Böse Affen

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Böse Affen
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Informationen zum Buch

Ein Aushilfsjob hat Leo Heller auf die CeBIT verschlagen, wo sie zu ihrer Verblüffung auf drei Affen stößt. ›Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen‹ scheint auf einmal das Motto aller Leute zu sein, mit denen Leo es zu tun bekommt …

Informationen zur Autorin

Ilka Sokolowski, Jahrgang 1965, aufgewachsen in Stadthagen, studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie. Nach mehrjähriger Verlagstätigkeit lebt und arbeitet sie heute in Hannover als Autorin von Sachbüchern und Romanen.

Ilka Sokolowski

Böse Affen

Kriminalroman


Impressum

© 2011 zu Klampen Verlag • Röse 21 • D-31832 Springe

info@zuklampen.de • www.zuklampen.de Herausgegeben von Susanne Mischke Titelgestaltung: »In Zeiten wie diesen« – Büro für Kommunikation, Konzept & Kreation, Hannover Konvertierung: Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

ISBN 978-3-86674-112-6

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

|5|1

An einem kalten Vormittag im März klemmte Leo Heller mit dem rechten Unterarm zwischen den Stäben eines Affenkäfigs und schwor sich, dass sie ihren Job hinschmeißen würde. Gründe dafür gab es genug: Mies bezahlte Knochenarbeit, die versprochene Hilfskraft ein Phantom und die einzige Sackkarre geklaut, obwohl sie sie nur einen Moment lang aus den Augen gelassen hatte. Da war diese Bombendrohung gewesen, schon die zweite innerhalb kurzer Zeit; zum Glück nichts als heiße Luft, aber das konnte man ja vorher nie wissen. Weil irgendein zu kurz gekommener Dummkopf sein Ego aufpolieren und sich aufspielen musste, waren alle gezwungen worden, das Messegelände Nord zu verlassen. Als Leo zurückgekommen war, war die Sackkarre weg.

Schöner Mist.

Und jetzt auch noch das hier. Sie würde also kündigen. Sobald sie dem kreischenden Affen da die Autoschlüssel wieder abgenommen hatte. Die Schlüssel zu dem Lieferwagen, der vor der Messehalle 24 darauf wartete, entladen zu werden. Der Lieferwagen der Floristikfirma, die die Messestände betreute, Sorghuts Blumenservice für jeden Anlass. Dessen Chefin Leo wahrscheinlich feuern würde, bevor sie überhaupt den Mund aufmachen geschweige denn ihren Arm aus dem Käfig befreien konnte.

Da kam sie schon.

Eine kleine Delegation steuerte auf Stand C.53.1 zu, den Leo nach Wunsch des chinesischen Ausstellers bis zur Eröffnung |6|der CeBIT in eine Art Zen-Garten verwandeln sollte mit Bambuskübeln und Lotusteich. Was die drei Affen hier zu suchen hatten, war nicht klar. Gestern waren sie jedenfalls noch nicht dagewesen. Erstaunlich, was die Messeleitung alles tolerierte. Es musste wohl mit dem Firmenmotto des Ausstellers zu tun haben, nichts hören, nichts sagen, nichts sehen und trotzdem kommunizieren, so in der Art vielleicht. Leo wusste nicht, was auf diesem Stand überhaupt ausgestellt werden sollte, es war ihr auch herzlich egal.

Der Schlüsselbund war ihr aus der Tasche gerutscht, als sie sich über den Käfig gebeugt hatte, um die überraschenden Neuzugänge näher in Augenschein zu nehmen. Leos Unterarm reichte nicht weit genug, um ihn herauszuangeln. Blitzschnell hatte der Affe mit dem gelben Halsband zugegriffen.

»Gib die verdammten Schlüssel her!« Der Dieb, eindeutig das dominante Männchen des Trios, fauchte giftig zurück und tobte mit seiner Beute durch den Käfig, während die beiden anderen eingeschüchtert in ihren Ecken hockten. Alle drei trugen diese dicken Halsbänder, die an den schmächtigen Hälsen viel zu klobig wirkten. Der Affe mit dem türkisfarbenen machte einen ausgesprochen elenden Eindruck, der dritte – weißes Bändchen – beäugte Leo abwartend.

Im Grunde taten sie ihr leid. Sie gehörten nicht in eine Messehalle und eigentlich auch nicht hinter Gitter. Die Affen waren etwa einen halben Meter groß, mit lineallangem Schwanz und struppigem bräunlichem Fell, und der Käfig schien zu eng für sie. Das Gitterwerk war jedenfalls zu eng für Leos Arm. Sie steckte fest.

