Loe raamatut: «Das letzte Jahr»
ILSE TIELSCH
DAS LETZTE JAHR
ROMAN
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
DIE WIEDERGEFUNDENE ZEIT – Im Rückblick eine Utopie?
Glossar
1
Ich bin die Elfi Zimmermann. Ich bin ziemlich klein und mager und habe glatte braune Haare, die mir ins Gesicht hängen würden, wenn mir die Marschenka nicht jeden Morgen zwei feste Zöpfe flechten würde. Außerdem ist zu sagen, daß ich seit ein paar Monaten ein Fahrrad besitze, das ich sehr liebe. Damit bin ich viel unterwegs, häufig auch ohne mich vorher bei meiner Mutter abgemeldet zu haben. Das ist aber nicht schlimm, weil mir in unserer sehr kleinen Stadt nicht viel passieren kann.
Wenn wirklich etwas passieren würde, wenn ich zum Beispiel auf dem Stadtplatz, dort wo er ganz steil ist, so stürzen und mir etwas brechen würde, so daß ich nicht mehr aufstehen kann, würden das sofort mehrere Leute bemerken. Zum Beispiel die Frau Zwirschina, die neben der Kirche ihren Gemüsestand hat und alles weiß, was in der Stadt passiert, oder der Sohn vom Schnittwarenhändler am unteren Stadtplatz, der von seinem Geschäft aus den ganzen Platz überblicken kann; oder jemand von den anderen Kaufleuten, die dort ihr Geschäft haben. Auch der Schurl würde das natürlich sehen, der immer auf den Kirchenstufen sitzt, aber dem würde es wahrscheinlich egal sein, weil er nur sehr langsam denken kann. Auf jeden Fall würde gleich jemand zu meiner Mutter hinaufrennen und es ihr melden. Meine Mutter würde aber kein großes Geschrei darum machen, sondern mich zu meinem Pech auch noch zusammenschimpfen, weil ich nicht besser aufgepaßt habe.
Bei uns kann einfach nichts geschehen, ohne daß es gleich jemand bemerkt und sich einmischt, oder jedenfalls sehr schnell davon erfährt. Neuigkeiten, die nicht bekannt werden, gibt es nicht. Deswegen macht sich in meiner Familie niemand Sorgen um mich, wenn ich einmal ein paar Stunden lang weg bin. Wenn wir in einer großen Stadt wohnen würden, zum Beispiel in Wien oder in Brünn, hätte ich es, was das betrifft, bestimmt nicht so gut.
Ich genieße die Freiheit, die mir mein Fahrrad schenkt. Ich trete in die Pedale und fahre und fahre, bis zu den ersten bunten Häusern von Klein Tarowitz und wieder zurück, über den Stadtplatz hinunter, im Schwung um die Ecke, geradeaus, hügelauf, hügelab nach Groß Tarowitz, wo ich Freundinnen habe. Und dann fahre ich wieder zurück.
Auf der Straßenkreuzung in der Mitte des Stadtplatzes bremse ich mit dem Rücktritt ab, biege nach links ein, überquere den Bach, fahre geradeaus, am Hof meiner Großeltern vorbei, wiederum hügelauf und hügelab, denn diese sehr kleine Stadt, in der ich mit meinen Eltern lebe, liegt in einer Mulde zwischen zahllosen Hügeln.
Schließlich erreiche ich den Bahnhof an der Hauptstrecke, steige ab und warte, ob einer der großen Züge kommt, die manchmal nur durchfahren, oft aber auch halten. Dann sehe ich zu, wie die Fahrgäste aussteigen und zur Lokalbahn hinübergehen, die sie in unsere Stadt bringen wird. Die meisten, die hier aussteigen, kenne ich ja, Fremde kommen nur selten. Außer Feldern und Weingärten und den vielen Kellern, in denen der Wein in großen Holzfässern lagert, gibt es bei uns ja nicht viel zu sehen.
