Loe raamatut: «DSA: Die Löwin von Neetha Sammelband»
Impressum
Ulisses Spiele
Band: US25745
Titelbild: Florian Häckh
Karten: Marek Statelov
Bearbeitung der Neuauflage: Frauke Forster
Umschlaggestaltung und Illustrationen:
Steffen Brand, Nadine Schäkel, Patrick Soeder
Layout und Satz: Nadine Hoffmann, Michael Mingers
Administration: Christian Elsässer, Cora Elsässer, Carsten Moos, Sven Paff, Stefanie Peuser, Marlies Plötz, Markus Plötz Marketing: Philipp Jerulank, Björn Meyer, Katharina Wagner, Wolfgang G. Wettach Ulisses Digital: Alina Conard, Nico Dreßen, Thomas Engelbert, Nele Klumpe, Julia Metzger, Phillip Nuss, Maximilian Thiele, Jan Wagner, Carina Wittrin, Kai Woitczyk Verlag: Zoe Adamietz, Jörn Aust, Mirko Bader, Steffen Brand, Bill Bridges, Timothy Brown, Simon Burandt, Carlos Dias, Christiane Ebrecht, Frauke Forster, Christof Grobelski, Kai Großkordt, Darrell Hayhurst, Nikolai Hoch, Nadine Hoffmann, Johannes Kaub, Christian Lonsing, Matthias Lück, Susanne Majewski, Thomas Michalski, Elisabeth Raasch, Nadine Schäkel, Maik Schmidt, Ulrich-Alexander Schmidt, Nils Schürmann, Eric Simon, Alex Spohr, Ross Watson Vertrieb: Jan Hulverscheidt, Anke Kühn, Thomas Schwertfeger, Stefan Tannert, Nils Herzmann
Originalausgabe: Copyright © 1995 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München und Schmidt Spiele + Freizeit GmbH, Eching
Copyright © 2021 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems. DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN, UTHURIA und THE DARK EYE sind eingetragene Marken der Ulisses Spiele GmbH, Waldems.
Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.
Ina Kramer
Die Löwin
von Neetha
Das Leben der heiligen Thalionmel erzählt von einem Freunde
Ein Roman in der Welt von
Das Schwarze Auge©
Überarbeitete Neuauflage
Den Freunden gewidmet, die mich unterstützt und
mir Mut gemacht haben
Ein Wort zur Neuauflage
Mit Die Löwin von Neetha präsentieren wir euch eine inhaltlich größtenteils unveränderte Neuauflage der Romane Die Löwin von Neetha und Thalionmels Opfer, die erstmals im Jahr 1995 veröffentlicht wurden.
Für diese Neuauflage haben wir die alte deutsche Rechtschreibung beibehalten, aber auch kleinere Anpassungen einiger Begrifflichkeiten vorgenommen und einige Textstellen umformuliert oder gekürzt, damit sie sich besser für ein heutiges Publikum eignen. Bei der Lektüre mögen euch dennoch Details begegnen, die wir bei einem komplett neuen Roman anders umgesetzt oder gestrichen hätten. Wir haben diese Elemente als Teil des Textes belassen, um dem Geist des Originals treu zu bleiben.
Teil 1 - Thalionmels Jugend
Das Lied der Löwin von Neetha
Thalionmel – Wer ist Thalionmel?*
Thalionmel war eine Kriegerin,
Sie hielt unsre Brücke mit tapferem Sinn,
Sie hat uns gerettet, sie trägt die Kron,
Sie starb für uns, unsre Liebe ihr Lohn.
Thalionmel.
Einst hatte ein Bauer ein Töchterlein hold,
Die Augen so blau und die Haare wie Gold,
Gar schön von Gestalt und von aufrechter Art,
Eine bessere Maid nie gesehen ward.
Thalionmel.
Zu Neetha im Tempel der Löwin so kühn,
Dort sah man die Jungfrau beim Standbilde knien.
Der Göttin Gefallen erregte sie bald,
Denn stolz war ihr Sinn, hoch ihre Gestalt.
Thalionmel.
Rastullah, der Wüstendämon, voll Neid,
Mißgönnte Frau Rondra die mutige Maid,
»Vernichtet dies Weib und brennt nieder die Stadt«,
So befahl er im Grimme den Beni Novad.
Thalionmel.
Und der Wüstensöhne finsterer Hauf,
Zu Hunderten brachen gen Neetha sie auf,
Bedeckten das Land mit Feuer und Tod,
Getreu ihres grausamen Götzen Gebot.