Inzwischen hatte die Delegation ihr Ziel erreicht.

|7|»Sind Sie verrückt geworden? Wie kann man nur so leichtsinnig sein!« Die tadelnde Stimme gehörte zu Leos Erleichterung nicht Irene Sorghut, sondern einer unbekannten Frau im rustikalen Parka und mit dicksohligen Arbeitsstiefeln. Begleitet wurde sie von zwei ähnlich ausstaffierten Männern und zwei Polizisten in Uniform. Alle fünf trugen irritierenderweise Handschuhe und einen Mundschutz.

»Diese Primaten haben ein mörderisches Gebiss! Unter Umständen sind es Wildtiere, die an Menschen nicht gewöhnt sind. Haben Sie überhaupt eine Vorstellung, was für Krankheiten die übertragen können? Nehmen Sie Ihren Arm da raus, um Himmels willen!«

Leo versicherte, dass sie das sehr gerne tun würde: Es ging aber nicht.

Vier Hände packten von hinten zu, zerrten an Leos Schulter und am Käfigrahmen. Jetzt erwachten auch die beiden anderen Affen aus ihrer Lethargie, aber bevor alle durchdrehen konnten, landete Leo auf dem Hosenboden. Der Arm war frei.

»Viel zu wenig Platz da drin«, knurrte einer der Männer, der hilfreich Hand angelegt hatte. »Und der Abstand der Stäbe! Jenseits aller Norm.« Der Affe mit dem weißen Halsband unterstrich seine Worte, indem er eine Hand provozierend aus dem Käfig schob. Die Polizisten traten einen Schritt auf Leo zu.

»Haben Sie Papiere für die Affen?«, fragte der eine.

»Ich? Nein, wieso denn? Ich bin nur die Gärtnerin, für die Flora zuständig, nicht für die Fauna.« Sie sagte Gärtnerin, wie immer, wenn es ihr zu kompliziert erschien, sich als Gartenarchitektin vorzustellen. Für diesen Messejob war sie im |8|Grunde mehr als überqualifiziert, aber die Zeiten waren nun mal nicht gerade rosig. Sie nahm, was sie kriegen konnte.

Der Polizist zückte ein Notizbuch. »Ihr Name?«

»Leonore Heller. Aber hören Sie, ich wollte bloß die Autoschlüssel … die sind mir aus der Tasche gerutscht, als ich … Oh, Vorsicht, nicht den Bambus umstoßen!« Hastig rückte Leo den einzigen Kübel beiseite, den sie bislang zum Stand geschafft hatte. »Es war wirklich schwer, den hierher zu schleppen, unsere Sackkarre ist nämlich verschwunden, und Mister Kong, das ist der Inhaber des Standes …«

»Ist uns bekannt«, warf der Polizist nach einem kurzen Blick auf sein Klemmbrett ein.

»So? Ich hatte bisher nur mit seinem Assistenten zu tun. Jedenfalls will Mister Kong diese Sache hier unbedingt bis morgen Mittag erledigt haben, das ist noch ein Haufen Arbeit, und was die Affen hier sollen, weiß ich auch nicht, von Affen war vorher nie die Rede!«

Warum quasselte sie so viel? Sie hörte sich an wie das leibhaftige schlechte Gewissen, dabei war sie einfach nur nervös. Jede Wette, dass Irene Sorghut bald aufkreuzen würde, um zu kontrollieren, wie weit sie mit der Arbeit war. Und die teils neugierigen, teils belustigten Blicke der Mitarbeiter der diversen Messebaufirmen, die an den Ständen in der Umgebung werkelten und den chinesischen Garten mehr als exotisch fanden, gingen Leo nicht erst seit heute Morgen auf die Nerven. Keiner von denen hatte ihr eine Sackkarre leihen können. Angeblich. – Blödmänner.

Der Polizist, dem sie so fürsorglich den Weg gebahnt hatte, kritzelte etwas in sein Notizbuch. Im Affenkäfig hatte sich die Lage ein wenig entspannt, obwohl oder weil die Parka-Frau |9|unablässig mit ruhiger Stimme auf die Tiere einredete.