Wenn der Zug dann wieder anfährt, stelle ich mir vor, daß ich mitfahren darf, irgendwohin in ein unbekanntes Land, oder noch weiter bis an die Meeresküste, wo schon das Schiff wartet, in das ich einsteigen werde und das mich über den großen Ozean nach Amerika bringen wird. Ich kann lange auf einer der Holzbänke sitzen, die vor dem Bahnhofsgebäude stehen, und von meiner Schiffsreise träumen.
Wenn es stark regnet und ich nicht radfahren kann, lese ich verschiedene Bücher. Unlängst habe ich den »Schatz im Silbersee« fertiggelesen, und seither denke ich viel über die Indianer und ihr Leben in Amerika nach. Wenn ich groß bin, werde ich vielleicht wirklich auf einem Schiff dorthin reisen und Trapperin werden. Auch mein Großonkel Ferdinand ist ja nach Amerika gefahren und hat dort wahrscheinlich ein sehr glückliches Leben und niemals Heimweh gehabt, denn er ist nie mehr nach Hause zurückgekommen, und man hat nie mehr etwas von ihm gehört.
Es ist allerdings auch möglich, daß ich zum Zirkus gehe wie eine meiner Tanten aus Wien. Ihre Eltern haben sich zwar gewünscht, daß sie Handarbeitslehrerin wird oder Angestellte in einer Sparkasse oder etwas Ähnliches, und daß sie später vielleicht einen Schuldirektor oder einen anderen bedeutenden Mann heiratet, sie wollte das aber nicht und ist Zirkuskünstlerin geworden, und das würde mir auch sehr gefallen.
Ich könnte ja reiten lernen und in einem wunderschönen, glitzernden Turnanzug auf dem Rücken eines Pferdes Kunststücke machen oder kopfüber auf einem Trapez durch die Luft fliegen, wie ich es einmal in einem Zirkus in Groß Seelowitz gesehen habe. Auf dem Reck, das man in die eisernen Ringe einhängen kann, die man für mich am Türstock zwischen dem Wohzimmer und dem Schlafzimmer der Eltern angebracht hat, habe ich das schon geübt. Möglicherweise genügt es aber, wenn ich mir Kunststücke ausdenke, die man mit dem Fahrrad machen kann, dann muß ich gar nicht reiten lernen.
Eigentlich hat man mich Elfriede getauft, weil meine Taufpatin so heißt, aber wer ruft schon ein kleines Mädchen mit so einem langen altmodischen Namen. Man sucht eine Abkürzung, die sich leicht aussprechen läßt. In meinem Fall hatte man an Frieda gedacht, und ist schließlich auf Elfi gekommen. Elfi, komm her, Elfi, tu das nicht, hast du schon Klavier geübt, Elfi, hast du deine Aufgaben gemacht, bohr nicht in der Nase, Elfi, was hast du schon wieder angestellt, hab ich dir nicht schon hundertmal gesagt, daß du so was nicht machen sollst, wenn du es noch einmal tust, Elfi, kriegst du einen Klaps auf den Hintern.
Mit so einem Klaps ist man schnell bei der Hand. Er tut natürlich nicht wirklich weh, der Schmerz ist eher seelischer Art.
Unsere Josefka sagt ohnedies Pipinko zu mir, was ungefähr kleines Henderl oder Hühnchen heißt.
Wie ich mich nennen werde, wenn ich mich für den Zirkus entscheiden sollte, weiß ich noch nicht. Meine Wiener Tante hat eigentlich Hannelore geheißen, sich aber dann Loretta genannt. Hannelore ist kein Name für eine Zirkuskünstlerin. Auch Elfi eignet sich wahrscheinlich nicht, Elfriede schon gar nicht.
Wir leben, wie gesagt, in einer sehr kleinen Stadt und die liegt in Mähren. Früher hat Mähren zu Österreich gehört, nach dem Ersten Weltkrieg ist die Tschechoslowakei entstanden und Mähren gehört seither dazu. Manche Leute sind damit nicht zufrieden, in letzter Zeit hört man darüber reden, daß man viel lieber zu Österreich gehören würde, weil dort alle Deutsch reden und weil man dazugehört hat, wie der alte Kaiser noch dort gelebt hat. Warum es besser sein soll, wenn alle Leute die gleiche Sprache sprechen, verstehe ich eigentlich nicht. In unserer Stadt sprechen mehr Leute Deutsch und weniger Tschechisch, in anderen Städten ist es umgekehrt. Rundherum gibt es Dörfer, in denen nur Deutsch gesprochen wird, dazwischen liegen ein paar andere, in denen nur Tschechen leben. Zum Beispiel in Klein Tarowitz, das weiß ich genau, weil ich schon mit der Marschenka dort gewesen bin.