Thalionmel.
Und als sie sich endlich Neetha genaht,
Da hatten gehalten sie blutige Mahd,
Und sie riefen voll Wut: »Nun soll fallen die Stadt,
Wie Rastullah, der Eine, geboten uns hat!«
Thalionmel.
Und die Bürger von Neetha, die fragten verzagt:
»Gibt es einen hier, der zu kämpfen wagt?«
Da rief Thalionmel: »Frau Rondra zur Ehr
Will aufhalten ich der Ungläub’gen Heer!«
Thalionmel.
Und sie hielt unsre Brücke, der Leuin gleich,
Und ihr blinkendes Schwert führte manchen Streich,
Und sie focht bis zum Abend mit Löwinnenmut,
Und der Chabab ward rot von der Feinde Blut.
Thalionmel.
Von Wunden bedeckt und von Pfeilen durchbohrt,
Focht sie bis zum Tode getreu ihrem Wort.
»Hilf, Herrin Rondra, und steh uns bei!«
So hallte zum Ufer ihr letzter Schrei.
Thalionmel.
Da machte Frau Rondra in göttlicher Wut
Das Wasser des Chabab zur reißenden Flut,
Die der Ungläub’gen Heerschar wohl mit sich nahm,
Und nicht einen gab es, der ihr entkam.
Thalionmel.
So ward Neetha gerettet nach Rondras Rat,
Und durch Ihrer Dienerin Opfertat,
Du blühende Blume, du Kriegerin hell,
Unsre Liebe dein Lohn, heil’ge Thalionmel.
*Dank sei dem irdischen Dichter Theodor Fontane, dessen Ballade vom tapferen Steuermann den aventurischen Poeten inspirierte.
Prolog
Nun, da ich das Ende nahen fühle und mir nicht mehr viel Zeit bleibt, will ich alles so aufschreiben, wie es sich wirklich zugetragen hat. Viele Jahre war ich in ihrer Nähe, viel näher vielleicht, als sie je vermutete, und ich glaube, sagen zu dürfen: Ich habe sie wirklich gekannt. Auch bei ihrem Opfergang war ich zugegen, nicht auf der Brücke – natürlich nicht! – und auch nicht unmittelbar dahinter. Aber ich sah sie, konnte den Blick nicht abwenden von diesem Bild, so gleißend schön und grauenhaft. Damals, als alles vorüber war, da wünschte ich mir in meinem erstorbenen Herzen, die Pfeile der Ungläubigen hätten auch mich durchbohrt, und die Flutwelle hätte auch mich hinfortgespült. Ja, so empfindet man wohl, wenn man zwanzig ist. Nun bin ich zweiundneunzig und fühle: Alles ist vollbracht, und die hitzige Jugend mit ihren Hoffnungen, Sehnsüchten und Leidenschaften ist fern und fremd und kaum mehr Teil meiner selbst. Alles noch einmal heraufzubeschwören, das wird nicht einfach werden, denn meine Seele ist die eines alten Mannes, der sich nach Ruhe sehnt – der Ruhe in Borons Schlafgemach.
Wie wird der Übergang sein? Ob es ein Kampf wird? O nein, ich mag nicht mehr kämpfen. Ich bin des Kämpfens müde, will schlafen, schlafen, schlafen …
Doch muß ich dies Werk noch vollbringen, bevor ich mich zur Ruhe legen kann, denn wer wird es tun, wenn nicht ich? Wer kann es tun? Vielleicht bin ich der einzige Überlebende aus jener fernen Zeit, der einzige Augenzeuge ihrer großen Tat und mancher ihrer geringeren, der einzige, der ihre Geschichte kennt.
Vergib mir, Harika, geliebtes Weib, getreue Gefährtin so vieler Jahre, daß ich nicht über dich schreibe, die du doch auch eine Heldin warst und ebensowenig eine Heilige wie sie. Hast du nicht unter Schmerzen fünf Kinder zur Welt gebracht, sie unter Entbehrungen aufgezogen, sie ohne Murren und Wehklagen in die Welt entlassen, damit sie dort umkommen …
Doch weder von dir soll ich schreiben noch von mir, denn unser Lebensweg war so, wie viele unsere Leben sind, so einzigartig sie uns auch erscheinen mochten: Unsere Freuden waren gewöhnlich, unsere Leiden gering und unsere Opfer ohne Belang. Und keiner der Zwölf hat je auf uns geschaut oder nach uns gerufen. Wir mußten – oder durften – nicht Werkzeug der Götter sein, waren nicht Teil eines göttlichen Planes und konnten viele lange Jahre auf Deres Antlitz wandeln, ich um so viele Jahre mehr als du, wie mein Alter betrug, als sie fiel. Aber vielleicht war auch das Teil eines göttlichen Planes …
Welch seltsame Berechnungen und Gedanken. Oh, Hesinde, vergib mir meine greisenhafte Geschwätzigkeit! Verhüte, daß ich mich hinreißen lasse, mein Leben zu erzählen statt ihres!