»Hanne Lenz«, stellte sie sich Leo vor. »Vom Deutschen Tierschutzbund.«

Leo schüttelte die dargebotene Hand. Eigentlich wirkte die Affenflüsterin ganz sympathisch. Offener Blick, gesunde Gesichtsfarbe, zupackender Händedruck. Braune Haare mit erstem Grau darin, eine steile Sorgenfalte auf der Stirn, aber Lachfältchen in den Augenwinkeln; um die vierzig, schätzte Leo.

»Ein anonymer Anrufer hat uns heute Morgen auf diesen Missstand hier aufmerksam gemacht«, sagte Hanne Lenz und fasste einen jungen Mann ins Auge, der eben herbeigeeilt kam. Es war Ken Zhang, der Assistent von Mister Kong.

»Aber weshalb denn?«, fragte der junge Chinese in fast akzentfreiem Deutsch, nachdem er sich vorgestellt hatte. Er trug rote Sneaker zur schwarzen Anzughose, und sein Gesicht war fast so weiß wie sein Hemd. »Und warum gleich die Polizei?«

Die Uniformierten bereiteten ihm offensichtliches Unbehagen. Hanne Lenz lächelte.

»In einem Fall wie diesem ziehen wir es vor, nicht allein zu kommen. Außerdem gibt es da einiges zu klären, zum Beispiel …«

»Ich werde alle Ihre Fragen beantworten«, fiel Ken Zhang ihr ins Wort. Angespannt sah er sich um, als fürchte er, Mister Kong würde jeden Moment auftauchen und eine große Szene machen. Unwillkürlich ließ sich Leo davon anstecken. Ihr Blick blieb bei einem Handwerker in einem grünem, mit einem Biber bedrucktem T-Shirt hängen, der sich ein paar |10|Stände weiter herumdrückte. Er schien vergessen zu haben, wozu der Hammer in seinen Händen sein sollte und sah mit einer Mischung aus Sorge und Genugtuung zu ihnen herüber, die Leo ziemlich verdächtig fand. Sie wäre jede Wette eingegangen, dass das der anonyme Anrufer war. Warum tat jemand so etwas? Hatte er mit dem jungen Chinesen irgendeine Rechnung offen, oder war er so eine Art Undercover-Tierschützer?

 

»Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn wir das noch etwas verschieben könnten und die Affen vorerst hier blieben«, hörte sie Ken Zhang sagen.

»Die Affen kommen mit«, beschied die Frau ihn knapp.

»Und wenn Sie nicht jetzt gleich mit uns sprechen wollen, müssen Sie auf die Polizeistation kommen. Europaallee 7, Nordseite Halle 21, Sie wissen, wo das ist?« Der andere Beamte, der bis jetzt geschwiegen hatte, zog seine Atemschutzmaske ab. Ken Zhang nickte, als sei ihm alles recht, Hauptsache, die Leute hier verschwanden wieder, bevor sein Boss auftauchte. Der Polizist hatte jedoch keine Eile.

»Unerlaubte Einfuhr von …« – er konsultierte einen Computerausdruck – »von Rhesusäffchen, im Falle eines Wildfangs eine geschützte Tierart. Umgehung von Quarantänebestimmungen, dazu kommt die nicht artgerechte Unterbringung …«

»Wir werden Anzeige gegen diesen Herrn Kong erstatten«, ergänzte Hanne Lenz. Sie klang wütend. »Oder gegen Sie beide. Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«

»Schon mal in die Standbaubestimmungen geguckt?«, assistierte jetzt wieder der erste Polizist. »Anhang Hausordnung, Paragraph 3 a: Die Mitnahme von Tieren ist nicht gestattet. |11|Haben Sie eine Sonderregelung mit der Messeleitung getroffen?«

Ken schüttelte den Kopf. »Ich … hatte noch keine Gelegenheit, das zu klären.«

»Wir werden das alles sehr genau prüfen«, sagte Polizist zwei.

Ken wurde noch bleicher, die Strähne schwarzen Haars, die ihm in die Stirn fiel, wirkte wie ein Tuschestrich auf einem weißen Blatt.

»Es sollte doch nur ein Werbegag sein. Mister Kong hat manchmal sehr … spezielle Ideen.«

»Ein Gag?« Die Stimme der Tierschützerin klang wie ein Fallbeil.

Ken wand sich. »Wahrscheinlich kann man darüber unterschiedlicher Ansicht sein … Was geschieht denn jetzt mit den Affen?«

»Sie werden tierärztlich untersucht, dann bringen wir sie auf eine Quarantänestation, wo sie eine Weile unter Beobachtung bleiben«, erwiderte Hanne Lenz.