Daß wir in einer hügeligen Gegend wohnen, macht das Radfahren sehr interessant. Man muß zwar oft absteigen und das Rad bergauf schieben, kann aber auf der anderen Seite wunderbar schnell hinunterfahren, der Schwung, den man dabei bekommt, reicht oft bis zur Hälfte des nächsten Hügels. Ich sause die Hügel hinunter, manchmal sogar freihändig, um schon für den Zirkus zu üben, der Schwung trägt mich noch ein Stück auf den gegenüberliegenden Hügel hinauf. Ich trete kräftg in die Pedale, bis ich oben angekommen bin. Dabei komme ich ins Schwitzen, aber es macht Spaß. Nur wenn es allzu steil hinaufgeht, steige ich ab.
Die Hügel rund um unsere Stadt sind im Sommer bunt gestreift, weil auf den Feldern verschiedene Pflanzen wachsen, das Getreide ist im Frühling hellgrün, später dann wird es gelb, beim Kukuruz ist es ähnlich. Das sieht sehr lustig aus. Die Rübenfelder sind dunkelgrün, die Mohnfelder blühen im Frühsommer zartrosa und weiß.
Aus den Rüben wird in mehreren Fabriken, die es in unserer Gegend gibt, Zucker gemacht, aus dem Mohn wird die Fülle für Mohnstrudel, Mohnkipferln, Mohnbuchteln und viele andere Mehlspeisen bereitet. Am liebsten sind mir die Mohnudeln aus Erdäpfelteig mit viel Zucker und flüssiger Butter darauf. Die reifen Mohnkapseln kann man aufbrechen und sich die blauen Körner direkt in den Mund rieseln lassen. Sie schmecken leicht bitter und bleiben zwischen den Zähnen kleben. Seit mir die Marschenka gesagt hat, daß man davon dumm werden kann, mach ich das aber nicht mehr so oft.
Angeblich, sagt die Marschenka, haben früher manche Leute in den Dörfern den Wickelkindern Mohnlutscher in den Mund gesteckt, weil sie dann fest schlafen und ihre Eltern ruhig auf den Feldern arbeiten konnten, und aus diesen Kindern wurden dann später oft nicht sehr gescheite Erwachsene. Sie sagt, ich soll mir nur den Schurl anschauen, dem hat man, wie er noch ganz klein gewesen ist, sicher Mohnschnuller gegeben. Was sie aber gar nicht wissen kann, weil der Schurl kein Wickelkind mehr gewesen ist, wie man ihn draußen beim Bahnhof zwischen den Eisenbahnschienen gefunden hat.
Immerhin hat mir das zu denken gegeben, weil ich den Schurl fast jeden Tag sehe, wenn er auf den Kirchenstufen oder bei der Dreifaltigkeit unter den Linden sitzt oder wie er beim Nowotnywirt die Stiegen abkehrt, und ich habe mir vorgenommen, doch lieber vorsichtig zu sein.
Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, sagt die Josefka, und die muß das wissen, weil sie ja jetzt ein Geschäft mit Glaswaren und Porzellanhäferln hat.
Auf unseren Hügeln wachsen übrigens auch ungeheure Mengen verschiedenfarbiger Weintrauben, der Wein, den man daraus macht, ist so gut, daß die Händler von weither kommen, um ihn einzukaufen. Es gibt bei uns auch viele Weinkeller, in den Weingärten und an den Feldwegen stehen Marillenbäume und Pfirsichbäume und an den Straßenrändern Kirschbäume, und alle diese Bäume tragen im Sommer so viele Früchte, daß die Hausfrauen oft gar nicht wissen, was sie mit dem vielen Obst anfangen sollen, in die Einmachgläser geht gar nicht so viel hinein. Die Wiener holen sich manchmal etwas davon, aber es bleibt immer noch viel zu viel übrig. Gegen den Herbst zu liegen dann die blauen Zwetschken im Gras, und die Finger werden schwarz von den grünen Schalen der Nüsse, die man mit Stangen von den großen Nußbäumen schlägt.
