Loe raamatut: «Mich in meinem Leben finden»

Font:

Inge Patsch

Ein Wegweiser mit Impulsen von Viktor E. Frankl und Ignatius von Loyola


Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

2019

© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung: Roberto Baldissera, Agentur für Grafik, Innsbruck

Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag

Bildnachweis S. 97, 98, 139: Albrecht Klink, Berlin

www.albrecht-klink.de

ISBN 978-3-7022-3747-9 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-3748-6 (E-Book)

E-Mail: buchverlag@tyrolia.at

Internet: www.tyrolia-verlag.at

Inhalt

Vorwort

Am Anfang ist ein Mangel

Von der Sehnsucht nach Geborgenheit und dem Dilemma des Vergleichens

Ignatius von Loyola und Viktor E. Frankl – ein Dialog im Jenseits

Die Welt, in der wir leben

Wie das Streben nach Harmonie Menschen in die Enge treibt

Leben heißt zeigen, was du liebst

Das Leben in allen Dingen finden

Für mein inneres Wachstum bin ich verantwortlich

Nicht das viele Wissen sättigt die Seele

Die Kraft, die aus der Tiefe kommt

Vom Segen, der das Leben nährt

Den Bildern nicht mehr entsprechen

Ernsthaftigkeit belebt und bereichert

Das Selbstverständliche ist nicht selbstverständlich

Selbstbestimmt leben und die Realität respektieren

Was mich – wieder – leben lässt: mein Maß

Der Versuch, ohne Feindbilder zu leben

Von der Kunst der Unterscheidungen

Von der „Unterscheidung der Geister“

Gott und Leben in allem finden

Worauf schaue ich zurück und was gilt es zu beleben?

Am Ende bleibt Beziehung

Vorwort

Wegweiser dienen unserer Orientierung.

Wegweiser stehen uns zur Verfügung,

ohne sich aufzudrängen.

Wegweiser laufen uns nicht nach.

Wegweiser sind nicht ungehalten,

wenn wir sie nicht beachten.

Dieses Buch möchte als Wegweiser dienen und teilt Erfahrungen mit, die aufgrund der wegweisenden Gedanken von Viktor E. Frankl und Ignatius von Loyola entstanden sind. Sowohl für die Logotherapie als auch für die ignatianische Spiritualität gilt, dass mein Zugang kein wissenschaftlicher ist, sondern ein alltäglicher und praxisnaher. Bei dieser Begegnung geht es nicht um ein theoretisches Geschichtswissen, sondern um ein persönliches Berührtwerden.

Wir leben in einer Zeit, in der es für fast alle Lebenslagen Anweisungen gibt, und die „Apps“ vermehren sich rasend schnell. Die ständigen Kontrollfunktionen versprechen Erleichterung, doch gleichen sie eher einer Fremdbestimmung und stören unsere besonderen menschlichen Fähigkeiten wie Wahrnehmungsfähigkeit und Mitgefühl.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass ich aus den Lebensgeschichten von Menschen mehr gelernt habe als durch das exakte Befolgen diverser Lebensregeln. In diesem Buch werden Sie einige persönliche Geschichten von mir entdecken und vielleicht können Sie Ähnliches erfahren. Ich möchte Sie ermutigen, zu Ihrer Einmaligkeit durchzudringen und zu sich selbst und zu Ihrem Leben immer mehr Ja sagen zu können. Egal, wie unterschiedlich Herkunft, Veranlagungen sowie Charakter und Möglichkeiten von Bildung sein mögen: Das Einzige, was Ihnen niemand nehmen kann, ist, wie Sie Ihr Leben gestalten. Ganz im Erkennen dessen, dass wir selbst Baumeister unseres Lebens sind und aus den vorgefundenen Bausteinen ein gelungenes Werk schaffen.