Ken Zhang biss sich auf die Lippen. »Und wohin kommen sie danach?«

Die Tierschützerin musterte ihn kühl. »Darum müssen Sie sich keine Gedanken mehr machen. Das ist unsere Sache.«

Auf ihr Zeichen packten die beiden Männer den Käfig, in dem schlagartig neues Kreischen und Toben begann. Nur der Affe mit dem türkisfarbenen Halsband blieb apathisch in seiner Ecke hocken.

»Ähm … Moment«, meldete sich Leo. »Meine Schlüssel.«

Hanne Lenz runzelte die Stirn. »Brauchen Sie die sofort? Ich würde den Affen von unserem Tierarzt lieber erst ein leichtes Beruhigungsmittel geben lassen.«

|12|Zur allgemeinen Überraschung zog der junge Chinese eine Packung mit getrockneten Mangostückchen aus der Tasche, trat an den Käfig und warf, bevor die Männer ihn daran hindern konnten, kleine Bröckchen hinein. Der Schlüsseldieb musste sich entscheiden: Klimperkram oder Süßigkeit? Die Frage war einfach, die Schlüssel klirrten zu Boden, Zhang öffnete die Käfigtür, griff flink hinein und zog den Schlüsselbund heraus.

»Banane mögen sie noch lieber«, sagte er.

Hanne Lenz lächelte säuerlich. »Werde ich mir merken.«

Als die Truppe wieder abgerückt war, dauerte es noch eine ganze Weile, bis die Arbeiter an den benachbarten Ständen nicht mehr herüberguckten, tuschelten und grinsten. Der Handwerker, der Leo aufgefallen war, sägte konzentriert an einer Pressholzplatte herum.

»Was sollte das mit den Affen?«, wandte sich Leo an Ken Zhang, dem inzwischen Schweißperlen auf der Stirn standen. Er sah fast so elend aus wie dieser Primat mit dem türkisblauen Halsband.

»Es würde zu lange dauern, das zu erklären. Hören Sie, Frau Heller, Sie müssen … oh, Mister Kong!«

Was sie musste, erfuhr Leo nicht mehr, denn angesichts des chinesischen Geschäftsmannes, der wie aus dem Erdboden gewachsen vor ihnen stand, verstummte Ken Zhang, als hätte man ihm den Strom abgestellt. Mister Kong entpuppte sich als dicklicher älterer Herr im grauen Anzug, mit schwarz gefärbten Haaren, Goldrandbrille und multifunktionaler Uhr am Handgelenk. Und er spuckte Gift und Galle. Ein Schwall chinesischer Wörter wurde über Ken ausgekippt, es |13|klang wie Wasisthierlos-wosindmeineAffen-ichverlangeeineErklärung-daswirdFolgenhaben-Siesindentlassen. Ungeachtet seines Politbüro-Aussehens bestand kein Zweifel, wer jetzt das dominante Männchen war.

Der junge Chinese versuchte Haltung zu bewahren. Mit zusammengebissenen Zähnen presste er eine Antwort hervor. Kong äußerte etwas im Befehlston, was sein Assistent mit einer steifen Verbeugung quittierte, und wandte sich um, ohne den noch ungefüllten Lotusteich, die Bambusstaude oder gar Leo eines Blickes zu würdigen. Er schien zu erwarten, dass sein Assistent ihm folgen würde, doch offenbar war Ken durch den Auftritt seines Chefs völlig aus dem Takt geraten. Er stieß gegen den Bambus, den Leo extra aus dem Weg geräumt hatte, und stürzte mit rudernden Armen mitten hinein. Ein hässliches Knirschen war zu hören, als der große Holzbottich umkippte und die Staude in der Mitte abknickte. Das Holz splitterte, schwarzbraune Erde ergoss sich über den Boden und in das leere Becken.

Wunderbar. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Doch bevor Leo diesen Gedanken überhaupt zu Ende bringen konnte, hatte Ken unter Bambusgeraschel und tausend Entschuldigungen die ruinierte Pflanze schon notdürftig wieder aufgerichtet. Hektisch schaufelte er die Erde zurück in den kaputten Kübel.

Mister Kongs Miene war unergründlich, als er sich umdrehte.

»Lassen Sie, ich mache das schon«, sagte Leo hastig zu Ken.

