Pony wiehern, ein anderes schrie ängstlich auf. Ich sah, wie eins sich auf die Hinterhand erhob und plötzlich alle anderen überragte. Es schnaubte und wieherte, schlug mit den Vorderbeinen aus. Dann taumelte der Engländer rückwärts, und der Junge versuchte, ihn wegzuziehen.

Das Pony stand immer noch auf den Hinterbeinen, dann fiel es nach unten und erhob sich gleich wieder. Irgendwie kam mir dieses Pony bekannt vor. Die Erinnerung war zunächst vage, doch als ich den dunklen Fleck auf seiner Brust sah, wusste ich mit einem Mal alles wieder. Es war der silberne Hengst, der vor so langer Zeit meine Herde angeführt hatte, der mich beschützt hatte, als ich klein war. Mittlerweile war er eher grau als silbern, sein Rücken war krumm und seine Schultern verkrampft vom Schleppen der Lasten. In den Augen lag ein wildes, verrücktes Starren. Aber als er da auf den Hinterbeinen stand, mit wehender Mähne und Stirnlocke, da sah er genauso prächtig und stark aus wie immer.

Ich rief ihm ein schrilles Wiehern zu, aber er gab keine Antwort. Ich sah, wie der Engländer aufstand und sich die Strohhalme von der Kleidung klopfte. «Tja, der hier hat auf jeden Fall Feuer», sagte er.

Er kaufte den Hengst. Er kaufte noch neunzehn weitere Ponys, einschließlich mich. Die meisten waren alt oder zornig oder gemein, aber alle waren so weiß wie Schnee. Der Engländer schien sehr mit sich zufrieden zu sein, und der Mongole war geradezu entzückt.

Am selben Tag, noch in dieser Stunde, holte uns der russische Junge ab. Einige der Ponys wehrten sich aus Leibeskräften, so wie der Hengst. Sie traten aus und bockten so wild, dass die Leute in den Hauseingängen Schutz suchten. Doch am Ende blieb der Junge siegreich. Er brachte uns zum Bahnhof, wo am nächsten Morgen ein Zug einfuhr.

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