Was war ich wohl für sie, was habe ich ihr bedeutet? Das habe ich mich oft gefragt. War ich ihr Seelenfreund, ihr Vertrauter? Ach, ich glaube, sie hat in mir nie mehr gesehen als einen dummen Bub, dem man sich getrost öffnen und bei dem man das Herz erleichtern mag, ohne Rat zu erwarten oder sich eine Blöße zu geben, so wie man wohl zu einem freundlichen Hund über seine Nöte und seinen Kummer spricht. Und doch bewahre ich jedes ihrer Worte in meinem Herzen wie einen Schatz, denn ich habe sie geliebt.
Als ich sie das erste Mal sah – ich war zehn damals und sie elf –, da wußte ich, daß ich sie liebe und daß diese Liebe niemals erwidert werden würde. Dabei war sie gar nicht so schön, wie uns die Legenden und Balladen weismachen wollen, und auch nicht immer so tapfer. Was rede ich, natürlich war sie schön – groß, schlank und hell –, nur eben nicht so schön wie auf dem Wandbild im Ratssaal zu Neetha. Dazu war ihre Nase ein wenig zu spitz, und ihre Augen standen ein wenig zu dicht beieinander. Oh, diese wunderbaren Augen! Hellblau wie der Morgenhimmel an einem kalten Herbsttag und mit goldenen Lichtern darin. Und wie sie einen anschaute – so aufmerksam und eindringlich, als wolle sie auf den Grund der Seele blicken. Wahrscheinlich war es nur eine Angewohnheit und hatte nichts zu bedeuten. Meine Seele wollte sie gewißlich nicht ergründen.
Ja, die Legenden und Balladen, ›Das Lied der Löwin von Neetha‹, diese Unsäglichkeit in Reimen! Warum erzählen Lieder nie die Wahrheit? Weder war sie ein Bauernkind – oder doch nur insoweit, wie man einen Gutsherrn einen Bauern nennen mag –, noch war sie eine Jungfrau. Sie war eine Frau, schon damals, als ich ihr zum zweitenmal begegnete. Doch was tut es zur Sache? Schmälert es ihre Tat? Wird ihr Opfer geringer dadurch? Und sie war auch keine ›eben erblühte Blume‹, oder wie auch immer es in dem Machwerk heißen mag. Als sie ihr Leben hingab, um Neetha zu retten, da war sie eine erfahrene Kriegerin von einundzwanzig Jahren.
Wer ich bin, willst du wissen, lieber Leser? Ich bin ein Nichts ohne Namen, ein fortgelaufener Praiosschüler, ein kleiner Schreiberling, ein unbedeutender Kalligraph. Aber vielleicht bin ja auch ich Teil eines Planes und der göttlichen Fügung. Vielleicht hat sie mir nur deshalb ihr Leben erzählt, mir ihr Herz offenbart und mich in ihrer Nähe geduldet, damit ich dermaleinst niederschreibe, was ich sah und hörte. Und vielleicht bin ich nur deshalb Schreiber geworden, damit ich es auch niederschreiben kann.
Doch nun will ich mein Werk beginnen, denn viel Zeit bleibt mir nicht, es zu vollenden.
Das erste Mal traf ich sie zur Praiosstunde im Tsamond am Hafen von Neetha. Das zweite Mal begegnete ich ihr in einer stinkenden Gasse in Eldoret. Ihr Leben währte damals dreizehn Götterläufe und sechs Monde. Und es begann in einer stürmischen Firunsnacht in einem Gutshaus nahe Neetha: Das Leben der heiligen Thalionmel.
