Loe raamatut: «Gedankenspiele über die Neugier»

Font:

Ilija Trojanow

Gedankenspiele über die

Neugier

Literaturverlag Droschl

Für Dževad, Thomas und Vidya,

die drei Neugierigen Weisen.

Eines Tages wird Nasreddin Hodscha von drei Priestern aufgesucht. Sie haben den weiten Weg aus Europa auf sich genommen, in die unerschöpflichen Weiten des Orients. Ihnen ist zugetragen worden, der Hodscha sei ein weiser Mann (ein weiser Narr, auch diese Meinung haben sie gehört). Sie wollen ihm einige Fragen stellen, die sie seit längerem umtreiben.

»Verehrter Hodscha, wo befindet sich der Mittelpunkt der Erde?«, möchte der erste Priester wissen.

Was für eine einfache Frage, denkt sich der Hodscha und antwortet:

»Der Mittelpunkt der Erde ist genau unter dem linken Vorderhuf meines Esels.«

Die Priester blicken auf den linken Vorderhuf des Esels.

Dort soll der Mittelpunkt der Erde sein?

Wie kann der Hodscha das wissen?

»Hodscha, woher weißt du das? Kannst du das beweisen?«

»Beweisen?«, der Hodscha ist empört. »Warum soll ich’s beweisen? Ich bin mir dessen sicher. Aber wenn ihr Beweise sehen wollt, nur zu. Ihr könnt es jeder Zeit nachmessen.«

Der zweite Priester ist nun an der Reihe.

»Hodscha, wie viele Sterne leuchten am nächtlichen Firmament?«

Was für eine einfache Frage, denkt sich der Hodscha und antwortet: »Es sind genauso viele Sterne am Himmel wie Haare in der Mähne meines Esels.«

»Hodscha, woher willst du das wissen?«

»Zählt nur nach, wenn ihr mir nicht glaubt«, erwidert der Hodscha.

»Aber Hodscha, das ist unmöglich!«

»Warum denn? Die Haare in der Mähne meines Esels zu zählen ist einfacher als die Sterne am Himmel.«

Der dritte Priester ist an der Reihe.

»Hodscha, wie viele Haare hat der Schwanz deines Esels?«

»Ach, das weiß ich ganz genau!«, lacht der Hodscha, »so viele wie dein Bart.«

Auch der dritte Priester ist skeptisch.

»Hodscha, kannst du das beweisen?«

»Fangen wir gleich an damit, wenn ihr wollt. Du ziehst ein Haar aus dem Schwanz meines Esels und ich ziehe ein Haar aus deinem Bart.

Das tun wir so lange, bis alle Schwanzhaare verschwunden sind. Wenn du dann noch ein Haar übrighaben solltest, habe ich mich vertan.«

◊◊◊

Stellen Sie sich vor, Ihre neuen Nachbarn heißen Gier, Herr und Frau Gier. Sie sind gerade in die Wohnung nebenan eingezogen, in die Wohnung unter oder über Ihnen. Die neuen Nachbarn verhalten sich unauffällig, zunächst. Ihr Kleinwagen, weiß und ohne Aufkleber, ist ordentlich geparkt. Ebenso ihr schwarzer SUV. Der Name auf dem Briefkasten ist einfach gehalten, in Großbuchstaben, keine Farbe, kein Schnickschnack. Bald nach dem Einzug stellen sich Herr und Frau Gier vor, im Treppenhaus, am späteren Nachmittag, mit Einkaufstüten in allen Händen. Der erste Eindruck, der bekanntlich nie täuscht, ist durchaus positiv, ein aufgeschlossenes, zugängliches Paar.

Wie es die Tradition gebietet, bringen Sie am Wochenende ein Brett mit Brot und Salz vorbei. Sie klingeln, stehen etwas verlegen vor der Tür, bis diese aufgeht und sie begrüßt werden von zwei freundlichen Gesichtern. Sie kommen sofort und geradezu mühelos ins Gespräch, weil die neuen Nachbarn Interesse zeigen, an Ihnen, an Ihrer Arbeit, an allem.

– Ach, Sie sind Arzt, sagt Frau Gier, und bohrt gleich nach.

– Oh, Sie sind Architekt, sagt Herr Gier, und vertieft sogleich das Gespräch.

– Wie schön, Sie spielen auch Tennis. Auf welchem Belag am liebsten?

– Bogenschießen? Wie faszinierend. Recurve oder Instinkt?

Nicht aufdringlich. Charmant geradezu.

Nach dem Austausch einiger Lebensdaten, Restauranttipps und Hinweisen auf die Sondermüllentsorgung verabschieden Sie sich – der Höflichkeit wurde genüge getan.

Wie zu erwarten, laufen Sie sich von nun an in dem Mehrfamilienhaus gelegentlich über den Weg. Wenn Sie am Briefkasten stehen oder die Tür zum Innenhof aufsperren oder sich damit abmühen, das Fahrrad hineinzuschieben oder wenn Sie auf den Fahrstuhl warten. Stets fragt Herr Gier oder Frau Gier, wie es Ihnen denn so gehe, aber nicht nur das, auch anderes, Fragen, die weit über die üblichen Floskeln hinausreichen, Fragen über das Haus, über das Viertel, über die Stadt, über das Umland. Sie bewundern die Lust des Ehepaars Gier an Kenntnis und Erkenntnis. Sie staunen, was die beiden so alles über ihre neue Umgebung wissen möchten. Eine bewundernswerte Eigenschaft, denken Sie sich. Wenn auch ein wenig enervierend, besonders an stressigen Tagen, bei schlechter Laune oder Nieselregen.