»Verzeihen Sie, ich bin wirklich so ungeschickt«, murmelte er, klopfte sich die Erde von den Händen und sah zu ihr auf. Ein leiser Seufzer entfuhr ihm, oder war es ein Wort? Huang? |14|Huah? Hue? Leo hatte den Eindruck, dass er ihr etwas sagen wollte, doch dazu kam es nicht. Mit einer stummen Kopfbewegung forderte Kong seinen Assistenten auf, ihm zu folgen. Kens Blick vermochte Leo nicht zu deuten. Sie atmete auf, als beide weg waren und sie sich endlich wieder ihrer Arbeit zuwenden konnte. Wenn jetzt bloß nicht …

Aber natürlich kam sie. Und zwar bevor Leo Gelegenheit hatte, alles in Ordnung zu bringen.

»Wie sieht es denn hier aus!« Irene Sorghut stemmte die Arme in die Hüften und schleuderte vorwurfsvolle Blicke auf die über den Boden verteilte Erde, den zerstörten Bambus und ihre Aushilfsgärtnerin.

»Frau Heller, ich habe Sie nicht eingestellt, damit Sie diesen Messestand in ein Schlachtfeld verwandeln! Wo sind die restlichen Bambusstauden, die Funkien, der Lotus? Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist? Bis heute Abend muss hier alles tipptopp sein!«

Leo verkniff sich die Bemerkung, dass morgen Mittag doch auch noch reichen würde. Die CeBIT wurde erst am Montagabend um achtzehn Uhr eröffnet, und bis die Kanzlerin und ihr Wirtschaftsminister hier vorbeiflanieren würden, hätte Leo alles unter Kontrolle, einschließlich des Tischschmucks für zwei Tagungsräume, der Blumengestecke und des mobilen Grüns für sieben weitere Stände. In den nächsten Tagen hätte sie dann nichts anderes zu tun als verblühte Blumen auszutauschen, regelmäßig zu wässern, die großblättrigen Pflanzen abzustauben und überhaupt dafür zu sorgen, dass alles, was grün und lebendig war, tadellos aussah.

Irene Sorghut versetzte dem zerstörten Bambus einen wütenden Fußtritt. »Schaffen Sie das Zeug auf den Müll und |15|sorgen Sie dafür, dass alles so läuft, wie man es von unserer Firma erwartet, verstanden?«

Leo ließ sie noch ein wenig die empörte Chefin spielen, verschwieg vorsichtshalber die geklaute Sackkarre, wies nur kurz auf die fehlende Hilfe hin – der Azubi werde dringend beim Kranzbinden gebraucht, hieß es daraufhin, vier unerwartete Todesfälle seien dazwischengekommen, so etwas passiere nun mal, und noch mehr Hilfskräfte könne man nicht einstellen – versprach, versicherte, beruhigte und stellte, als sie wieder allein war, fest, dass sie doch nicht gekündigt hatte.

Konnte sie ja morgen auch noch tun. Lieber unterbezahlt als ganz ohne Geld. Als kleinen Lastenausgleich würde sie den derangierten Bambus mitnehmen, der war doch viel zu schade zum Wegwerfen. Einen passenden Kübel hatte sie im Keller, und auf ihrem großen Dachbalkon war noch viel Platz.

Als es Abend wurde, hatte Leo alle Grünpflanzen an Ort und Stelle geschafft, zwei Steinlaternen und einen Buddhakopf aufgestellt, die Standfläche penibel gesäubert und Wasser in das Becken gelassen. Den Lotus würde sie erst am nächsten Morgen einsetzen. Es war zu befürchten, dass er alle paar Tage ausgetauscht werden musste, aber solange Mister Kong für den ganzen Aufwand zahlte, sollte sie das nicht kümmern. Inzwischen waren die Techniker eingetroffen, verlegten meterweise Kabel, installierten Anschlüsse, Scheinwerfer und einschüchternd nach Hightech aussehende Gerätschaften. Mit einer Sackkarre konnten auch sie nicht aufwarten, aber ausgerechnet der Typ mit dem Biber-Shirt räumte hilfsbereit seinen Rollwagen frei und half Leo, den mithilfe eines Stocks und rot-weißem Absperrband notdürftig geschienten Bambus |16|hinaus zum Lieferwagen zu schaffen. Er spendierte sogar noch etwas Noppenfolie für das asiatische Gestrüpp, wie er es nannte. Leo zögerte einen Moment, ob sie ihn wegen der Affengeschichte fragen sollte, ließ es dann aber bleiben und bedankte sich nur.