2
Das Jahr 1938 hat mit einer großen Aufregung angefangen, davon muß ich unbedingt erzählen.
Am 25. Jänner hat nämlich in unserer Wohnung die Feuerglocke geläutet. Mein Vater ist ja bei der Freiwilligen Feuerwehr und wenn es irgendwo in der Umgebung brennt, muß er sofort alles stehen und liegen lassen, seine Uniform anziehen und zum Feuerwehrdepot rennen, wo der Löschwagen mit allen Spritzen und Leitern steht und wo sich bei Alarm alle Feuerwehrmänner einfinden müssen. Aus allen Richtungen laufen die Männer herbei und kommen ganz abgehetzt beim Feuerwehrdepot an, manche setzen sich erst beim Laufen ihren Helm auf und machen die Knöpfe an ihrer Jacke zu. Alles muß ja ganz schnell gehen, sonst ist das brennende Haus oder die brennende Scheune nicht mehr zu retten. In rasender Eile müssen dann die Schläuche gelegt und mit den Wasserpumpen verbunden werden, die Feuerwehrmänner können das sehr gut, denn sie haben das schon oft, wenn es gar nicht gebrannt hat, geprobt.
Wie der Alarm losgegangen ist, bin ich schon im Bett gelegen, weil ich so müde gewesen bin. Es hat nämlich im Jänner sehr viel wunderschönen Schnee gegeben, alles war tief verschneit, die Straßen waren verweht und die Autobusse und unsere Lokalbahn sind im Schnee stekkengeblieben. Die Erwachsenen haben sich geärgert, aber wir Kinder haben uns gefreut, denn wir haben zwei Tage schulfrei gehabt, weil die Wege freigeschaufelt werden mußten. Vom Rodeln hat uns der viele Schnee aber nicht abgehalten.
Ich bin mit meiner Rodel den ganzen Nachmittag unterwegs gewesen und erst am späten Nachmittag wieder nach Hause gekommen, wie es schon dunkel geworden ist, habe mein Nachtmahl gegessen und bin dann bald ins Bett gegangen. Nicht einmal zum Lesen habe ich Lust gehabt.
Wie die Feuerglocke zu läuten angefangen hat, bin ich schon beim Einschlafen gewesen, und weil sie nicht aufgehört hat zu läuten, bin ich richtig aufgewacht, bin aus dem Bett gesprungen und habe gerufen: Es brennt! Es brennt!
Dabei habe ich mich schnell angezogen, weil ich mir gedacht habe, daß es vielleicht in der nächsten Umgebung brennt, und so ein großes Ereignis darf man ja auf keinen Fall versäumen.
Schon während ich mich angezogen habe, habe ich den Feuerschein gesehen, der durch die Fenster geleuchtet hat, und wie ich den Vorhang weggezogen habe, war der Himmel ganz rot und in der Richtung zu den Pollauer Bergen ist das Rot noch viel ärger gewesen. Feuer habe ich aber keines gesehen.
In der Wohnung sind alle schon durcheinandergelaufen und Waldi, unser Dackel, hat ununterbrochen gebellt. Mein Vater hat seine Feuerwehruniform angezogen und seinen Helm aufgesetzt und hat gleich darauf das Haus verlassen, und die Mutter hat ihm noch nachgerufen, daß er aufpassen soll, aber er hat es nicht mehr gehört. Auch sie hat durch die Fenster den roten Himmel gesehen und wir alle, sie, ich und die Marschenka, sind über die Stiegen hinunter und auf die Straße hinaus gelaufen. Dort waren schon mehrere Leute unterwegs, die auch das Feuer sehen wollten, und auf dem Stadtplatz waren schon viele versammelt, haben in die Richtung geschaut, in der man den Brand vermutet hat, und alle waren sehr aufgeregt.