Fragen gebären unweigerlich Nachfragen; eine Frage, die ehrlich gestellt wird, steht selten einsam und allein im Flur. Und dieses scheinbar bescheidene »nach« erweist sich bei dem Ehepaar Gier von einer höchst intensiven Note, es ist nachbohrend, nicht nachlässig.

– Dann können Sie mir bestimmt sagen …

– Gewiss können Sie mir erklären …

– Wir haben uns schon immer gewundert …

– Wir haben schon länger gerätselt …

Fragen – nachfragen – befragen – ausfragen!

Die Vielfalt der Sprache spannt den Bogen von beeindruckend zu unverschämt.

Die Fragen des Ehepaars Gier tropfen beharrlich (unermüdlich?, unerbittlich?), sie sickern zur Haustür hinaus, auf die Straße, in die Kanalisation, sie bilden schon bald, so kommt es Ihnen vor, ein flüssiges Netz der Weltaneignung, in das auch Sie verstrickt werden, nolens volens.

Herr und Frau Gier laden Sie zu einem Grillabend ein. Als Vegetarier halten Sie sich an den Gesprächen fest und am Knoblauchbrot. Sie versuchen Herrn Gier und einigen seiner Kollegen zu erklären, wie ungesund übermäßig gebratenes rotes Fleisch ist. Das Interesse an Ihren Ausführungen hält sich in Grenzen. Herr Gier spült seine sonstige Wissbegier mit einem großen Schluck aus der Bierflasche hinunter. Aber im Laufe des lauen Abends gewährt Ihnen das Ehepaar einen weiteren Einblick in seine Haltung zur Welt.

»Jedes Mal, wenn wir in einem Café sitzen«, erzählt Frau Gier …

»Oder in einem Restaurant«, ergänzt Herr Gier …

»Oder in einer Lounge«, fährt Frau Gier fort, »betrachten wir die anderen Speisenden.«

»Und Wartenden«, vervollständigt Herr Gier.

»Und fragen uns, woher sie kommen, welche Sprache sie wohl sprechen.«

»Wenn wir die Sprache hören, rätseln wir manchmal darüber, welche Sprache das wohl sein mag, man kann ja nicht alle Sprachen leicht zuordnen.«

»Wir versuchen zu erraten, welchem Beruf sie nachgehen, was sie gerade erlebt haben mögen …«

»Am Wochenende vor allem, ob Museum oder Spaziergang oder Kino.«

»Wir sitzen da und spekulieren bis ins letzte Detail über diese Fremden.«

»Ist das nicht wunderbar«, ruft jemand aus.

»Ach, ich weiß nicht«, wendet eine andere Stimme ein.

Worauf Sie den Drang verspüren könnten (sollten Sie ein reger Kinogänger sein), eine Szene aus dem verstörenden Jarmusch-Film »The Dead Don’t Die« zu erzählen, in der ein erfahrener Polizist zu seiner Kollegin vor dem Tatort sagt: »I don’t think you need to see that.« Trotzdem betritt sie das Diner, sieht zwei zerfleischte Frauenleichen auf dem Fußboden liegen, eilt hinaus und sagt mit versagender Stimme: »I didn’t need to see that!«

Eines sonntäglichen Nachmittags, als Sie gerade von einer Fahrradtour zurückkehren, verschwitzt, ausgelaugt und mit leichten Schürfwunden am rechten Bein, verspüren Sie das Bedürfnis, sich sämtlichen jovialen Fragen der Nachbarn zu entziehen, und fühlen sich dabei im Recht: Was geht die das an! Kümmert euch doch um euren eigenen Kram! Ab wann, grübeln Sie später am Abend, überqueren Nachfragen die Grenze des Anstands (ich weiß, ein altbackenes Prinzip). Oder der guten Manieren (vielleicht auch veraltet?)? Ab wann verstoßen sie gegen Gesetze des Glaubens oder Aberglaubens? Welche Nachfragen sind nicht mehr schicksalsfroh oder gottesfürchtig? Ab wann wird Neugier maßlos? Beim Einschlafen denken Sie sich: Zu viel wissen zu wollen, ist auch nicht gut.

◊◊◊

Es hat wahrscheinlich nie eine Gesellschaft gegeben, die keine Barrieren gegenüber dem Wissen errichtet hat. Es gab Herrschaftswissen und Berufsgeheimnisse, es gibt Interna und Intimes, es wird top secret und need to know geben. Moralisten seit der griechischen und römischen Antike haben sich missbilligend über jene Wichtigtuer geäußert, die im Privatleben ihrer Nachbarn herumschnüffeln. Mittelalterliche christliche Theologen verurteilten jede Neugier außer der kirchlich gelenkten, zum Beispiel jene der Nekromanten, die doch nur herausfinden wollten, was mit dem Geist nach dem Tod geschieht, die sich nichts sehnlicher wünschten, als mit dem Jenseits ins Gespräch zu kommen (wer könnte es ihnen verübeln?). Die Neugier der Séancen war aber verpönt. Jahrhundertelang wurden Mädchen dazu erzogen (geradezu abgerichtet), der Neugier zu entsagen. Weil es unschicklich schien. Und weil so ein Verbot genutzt werden konnte, Frauen davon abzuhalten, Dinge zu wissen, die nur Männer wissen sollten. Jene, die sich selbstherrlich Wissen aneigneten, wurden als Hexen verbrannt.

Tasuta katkend on lõppenud.