Sie hatte jetzt die Wahl, sich mit dem Lieferwagen durch die verstopften Straßen zu quälen oder ihre Fracht auf dem Fahrradgepäckträger nach Haus zu balancieren, was bedeutete, dass sie schieben musste. Nach einem Tag in stickigen Messehallen entschied sich Leo für die Frischluftvariante. Dass sie für gewöhnlich jeden Weg, egal wie lang und bei welchem Wetter, mit dem Rad oder zu Fuß zurücklegte, sorgte bei ihren Mitmenschen immer wieder für verständnisloses Kopfschütteln. Das kratzte Leo nicht, solange sie sich einfach besser fühlte, wenn sie sich viel bewegte. Und in puncto Wohlbefinden vertrug dieser Tag durchaus noch eine kleine Steigerung.

Den Wagen sollte sie an und für sich abends bei Sorghut abliefern und am nächsten Tag wieder abholen, an diesem Morgen hatte sie ihr Rad nicht bei der Gärtnerei gelassen, sondern mit hineingepackt. Da sie ja höchstwahrscheinlich bestimmt vielleicht sowieso kündigen würde, ließ sie den Wagen auf dem Messegelände stehen. Auf einen Anraunzer mehr oder weniger kam es nun auch nicht mehr an.

Der kalte Tag war noch kälterer Dunkelheit gewichen, und das mit der Frischluft erwies sich als Illusion. Irgendwo musste eine Straße gesperrt worden und eine Umleitung eingerichtet worden sein; oder es lag an den vielen Messezulieferern, die unterwegs waren, dass an diesem Sonntagabend ein |17|Betrieb herrschte wie sonst im schlimmsten Feierabendverkehr. Die Autoabgase waberten wie Theaternebel über die Karlsruher Straße. Leo beschleunigte ihr Tempo. Nicht lange, und sie sah die von Scheinwerfern angestrahlte Pagode des buddhistischen Klosters. Der Turm aus aufeinandergestapelten Stockwerken, jedes mit einem eigenen geschwungenen Dach, war ein exotischer Anblick im Gewerbegebiet zwischen Wülfeler Güterbahnhof und den hässlichen Hochhäusern von Mittelfeld. Dem Tempelgelände genau gegenüber leuchteten die gelben und roten Neonschriftzüge eines Supermarktes. Leo hielt in der Einfahrt zum Parkplatz.

Da sie schon mal hier war, konnte sie nachsehen, ob sie Su Jing antreffen würde. Mit der jungen Chinesin verband Leo seit einigen gemeinsam durchgestandenen Abenteuern eine unkomplizierte Freundschaft. Die fröhliche und selbstbewusste junge Frau (noch fröhlicher und selbstbewusster, seit ihr Mann sich wieder nach China abgesetzt hatte) war die angeheiratete Nichte eines Imbissbesitzers namens Wang Li, der im gleichen Haus lebte und den Leo ebenfalls sehr gern hatte. Su Jing hatte ihr Elektrotechnikstudium auf Eis gelegt, half im Imbiss und vergötterte ihr Söhnchen Jian, den kleinen Jadestern, wie sie ihn nannte. In letzter Zeit jedoch fand Leo sie verändert. Ernster war sie geworden, in sich gekehrt, fast schon verschlossen. Immer öfter überließ sie Jian der Obhut der beiden alten Frauen, die mit in Wang Lis Haushalt lebten. Und sie hatte begonnen, das buddhistische Vien Giac Kloster zu besuchen. Vien Giac war ein vietnamesisches Kloster, wie Leo von Su Jing erfahren hatte, das aber von Buddhisten und interessierten Laien aus aller Welt besucht wurde. Es gab Seminare und Führungen, und zweimal am |18|Tag fanden Zeremonien statt. Su Jing versäumte neuerdings kaum eine davon.

 