1. Kapitel
Der Firun war ungewöhnlich hart in diesem Jahr: Seit Wochen schon blies der Beleman unverändert heftig von Efferd her, zerrte am Schilf der Dächer, drückte Bäume und Sträucher zu Boden, zauste das struppige Winterfell der genügsamen Brelak-Ziegen, trieb eisige Gischtfetzen durch die Hafengassen von Neetha und verbarg Praios’ Antlitz hinter grauen Wolkenbahnen, die wie ein endloser Zug von Himmelsreitern vom Meer zu den Eternen flogen. »Sie tändeln wieder«, sagten die Leute mit besorgtem Blick und machten sogleich das Zeichen gegen Lästerung – ein kurzes Wedeln der Rechten vor dem Mund – damit die Worte verwehten und die Götter nicht wüßten, wer sie gesprochen hatte, auf daß Ihr Zorn den Lästerer nicht treffe. Doch war es mehr eine gut geübte und fast gedankenlose Geste – so wie man die Mütze zieht vor einer Edelfrau oder einem Edelmann und ›Praios zum Gruße‹ murmelt – als wirkliche Sorge vor dem göttlichen Zorn; schließlich wußte jedes Kind, daß der Herr Efferd wieder einmal um die stolze Frau Rondra warb, wenn er die Meere aufwühlte und Stürme über Land und Wasser trieb, und alle wünschten insgeheim, die kühne Löwin möge das Werben ihres göttlichen Freiers recht bald erhören, damit Er in seiner Liebesraserei nicht Unglück über die Menschen bringe.
»Ein böses Vorzeichen«, sagte Hilgert und kniff die Augen zusammen, als könne er so die grauen Schwaden besser durchdringen, die die nahen Hügelkuppen verhüllten.
»Schämt Euch, Alter, wie könnt Ihr so reden«, erwiderte Damilla aufrichtig empört, »die Frau liegt in den Wehen, und jeden Moment kann sie niederkommen, und Ihr faselt von schlechten Omen.« Die dralle junge Magd war um Feuerholz für die Wochenstube geschickt worden; im Hof hatte sie den alten Stallmeister getroffen, der dort mit gespreizten Beinen und in die Seiten gestemmten Armen aufrecht dem Sturme trotzte und unverwandt nach Osten blickte. Der Wind zerrte an seiner schweren Jacke, zauste sein langes graues Haar und blies ihm die Strähnen vors Gesicht, so daß er immer wieder unwirsch den Kopf schüttelte, um den Blick zu befreien, obwohl es nach Damillas Ansicht dort, wohin er so verbissen starrte, auch nichts anderes zu sehen gab als ringsumher: treibende Wolken und Nebelfetzen, schwankende Bäume und wirbelndes Laub, Staub und Unrat, die der Sturm vor sich her trieb. Das Mädchen hatte Mühe, die Scheite, die unter dem Vordach des Pferdestalles ordentlich gestapelt lagen, in ihre Kiepe und den großen Henkelkorb zu schichten, denn immer wieder versuchte der Wind, ihr die noch unbeschwerten Körbe zu entreißen. Auch war sie ängstlich darauf bedacht, ihre Röcke zu raffen und zwischen die Schenkel zu klemmen, damit kein Windstoß sie unschicklich entblößte. Ärgerlich und hastig raffte sie die Scheite zusammen, während der Wind mit ihrem langen Zopf spielte und ihn zu lösen begann. »Was schaut Ihr nur immer nach Osten«, rief sie, »dort ist doch nichts! Nach Westen solltet Ihr blicken und für die armen Fischer und Seefahrer beten, damit Efferd sie verschont.«
»Es ist ein böses Vorzeichen«, beharrte Hilgert, »siebenundzwanzig Tage lang hat er noch nie gewütet, so lange ich lebe nicht. Das ist nicht der Beleman und auch nicht Efferds Leidenschaft …« Wieder warf er das Haar zurück und zog grimmig die buschigen dunklen Brauen zusammen.