Wir haben geglaubt, daß es ein fürchterlich großes Feuer sein muß, doch niemand hat sich erklären können, was da so schrecklich brennt. Hinter den Hausdächern am unteren Stadtplatz, in der Richtung, wo die Schule liegt, ist der Feuerschein blutrot herausgekommen, ich habe schon gedacht, daß die Schule brennt. Der rote Schein hat sich von dort aus über den ganzen Himmel gezogen, alles war rot beleuchtet, die Fensterscheiben haben geglüht und die schönen weißen Haare der Frau Bürgermeister waren rosarot. Einige Leute sind dann weiter über den Stadtplatz hinuntergelaufen, weil sie das Feuer aus der Nähe sehen wollten, und auch ich wollte losrennen, aber meine Mutter hat mich am Arm festgehalten und gesagt, daß man uns dort, wo es brennt, jetzt sicher nicht brauchen kann.
Dann aber hat der Herr Oberlehrer Wessely, der in der Nähe von uns gestanden ist, gesagt, daß das kein irdisches Feuer sein kann, das da brennt. Ein Nordlicht ist es, hat er gesagt, das kann nur ein Nordlicht sein, ein gewöhnliches Feuer ist das nicht, da müßten dort unten ja ganze Stadtteile in Flammen stehen.
Sehen Sie nur diese Farben, hat er gerufen, und es sind jetzt tatsächlich aus dem Rot hinter den Dächern noch gelbe und grünliche Strahlen hervorgeschossen und alles, die Hauswände, der Kirchturm, sogar die Steine am Stadtplatz, hat ausgeschaut wie in Blut getaucht.
Das hat jedenfalls die Frau Lehrerin Karwat gesagt, die immer so gute Vergleiche findet, und die Leute in ihrer Nähe haben genickt und ihr recht gegeben.
Von Blut ist dann auch in den folgenden Tagen häufig die Rede gewesen, als man dann sicher gewußt hat, daß es ein Nordlicht gewesen ist. Es hat nämlich irgendjemand behauptet, daß so eine Himmelserscheinung großes Unglück bedeutet, wie sich angeblich leicht feststellen läßt, wenn man sich in der Geschichte auskennt. Das hat sich sehr schnell in der Stadt herumgesprochen und die Leute in Angst versetzt. Manche haben gemeint, daß uns ein Krieg bevorsteht, und die Männer, die im Weltkrieg gewesen sind, haben sich daran erinnert, wie schrecklich das gewesen ist, was sie erlebt haben. Mehrere Wochen lang hat es in der Stadt kein anderes Gesprächsthema gegeben als das Nordlicht und ob es ein Zeichen dafür ist, daß ein großes Unglück auf uns zukommen wird. Wenn jemand behauptet hat, daß er das alles blödsinnig findet, wie zum Beispiel die Marschenka, hat man ihn nicht ernst genommen.
In den Zeitungen hat man lesen können, daß das Nordlicht nicht nur bei uns beobachtet worden ist und daß sich nicht nur unsere Feuerwehrleute mit ihrem Einsatz blamiert haben. In Brünn sollen zwanzig Feuerwehren ausgerückt sein. Brünn, hat mein Vater gesagt, ist eine große Stadt, wenn man dort an einen Großbrand gedacht hat, muß man sich bei uns für so einen Irrtum wirklich nicht schämen.
Angst, sagt er, brauchen wir keine zu haben. Daß uns ein Unglück bevorstehen soll, ist einfach lächerlich. Wer, hat er gesagt, sollte denn so wahnsinnig sein, einen neuen Krieg anzufangen? Der Krieg, den wir hinter uns haben, war schrecklich genug.
3
Jetzt haben wir schon Frühling und ich sitze auf einem Fensterbrett der Wohnung, in der ich mit meinen Eltern wohne, und schaue in unsere Gasse hinunter. Von dem Nordlicht wird in der Stadt nur noch selten gesprochen.