Aggressives Hupen riss Leo aus ihren Gedanken. Ein Autofahrer wollte unbedingt auf den Parkplatz des Supermarkts einbiegen, obwohl der sonntags geschlossen hatte. Wütend signalisierte er, sie solle gefälligst aus der Einfahrt verschwinden. Was waren die heute alle gereizt! Leo versuchte eine Lücke im Verkehrsstrom abzupassen und auf die andere Straßenseite zum Kloster zu wechseln. Mit Fahrrad und Bambus konnte sie nicht mal so eben zwischen den Autos hindurchflitzen, und keiner der Fahrer schien bereit, mehr als zehn Zentimeter Abstand zur Stoßstange seines Vordermannes zuzulassen. Jetzt donnerte auch noch ein Tieflader mit einem Container heran, bremste ab, wartete … wartete … wartete … und Leo bekam ausgiebig Gelegenheit, die Containeraufschrift zu studieren: Gebr. Baumanns Schutt- und Lastcontainer. Endlich konnte der Tieflader in die Sackgasse an der Nordseite des Klostergeländes einbiegen. Dann war die Sicht auf das Kloster wieder frei. Hinter einer Mauer mit einem dreiteiligen Tor mit roten Säulen und geschwungenem Dach lag ein Innenhof. Im Hintergrund leuchtete eine pinkfarbene Wand, Leo sah eine geschwungene Treppe oder Rampe und einen Brunnen mit einer großen weißen Buddhastatue in der Mitte. Das Plätschern des Wassers konnte sie wegen des Verkehrslärms nicht hören, dafür aber chinesische Satzfetzen. Die Stimme gehörte Su Jing. Sie klang aufgeregt. Leo schob ihr Rad ein Stückchen weiter, sodass sie einen besseren Einblick in den Klosterhof hatte.

Mit wem sprach Su Jing? Leo erkannte nur die Umrisse eines Mannes, der mit dem Rücken zu ihr stand. Von ihrem Platz |19|auf der anderen Straßenseite konnte sie auch Su Jing nicht deutlich sehen, nur deren Körperhaltung deuten. Angespannt. Wütend. Sie beugte sich vor, fasste den Mann am Arm. Antwortete er? Leo konnte es nicht hören, denn der Tieflader hatte sich seines Containers inzwischen entledigt, schob sich mit dröhnendem Motor wieder an die Hauptstraße heran und fädelte ein. Das Fahrerhaus versperrte Leo kurzfristig die Sicht. Ungeduldig trippelte sie vor und zurück und hätte beinahe den Bambus zum Absturz gebracht. Als der Tieflader endlich weiterfuhr, waren Su Jing und die schwarze Silhouette verschwunden.

War dieser Mann der Grund für Su Jings neu entdeckten religiösen Eifer? Leo hatte keine Ahnung, wie sich zärtliche Verliebtheit auf Chinesisch anhörte, aber liebevoll hatte das nicht geklungen. Eher nach Sorge, nach Vorwurf. Nachdenklich setzte sie sich wieder in Bewegung. Sie hatte keine Lust mehr, hinüberzugehen. Schlecht gelaunt war sie selber schon und der Weg nach Hause noch verflixt weit.

Als Leo die Hildesheimer Straße erreichte, schmerzte ihre Schulter bereits von der verdrehten Haltung, in der sie den Bambus auf dem Gepäckträger umklammerte, während eine Straßenbahn nach der anderen vorbeifuhr, vollgestopft mit im Kunstlicht bleichen Anzugträgern. Die Bahnen kamen in Viererzügen, um die Geschäftsleute an den Ort ihrer Bestimmung zu schaffen, und das noch vor der offiziellen CeBIT-Eröffnung. Leo fragte sich, wie es in den nächsten Tagen erst zugehen würde. An den Haltestellen beugten sich ratlose Fremde über Stadtpläne und Zettel mit Wegbeschreibungen, um ihre Messezimmer zu finden.

Etwa auf der Höhe des Altenbekener Damms fand Leo ihre |20|Idee mit dem Fußmarsch nur noch bescheuert, aber wenigstens konnte sie nun in die ruhigeren Nebenstraßen der Südstadt einbiegen. Eine heiße Dusche und eine große Portion scharfes Irgendwas aus Wang Lis Küche schienen ihr jetzt der Gipfel der Genüsse.

Zu ihrer Enttäuschung waren die Fenster des kleinen Lokals im Erdgeschoss des dreistöckigen Altbaus dunkel. Sie hatte vergessen, dass am Sonntag Ruhetag war. Wang Li schien aber zu Hause zu sein, der weiße Mitsubishi Van stand auf dem üblichen Platz an der Straße. Gleich daneben parkten ein kleiner Europcar-Transporter und ein im Licht der Straßenlaterne dunkelgrün schimmernder BMW-Roadster.

Wer sich so einen Wagen wohl leisten konnte? Musste ein Vermögen gekostet haben. Leo fädelte sich mit äußerster Vorsicht daran vorbei und schob ihr Rad auf den Hinterhof. Auch in der Küche war alles dunkel. Eigentlich erstaunlich, dass Wang Li keine Ausnahme machte und sich das Geschäft einen Tag vor der Messe entgehen ließ. Bei den Griechen und Italienern an der Hildesheimer Straße war jeder Platz besetzt gewesen. Leo seufzte. Also mal wieder Bratkartoffeln und Pfefferminztee. Aber den dafür mit einem Schuss Rum.