»Was soll’s denn dann sein, wenn’s nicht der Beleman ist«, entgegnete Damilla patzig, »der Baltrir vielleicht, oder der Horoban oder der …« Sie überlegte, ob ihr noch weitere der sieben Winde einfallen wollten. »Na, jedenfalls bläst der Beleman doch immer im Firun, wenn er’s auch diesmal etwas arg treibt.«
»Du bist ein Kind, du verstehst nichts.« Hilgert starrte weiter in die Ferne. Mit seinen siebenundsechzig Jahren war er zwar der Älteste des freiherrlichen Gesindes, aber wäre nicht sein graues Haar gewesen, wohl niemand hätte ihm so viele Götterläufe zugemessen. Der Stallmeister war ein hochgewachsener, ungebeugter Mann von ernster, strenger Wesensart, der Geselligkeit, Trunk und Würfelspiel mied, wenig sprach und kaum jemals lachte, weswegen die meisten ihn Firutim nannten (sofern sie nicht einfach ›Alter‹ oder ›alter Mann‹ zu ihm sagten). Seine dunklen Brauen, die große gebogene Nase und die schwarzen Augen ließen vermuten, daß Tulamidenblut in seinen Adern floß und daß sein graues Haar einstmals schwarz gewesen war. »Dort drüben wird es geschehen, weit hinter den Eternen«, sprach er mehr zu sich selbst als zu dem Mädchen. »Unheil wird kommen und Umwälzung …«
»Umwälzung?« Damilla hielt fragend inne. »Was meint Ihr damit?«
»Ich weiß es nicht, Mädchen, ich weiß es nicht. Aber es wird aus der Wüste kommen, dorther, wohin die Geister eilen und wo die Elementare sich sammeln, um es zu verhindern … Doch zu spät, zu spät …«
»Habt Ihr getrunken? Das ist doch sonst nicht Eure Art, oder ist der Sturm Euch aufs Gemüt geschlagen, daß Ihr so redet?« Damilla beobachtete den alten Stallmeister ein wenig besorgt. »Warum geht Ihr nicht in Eure Stube, wärmt Euch ein wenig und betet für die Frau, daß Tsa es ihr leichtmachen möge. Und auch für das Kind, damit’s ein schöner und gesunder Knabe wird.« Sie packte die letzten Scheite in den Korb, griff nach den Riemen der Kiepe und zog sie über die Schultern. Dabei löste sich ihr Rock aus der Umklammerung der Schenkel, und ein kräftiger Windstoß hob ihn hoch bis über den Kopf. Die Kälte und der scharfe Wind trafen ihren unter den Gewändern nackten Körper so unvermittelt und fast schmerzhaft, daß die Magd einen lei-sen Schrei ausstieß. »Bei Efferd, was für ein garstiges Wetter! Und jetzt fängt es auch noch an zu regnen!« rief sie empört, während sie hastig und wenig erfolgreich versuchte, ihre Kleider zu ordnen. Sie blickte verstohlen zu Hilgert, um zu sehen, ob er ihr kleines Mißgeschick bemerkt hätte, doch der Alte stand da so ungerührt und trotzig wie zuvor. »Ich muß mich nun sputen«, sagte Damilla, »und auch Ihr solltet besser ins Haus gehen, alter Mann, und das Spintisieren sein lassen.« Sie packte den Korb und stapfte, den Kopf eingezogen und die Augen halb zugekniffen, eilig zum Gutshaus zurück.
»Das ist kein Regen, das ist Schnee«, vernahm sie Hilgerts Stimme hinter sich.
»Schnee?!« Fast hätte das Mädchen den Korb fallen gelassen. Ungläubig riß sie die Augen auf. Tatsächlich, dort im Lichtschein der Laterne sah sie winzige weiße Kristalle tanzen. Und von Westen her trieb der Sturm weitere Schwaden des weißen Gewirbels herüber. »Schnee, Schnee, sieh nur, Alter, es schneit! Das muß ich der Frau erzählen.« Damilla war so aufgeregt, daß sie Wind und Kälte vergaß und gebannt das seltene Naturereignis beobachtete.
»Ja, Schnee – Geister und Elementare sammeln sich in der Wüste. Mögen die Zwölfe geben, daß es nicht zu spät ist. Dem Mädchen jedoch droht keine Gefahr bislang – ich hoffe es zumindest …«
›Welchem Mädchen?‹ wollte Damilla fragen, doch als sie die Tür zur Küche aufgestoßen und sich schnaufend ihrer Last entledigt hatte, war die Frage vergessen. »Es schneit, es schneit!« rief sie den um das Feuer versammelten Mägden und Knechten zu.
Seit Stunden streifte Freiherr Durenald von Brelak rastlos durch die Räume seines Hauses. Wo immer er sich blicken ließ, wurde er von der Dienerschaft mit so zartfühlender Freundlichkeit begrüßt und mit so leiser Stimme und so mitleidsvollem Lächeln nach seinen Wünschen gefragt, daß er sich vorkam wie ein Schwerkranker. Dabei strotzte er vor Kraft und Gesundheit.