Während ich daran denke, kommt mein Cousin Albert mit einer Wasserkanne vom Stadtplatz herauf, sieht mich auf dem Fensterbrett sitzen und stellt seine Kanne ab, um ein bißchen zu rasten und mit mir zu reden. Er ist zwei Jahre älter als ich und sehr gescheit und weiß immer etwas Neues zu berichten.
Das Schwimmbad wird schon ausgelassen, sagt er zum Beispiel jetzt.
Es wird nämlich das alte Wasser vom vergangenen Jahr abgelassen und das Becken gereinigt, so daß man es anschließend mit frischem, sauberem Bachwasser anfüllen kann. Weil der Bach nicht sehr viel Wasser hat, wird es einige Wochen dauern, bis das Becken wieder voll sein wird. Das ist eine angenehme Neuigkeit, denn jetzt weiß ich, daß der Sommer nicht mehr weit ist und daß wir bald wieder viel Zeit im Schwimmbad verbringen können. Im Winter ist das Wasser zugefroren und wir laufen Schlittschuh auf der einen Hälfte der Eisfläche, die andere Hälfte bleibt für die Gastwirte, die sich das Eis in großen Blöcken für ihre Getränkekeller holen.
Manchmal wird auch ein Loch in das Eis gehackt und der Herr Oberlehrer Wessely steigt, nur mit der Badehose bekleidet, in das fürchterlich kalte Wasser, taucht dreimal kurz unter und kommt mit roter Brust und rotem Bauch wieder heraus. Das ist jedesmal ein Ereignis, wenn wir gerade mit unseren Schlittschuhen dort sind, schauen wir ihm dabei zu. Der Herr Oberlehrer Wessely ist Mitglied beim Verein »Verkühle dich täglich« und behauptet, das Eintauchen in das eiskalte Wasser ist sehr gesund, er hat deshalb niemals Schnupfen und der Verein, sagt er, hat viele Mitglieder, die alle so gesund sind wie er. In unserer Stadt hat er aber nur eines, nämlich ihn.
In der Kanne, die der Albert auf dem Gehsteig abgestellt hat, ist das Trinkwasser für seine Familie. Häufig wird nämlich das Holen des Trinkwassers bei uns den jüngeren männlichen Familienmitgliedern übertragen, weil die erwachsenen Männer keine Zeit dazu haben.
Unser Trinkwasser bringt uns die Frau Bittmann täglich zweimal ins Haus. Sie trägt es in einer Holzbutte auf dem Rücken, und während sie es aus der Butte in den großen Behälter leert, der in der Küche steht, erzählt sie der Marschenka, was sich in den anderen Familien, denen sie auch Trinkwasser bringt, oder in den Familien ihrer Nachbarn und Bekannten an Bemerkenswertem ereignet hat. Auf diese Weise, sagt meine Mutter, werden die neuesten Nachrichten in unserer Stadt verbreitet, ohne daß man Zeitungen lesen oder das Radio aufdrehen muß.
Daß wir keine Wasserleitung haben, macht uns nichts aus. Zum Waschen der Wäsche nehmen wir das weiche Wasser, das bei Regen über die Dächer rinnt, sich in den Dachrinnen sammelt und dann in daruntergestellte Tonnen oder Fässer fließt. Wenn man sich die Haare damit wäscht, werden sie besonders weich und glänzend, weil dieses Wasser weniger Kalk enthält als das aus den Hausbrunnen. In Wien rinnt das Regenwasser von den Dächern gleich in den Kanal. Meine Mutter hält das für eine arge Verschwendung, so weich kann das berühmte Wiener Leitungswasser gar nicht sein, sagt sie, daß man es mit dem Regenwasser vergleichen könnte.