Als sie die Treppe hinaufstieg, hörte sie aus Wang Lis Wohnung im ersten Stock die hohen, zittrigen Stimmen der beiden alten Chinesinnen, die sie nie auseinanderhalten konnte und von denen sie immer noch nicht wusste, ob es Tanten, Schwestern, Kusinen oder Frau und Exfrau von Wang Li waren. Dazwischen erklang das vergnügte Quietschen des kleinen Jian. Ein Stockwerk höher, bei Paul Ostermann, war alles ruhig. Ostermann hatte seine Wohnung für die CeBIT-Zeit |21|vermietet und war verreist, kaum dass man ihn aus dem Krankenhaus entlassen hatte. Blass und abgemagert hatte er sich von Leo verabschiedet. Abstand brauche er und Ruhe, um mit den Ereignissen des Winters fertig zu werden. Leo konnte ihn verstehen. Er war niedergeschossen worden, damals, als sie beide in den kriminellen Strudel um ein gefälschtes Tagebuch hineingezogen worden waren. Niedergeschossen von seiner Nachbarin Ruth Herwig, die jetzt im Gefängnis saß.

Leo musste einen Moment verschnaufen und setzte den Bambus ab. Ruth Herwigs Wohnung war kürzlich an zwei Studenten vermietet worden, erst gestern oder vorgestern mussten sie eingezogen sein, Leo war ihnen noch nicht begegnet. Der Mietwagen gehörte wahrscheinlich zu ihnen. An der Wand im Treppenhaus lehnten zusammengefaltete Umzugskartons aller Größen, auch zwei Kleiderkartons versperrten den Weg. Drinnen lief Musik aus den Siebzigern. Klang wie It never rains in Southern California. Der gute alte Albert Hammond. Der Geruch, der ins Treppenhaus drang, passte dazu. Leo schnupperte und grinste. Da drinnen machte ein Joint die Runde.

Sie schleppte ihren Bambus weiter. Dritter Stock, nur eine Wohnung, ihre. Endlich zu Hause. Ächzend setzte Leo den Kübel ab und tastete nach dem Lichtschalter. Das Außenlicht des Dachbalkons flammte auf.

»Hallo Edwina. Ich hab dir jemanden mitgebracht.«

Sie fing schon wieder an, mit ihrer selbst gezüchteten Rose zu reden. Kein gutes Zeichen. Eigentlich wollte sie sich das abgewöhnen. Wäre Martin Sandved jetzt dagewesen … Ach ja. Auch den wollte sie sich eigentlich abgewöhnen.

|22|»Da. Vertragt euch.« Sie wuchtete den Bambus neben Edwina, bekam dann Zweifel und holte ihn wieder rein.

»Er ist das Draußensein noch nicht gewöhnt«, erklärte sie. »Schmoll nicht. Du kannst die Kälte besser ab.«

Edwina hüllte sich in dorniges Schweigen, was sollte sie auch sonst tun. Ihre Zeit des Gehätscheltwerdens war vorbei, sie hatte schon den Winter draußen verbringen müssen. Leo befreite den Bambus aus seiner Folienhülle und wies ihm einen Platz im kühlen Schlafzimmer zu. Bevor sie die Balkontür wieder schloss, fiel ihr Blick in den dunklen Hinterhof. Nirgends Licht, Pauls Messegast war offenbar auch noch nicht da.

In Südkalifornien regnete es immer noch nicht, die Beach Boys übernahmen das Ruder und verbreiteten Good Vibrations, nun schon eine Spur lauter. Es versprach eine unterhaltsame Nacht zu werden. Leo seufzte und goss sich ein Glas Rum ein. Sie konnte ja später noch einen Schuss Pfefferminztee hinzutun.

Der Abend wurde lang und länger, die Bratkartoffeln schmeckten nicht, und Schuld daran war nur ein gewisser Kommissar, der sich in ihren Gedanken eingenistet hatte. Schlaflos lag Leo im Bett, während unten das musikalische Rahmenprogramm wechselte und mit Metallica deutlich härter wurde. Ab und zu schwoll der Pegel an, wenn ein weiterer leerer Karton ins Treppenhaus gestellt wurde.