Durenald von Brelak war ein etwas untersetzter Mann Anfang der Dreißig. Braune Locken umrahmten eine breite Stirn, braun waren auch die Augen, in denen nicht selten ein schalkhaftes Lachen blitzte, und die glattgeschabten, etwas vollen Wangen und der erste Ansatz eines kleinen Bauches verliehen ihm das Aussehen eines Mannes, der mit sich und der Welt im Einklang lebt. Sein ausgeglichenes Temperament, seine Milde und Grundehrlichkeit und sein Ernst in allen geistlichen Belangen machten ihn zu einem beliebten und geachteten Herrn. Zwar hatte er in seiner Jugend, den Konventionen und Traditionen des hiesigen Landadels folgend, ein paar Jahre lang die Garnisonsschule zu Neetha besucht, hatte recht ordentlich das Fechten gelernt und ein wenig über die Kriegskunst erfahren, hatte den Rondrakult studiert und mit großem Ernst und voller Hingabe bei den Schwertfeiern im Tempel des Sieges die heiligen Lieder gesungen, doch galt seine wahre Liebe der gütigen Frau Peraine: Wenn der Herr von Brelak seine Ländereien inspizierte, den Boden prüfte, die Krume nachdenklich zwischen den Fingern zerrieb und zugleich voller Stolz und Sorge die Keimlinge der neuen Saat betrachtete, dann unterschied er sich nur durch den größeren Ernst seines Tuns und das bessere Tuch seiner Gewänder von seinen Bauern.
Die günstige Lage seines Gutes – zum Meer hin durch ausgedehnte Wälder vor den allzu rauhen Winden geschützt und von Nordosten her vom beständigen, auf der langen Reise jedoch von allem Sengenden befreiten heißen Lufthauch aus der Khôm gestreift, zugleich mit Efferds Gaben reich, doch nicht überreichlich gesegnet – erlaubte es dem Freiherrn, neben den üblichen Feldfrüchten wie Rüben, Flachs und Korn, die stets ausnehmend gut gerieten und reiche Ernten einbrachten, auch seltene Gemüse güldenländischen Ursprungs anzubauen, wie die rotwangige saftige Tomate und die längliche, gerippte süß-herbe Paprika, denn die wenigen Frostnächte des Jahres beschränkten sich auf den Firun, und zumeist konnte schon Ende Tsa mit der Aussaat begonnen werden.
Gut Brelak war noch nicht sehr lange in Familienbesitz. Durenalds Großvater waren die Ländereien in seinem achtundvierzigsten Jahre als Dank und Anerkennung für seine tätige und furchtlose Hilfe bei der Aufdeckung eines Komplottes gegen den Markgrafen von diesem als Lehen verliehen worden, wodurch der alte Robak vom landlosen Edlen zum Freiherrn aufstieg. Durenalds Mutter hatte das Gut von ihrem Vater geerbt, hatte das Lehen sorgfältig, aber ohne große Begeisterung gepflegt, hatte sich vermählt und Durenald das Leben geschenkt, hatte das Gutshaus im Arivorer Stil erbaut und war so still gestorben, wie sie gelebt hatte.
Das war vor zwölf Jahren gewesen, und seitdem war Durenald Herr über Brelak. Auf seiner ruhelosen Wanderung durch das Haus hatte der Freiherr nun das anheimelnd kleine warme Zimmer erreicht, das zum Spielen, Plaudern, Teetrinken und dergleichen diente und das Bibliothek genannt wurde – wegen des nicht allzu großen Bücherschrankes, in dem sich neben einigen geistlichen Büchern, ein paar Reiseberichten und Romanen, wenigen ausgewählten Werken über Kriegskunst, Staatskunst und Rechtskunde eine erkleckliche Anzahl Bände zu landwirtschaftlichen Themen befand. Achtlos nahm er ein Buch aus dem Schrank und begann darin zu blättern, während draußen der Sturm an den verschlossenen Fensterläden zerrte. Es war ein schön illuminiertes Brevier der Zwölfgöttlichen Unterweisungen, doch Durenald konnte sich weder auf den Text konzentrieren, noch entlockten ihm die zierlichen Malereien das ehrfürchtige Staunen, das er gewöhnlich empfand, wenn er sie betrachtete. Nein, er war nicht in der rechten Stimmung für eine fromme Lektüre, obwohl er doch im Augenblick nichts dringlicher brauchte als den Beistand der Götter. Viel lieber wäre er jetzt ausgeritten, doch das war nicht möglich, und er wünschte es sich auch nicht wirklich. Oder nach Holzhacken stand ihm der Sinn, doch das hatten die Knechte bereits besorgt. Ach Kusmine, liebes Herz, könnte ich doch bei dir sein und dir helfen, dachte er, aber natürlich war es ihm verboten, die Wochenstube zu betreten.