Mein Cousin Albert teilt mir also mit, daß das Schwimmbad schon ausgelassen wird, und wir freuen uns beide sehr darüber. Das Schwimmbad ist eine ungeheuer wichtige Sache für uns Kinder, ein Sommer ohne Schwimmbad wäre gar kein Sommer für uns. Wann es eröffnet wird, werden wir vom Herrn Stadttrommler Fritschka erfahren, der für die Verbreitung der amtlichen Nachrichten verantwortlich ist. Er geht von Zeit zu Zeit in einer dunkelblauen Uniform durch die Stadt, bleibt an genau festgelegten Stellen stehen, zieht zwei hölzerne Trommelstöcke aus einer Schlaufe am Ledergurt, der quer über seine Brust gespannt ist und an dem die Trommel hängt, und schlägt damit einen perfekten Trommelwirbel. Er tut das so lang, bis er sicher sein kann, daß die meisten Leute, die in den umliegenden Häusern wohnen, die Fenster geöffnet haben oder vor die Haustür getreten sind. Ist das zu seiner Zufriedenheit geschehen, steckt er die Stöcke wieder in die Schlaufe zurück, zieht ein Papier aus der Tasche, entfaltet es, streicht es glatt und liest mit lauter Stimme vor, was die Stadtgemeinde den Bürgern mitzuteilen hat. Alle Mitteilungen beginnen so: Es wird kundgetan, daß.
Eine Entschuldigung dafür, daß man nicht hat hören können, was der Stadttrommler mitzuteilen hatte, gibt es nicht. Der Herr Fritschka ist also, wie jedermann einsehen wird, einer der wichtigsten Leute in unserer Stadt.
Es wird kundgetan, so wird er in ein paar Wochen mit lauter Stimme mitteilen, daß das Schwimmbad am kommenden Samstag eröffnet wird! Wir Kinder werden dann auch offiziell wissen, daß der Sommer angefangen hat, ich werde schon am Tag der Eröffnung meinen Badeanzug nehmen, auf mein Rad steigen und ins Schwimmbad fahren, so schnell ich nur kann.
Wir reden noch ein bißchen, dann nimmt Albert seine Kanne wieder und geht weiter, denn bei ihm zu Hause wartet man schon auf ihn.
Im selben Stockwerk, in dem unsere Wohnung liegt, ist übrigens die Städtische Bücherei, dort hole ich mir regelmäßig die Bücher, in denen ich noch unter der Bettdecke weiterlese, nachdem meine Mutter abends ins Zimmer gekommen ist und das Licht abgedreht hat. Die Taschenlampe zum Lesen borgt mir die Marschenka.
Die Marschenka ist schon achtzehn Jahre alt und aus Klein Tarowitz oder, wie die Tschechen sagen, Tarowitschky. Man erreicht diesen Ort mit dem Fahrrad in etwa fünfzehn Minuten, wenn man tüchtig in die Pedale tritt und unterwegs keine Pausen einlegt, um im Frühling unter die Akaziensträucher zu kriechen, die am Straßenrand wuchern, und die hellblauen und weißen Veilchen zu sammeln, die dort wachsen, oder um später Kirschen zu pflücken, oder noch später, im Sommer, um ein paar Pfirsiche oder Marillen von fremden Bäumen zu essen, denn die von den eigenen Bäumen schmecken merkwürdiger Weise nicht so gut.
Wenn man kein Fahrrad hat und zu Fuß gehen muß, dauert es entsprechend länger, jedenfalls muß man sich rechts halten, wenn man unser Wohnhaus verläßt. Man geht oder fährt auf der Landstraße zwischen zwei Reihen von Kirschbäumen auf Klein Tarowitz oder Tarowitschky zu. Links steigen die Hügel zu den Weinbergen an, rechts ist das Land flach und in Feldstreifen unterteilt. Im Hintergrund sieht man das Bahnhofsgebäude der Lokalbahn, die man benützen muß, wenn man zum großen Bahnhof kommen will, der an der Hauptstrecke liegt.
Vor vielen Jahren haben sich die Bauern dagegen gewehrt, daß unsere Stadt direkt an der Hauptstrecke zu liegen kommt. Sie haben gemeint, daß der Wein und die Marillen und die Zwetschken vom Rauch der Lokomotiven vergiftet würden, und darum mußten die Eisenbahnschienen mehrere Kilometer weit von unserer Stadt entfernt verlegt werden. Zwischen diesen Eisenbahnschienen hat man den kleinen Schurl gefunden, damals war ich aber noch nicht geboren. Ganz allein ist er dort gesessen und hat dem Zug nachgeschaut, der ohne ihn nach Brünn weitergefahren ist, nie hat sich später jemand gemeldet, der ihn dort hingesetzt oder ihn dort vergessen hat.