Vor zwei Tagen nach dem Mittagsmahl hatte sein Weib ihm zugeraunt: »Durenald, Liebster, ich glaube, nun ist es bald soweit.« Und seitdem war er nicht mehr zur Ruhe gekommen. Nicht, daß Kusmine nicht gut vorbereitet gewesen wäre, o nein, sie war eine umsichtige, vorausplanende Frau, und vor Wochen schon hatte sie sich mit der Hebamme aus dem Dorf besprochen, Unterredungen voller weiblicher Geheimnisse, bei denen seine Gegenwart unerwünscht gewesen war. Und auch nach einem Medicus aus Neetha war schon geschickt worden, denn schließlich handelte es sich um die Geburt eines edlen Kindes, und es machte einfach einen besseren Eindruck, sich nicht mit der guten Danja allein zu begnügen, die ihr Handwerk von ihrer Mutter erlernt hatte und den Bauernkindern aus Brelak auf die Welt verhalf, sondern ihr einen Studierten zur Seite zu stellen. Der junge Mann – Durenald war der Name entfallen, aber Kusmine hatte den fähigsten gewählt, dessen war er sich gewiß – wohnte nun schon seit fünf Praiosläufen in einem der Gästezimmer und wartete darauf, daß man ihn rief. Auch die Wochenstube war schon lange vorbereitet. Im Grunde gab es keinen Anlaß zur Sorge – Kusmine war eine gesunde Frau und viel stärker, als ihr schlanker Wuchs vermuten ließ, und die Schwangerschaft war reibungslos verlaufen, mit rosigen Wangen, einem bis zur Unförmigkeit schwellenden Leib und zum Schluß diesem seltsam verträumten und nach innen gerichteten Blick, den er so sehr liebte und so wenig verstand. »Wie bei einem achtzehnjährigen Ding«, hatte Danja ihm strahlend mitgeteilt, und wäre er nicht der Herr gewesen, sie hätte ihn gewiß in die Seite geknufft, denn schließlich war die Herrin schon dreißig – ein Jahr jünger als er und vier Finger größer, fügte er in Gedanken hinzu.
Es war dieser ungewöhnlich hartnäckige Sturm, der ihn beunruhigte und der Kusmine nicht weniger Sorgen bereitete. Zwar hatten die Gatten, wenn sie Belanglosigkeiten über das Wetter tauschten, aus gegenseitiger Rücksichtnahme sich niemals ihre Befürchtungen eingestanden, doch kannten sie sich so gut, daß jeder um des anderen Sorgen wußte. Und dann die Schmerzen, die sie würde erleiden müssen… Heute morgen hatte er seine Frau zum letztenmal gesehen, als sie sich vor der Wochenstube feierlich von ihm verabschiedet hatte: »Leb wohl, mein lieber Mann, wir sehen uns wieder, wenn du Vater geworden bist. Bete für unser Kind und mich«, hatte sie gesagt, und dann, um die vierte Stunde nach Mittag, als der ohnehin schon dunkle Tag sich noch mehr verdunkelte, hatte er ihren ersten Schrei gehört, dem inzwischen weitere in immer geringeren Abständen gefolgt waren. Es lag ein grausamer Widersinn darin, daß die stolze und beherrschte Kusmine bei etwas so Alltäglichem wie einer Geburt mehr leiden mußte, als sie bei ihren wilden Schulgefechten, Mut- und Selbstbeherrschungsproben und ihrem einzigen Duell je gelitten hatte, und fast haßte Durenald das Kind dafür, daß es ihr solche Schmerzen bereitete.
Der Herr von Brelak erhob sich aus dem Sessel, auf dem er sich für einen Augenblick niedergelassen hatte, und stellte das Buch an seinen Platz zurück. Nein, er konnte jetzt nicht lesen, und auch das Beten war ihm unmöglich, obwohl er unablässig »Boron, verschone sie« und »Tsa, erbarme dich ihrer« vor sich hinmurmelte. Während er rastlos das Zimmer durchmaß und sich zwang, nicht voller Grauen des nächsten gräßlichen Schreis zu harren, beschwor er in seinem Geiste das Bild der Gemahlin. Er hatte Kusmine kennengelernt, als sie eben zwanzig war, doch wie sehr hatte er sich immer gewünscht, daß er ihr schon früher begegnet wäre. Zu gern hätte er das wilde blonde Mädchen gekannt und später dann die strahlende Absolventin der Vinsalter Akademie. Und wenn Durenald sich insgeheim eine Tochter wünschte, obwohl er seiner Frau einen Sohn wohl gönnte und auch oft und aufrichtig darum gebetet hatte, so deshalb, weil er dann eine kleine Kusmine heranwachsen sähe.
Kusmines Familie entstammte einem alten Adelsgeschlecht aus der Domäne Malur. Da die hohe Begabung der Tochter für die rondrianischen Fertigkeiten schon früh erkannt worden war, hatte man das Mädchen mit neun Jahren auf die Vinsalter Akademie der Kriegs- und Lebenskunst geschickt. Dort war sie zu einer stolzen jungen Frau herangewachsen, im Schwertkampf stets die Jahrgangsbeste, und hatte mit siebzehn Jahren ihr Abschlußexamen bestanden, mit Auszeichnungen nicht nur im Fechten, sondern auch in Etikette und rondrianischer Poesie. Ihre adelige alte Herkunft, ihr zu erwartendes, nicht eben unbedeutendes Erbteil, ihre vorzügliche Ausbildung und nicht zuletzt ihre Schönheit machten die junge Frau zu einer begehrten Partie bei den Adelshäusern des Reiches, und nicht wenige Freier warben um sie, so daß sie bald eine stattliche Sammlung von Miniaturen und Liebesbriefen in der Lade ihres Schreibtisches verwahrte. Doch bevor Kusmine ihre Wahl treffen konnte (da sie wußte, daß eine Liebesheirat eher unwahrscheinlich wäre, hatte sie sich vorgenommen, die Bewerber sorgsam zu prüfen, um einen ihr an Stand, Charakter und Gestalt ebenbürtigen Bräutigam zu finden), wurde die Familie von zwei furchtbaren Schicksalsschlägen heimgesucht: Vier Monde nach Kusmines glanzvollem Examen wurde ihr geliebter und verehrter älterer Bruder Roderick, Hauptmann bei den Kusliker Seesöldnern, von den Zorgan-Pocken dahingerafft, und kaum einen halben Götterlauf später stand die Familie am Rande des Ruins. Der alte Baron, aus Trauer um den Sohn halb umnachtet, hatte fast seine gesamte Habe in ein betrügerisches Unternehmen gesteckt, das hohe Gewinne abzuwerfen versprach – eine gepflasterte Straße durch die Khôm, die natürlich niemals gebaut wurde. An Heirat war nun nicht mehr zu denken, das verbot Kusmines Stolz. Und so begab die junge Frau sich in die Obhut ihrer Tante Melsine, die bei den Truppen der markgräflichen Garnison zu Neetha den Rang einer Hauptfrau bekleidete. Ihr ausgezeichnetes Zeugnis, ihr Stand und ihr sicheres Auftreten verschafften Kusmine sogleich eine Stellung als Weibelin, und da sie strebsam und diszipliniert war, hätte sie es gewiß zur Obristin gebracht, wäre sie nicht Durenald begegnet.
Sich an seine erste Begegnung mit Kusmine zu erinnern, bereitete Durenald immer eine besondere Freude. Es geschah in einer Hafengasse in Neetha. Dort erblickte er die junge Soldatin, als er nach einem ausgedehnten Mahl bei einem Geschäftsfreunde müßig durch die Stadt schlenderte. Sie führte einen kleinen Trupp Bewaffneter in den Uniformen der markgräflichen Gardisten, und ihre blinkende Brünne und der Federbusch auf ihrem Helm zeigten Durenald, daß sie den Rang einer Weibelin bekleidete. Zwar war der junge Freiherr nicht ganz unerfahren im Umgang mit dem anderen Geschlecht, doch eine so plötzlich aufwallende Leidenschaft – er war geneigt, es Liebeskrampf zu nennen – wie beim Anblick dieser Dame hatte ihn zuvor noch niemals heimgesucht. Waren es ihr hoher Wuchs, ihre helle Haut, ihre schlanke Gestalt, die von der Brünne nicht verunstaltet, sondern vielmehr rondragleich erhöht wurde, oder war es der kühne Blick ihrer blauen Augen unter den leicht zusammengezogenen Brauen, der dieses unerwartete Gefühl in ihm erweckte? Durenald wußte es nicht zu sagen. Er wußte nur, daß er die Weibelin unbedingt kennenlernen mußte, und der Abstand zwischen ihnen verringerte sich zusehends. So fiel ihm, als sie sich etwa auf gleicher Höhe befanden, nichts Besseres ein, als einen zierlichen Kratzfuß zu machen, das Barett zu ziehen und mit einem schalkhaften Lächeln die Worte zu sprechen: »Schönes Fräulein, darf ich Euch meinen Schutz und Geleit antragen?«