Unsere Gemeinde hat den kleinen Buben dann als Waisenkind aufgenommen, und sie haben ihm den Namen Georg gegeben, aber alle haben ihn nur Schurl genannt. Schon als kleiner Bub hat er bei verschiedenen Bauern auf den Feldern helfen dürfen und sich so sein Essen verdient, und ein größerer Bauer hat ihm erlaubt, in einer Kammer neben dem Kuhstall zu schlafen. Leider hat sich herausgestellt, daß er nicht ganz richtig im Kopf ist, in die Schule hat man ihn also nicht schicken können. Lesen und Schreiben hätte er aber, so heißt es, ohnehin nie erlernt. Die Marschenka sagt aber, daß man das nicht so genau wissen kann.
Vielleicht, sagt die Marschenka, hätte der Schurl mit der Zeit besser denken gelernt, wenn sich jemand mit ihm nur ein bißchen abgegeben hätte, dazu hat aber niemand die Zeit gehabt. Jetzt, da er erwachsen ist, ist es dazu auf jeden Fall schon zu spät. Aber, sagt sie, ich soll mir keine Sorgen deswegen machen, dem Schurl geht nichts ab, er hat alles, was er braucht.
Weil also der große Bahnhof, auf dem die Züge halten, nicht direkt in unserer Stadt liegt, muß man, wenn man verreisen will, mit der Lokalbahn dorthin fahren.
Wir haben aber wenigstens diese Lokalbahn, in den umliegenden Dörfern wie Tarowitschky gibt es so etwas nicht. Wenn die Leute, die dort leben, verreisen wollen, müssen sie zu Fuß zum Bahnhof gehen oder mit dem Fahrrad oder mit dem Pferdewagen dorthin fahren.
In Tarowitschky sind die Häuser nicht so langweilig weiß oder gelblich gestrichen wie in den anderen Dörfern, sie sind rosarot oder himmelblau, und manche haben waschblau gefärbte Sockel. Typisch böhmisch, sagen die Leute, denn in diesen Häusern wohnen nur tschechisch sprechende Familien, und böhmisch bedeutet bei uns so viel wie tschechisch, obwohl die Leute hier ja gar keine Böhmen sondern Mährer sind. Das ist, wie jedermann zugeben wird, ein bißchen kompliziert, für mich ist es aber normal.
Ich bin mit dem Fahrrad immer nur bis zu den ersten Häusern von Tarowitschky gefahren, weiter hinein habe ich mich, weil ich dort ja niemanden kenne, nur mit der Marschenka getraut.
Öfter bin ich in Groß Tarowitz. Um dorthin zu kommen, wendet man sich, hat man unser Wohnhaus verlassen, nach links, saust, wenn man ein Fahrrad hat, über den steilen Stadtplatz hinunter, biegt, wenn man ohne einen Stern zu reißen und sich die Knie blutig zu schlagen am unteren Ende angekommen ist, scharf nach rechts und radelt dann, in noch beschleunigter Fahrt, am neu erbauten Tschechischen Gymnasium und am Schwimmbad vorbei, zwischen Kukuruz-, Rüben- und Getreidefeldern, hügelauf, hügelab, bis zur Abzweigung, die nach Groß Tarowitz führt. In diesem Dorf leben nur Deutsche, es hat keinen tschechischen Namen, ich habe jedenfalls nie einen gehört.
Groß Tarowitz ist zu Fuß in etwas mehr als einer dreiviertel Stunde zu erreichen, viele Kinder, die in die Hauptschule oder in die Realschule gehen, legen diese Strecke täglich zweimal zurück, weil es in Groß Tarowitz keine Hauptschule und keine Realschule gibt.
Ich muß, wenn ich nach Groß Tarowitz will, nicht zu Fuß gehen, da ich ja seit einigen Monaten ein Fahrrad besitze, meine Eltern haben es mir nach der Mandeloperation geschenkt.