Am Anfang ist ein Mangel

Am Anfang ist ein Mangel

ein Missverständnis

eine Meinungsverschiedenheit

und der Mangel hat einen Grund

einen guten Grund

die Sehnsucht nach Gemeinschaft

den Wunsch nach Gemeinsamkeit

das Verlangen Interessen zu teilen

Dann kommen Ratgeber und Gleichmacher

und Oberflächenfrager und Ruhestifter

was bleibt ist die Unruhe im Inneren

weil die Oberflächenfrager keine Fragen stellen

sie verteilen Besserwisserei und Rezepte

und die Ruhestifter wollen den Mangel vertreiben

doch der bleibt

Wir brauchen Schrittmacher

die uns ernst nehmen

wir brauchen Schrittmacher

die nicht verlangen

dass wir in ihre Fußstapfen treten

wir brauchen Schrittmacher

die uns mit Sinnvollem inspirieren

wir brauchen Schrittmacher

die uns ermutigen eigene Schritte zu gehen

auch wenn wir eine andere Richtung einschlagen

Am Anfang weist der Mangel auf etwas hin

wir können das Fehlende nicht benennen

uns fehlen Worte für das was fehlt

trotzdem öffnet dieser Mangel die Tür

zur Tiefe des Lebendigen

dort können Glücksmomente empfunden und erlebt werden

nur festhalten kann ich sie nicht

Von der Sehnsucht nach Geborgenheit und dem Dilemma des Vergleichens

Es hat sehr viel mit dem Empfinden von Geborgenheit zu tun, um mich in meinem Leben zu finden. Geborgenheit ist unmittelbar mit Lebensgewissheit verbunden. Diese wirkt unabhängig von Leistung, gilt auch losgelöst von Besitz und Macht. Lebensgewissheit und Geborgenheit können in dem Maße wachsen und gedeihen, in dem sich ein Mensch auf das Leben einlässt und sich berühren lässt. Sich auf das Leben einzulassen hat viel mit der persönlichen Sichtweise und den eigenen Vorstellungen zu tun, wie Leben zu sein hat.

Es gibt viele unterschiedliche Haltungen dem Leben gegenüber. Ich greife zwei heraus: Auf der einen Seite gibt es das Streben nach Sicherheit, aber es gilt sich auch mit der Tatsache anzufreunden, dass es keine Sicherheit gibt. Das Risiko mangelnder Sicherheit sollten wir bedenken und auch bejahen. Wir sind wie Akrobaten, die ohne Netz arbeiten. Viele Male fängt uns das Leben auf und irgendwann der Tod. Wer eine leise Ahnung hat von diesem Phänomen der Geborgenheit, erlebt immer wieder diese Gewissheit, innen heil zu bleiben, auch wenn es äußere Verletzungen gibt und die Bedingungen nicht ideal sind. Die Geborgenheit wohnt im Land der inneren Gewissheit. Leider gibt es keine Reisebeschreibung, wie man dorthin gelangt, aber es gibt Gedanken von Menschen, die zum Nachdenken anregen.

Etty Hillesum schrieb in ihren Tagebuchaufzeichnungen: „Ich gehe niemals und nirgendwo zugrunde. Ich werde immer eine Stunde für mich finden. Ich bleibe mir selbst ganz treu und werde weder resignieren noch mich zermürben lassen. Ich würde die Arbeit nicht durchhalten können, wenn ich nicht jeden Tag aus der großen Ruhe und Gelassenheit in mir Kraft schöpfen könnte.“1

Der Dirigent Nikolaus Harnoncourt hat mit seiner Art, in die Welt der Musik einzutauchen, Menschen begeistert. Er ist der Musik ein Leben lang treu geblieben und dadurch sich selbst. Auf die Frage, ob er etwas hat, das er dem Negativen entgegensetzen könnte, sagte er: „Eine unbegründete Hoffnung. Ich verstehe es selbst nicht. Ich sehe, wie das Schiff, in dem wir alle sitzen, in den Abgrund fährt, und ich habe die unbegründete Hoffnung, dass nichts passiert.“2

Es hängt von der jeweiligen Lebenssituation ab, ob sich ein Mensch berühren und inspirieren lässt, und von seiner Bereitschaft, Interesse und Lernfreude zu entfalten. Wir werden inspiriert, doch was dann folgen muss, ist Offenheit, persönliches Interesse und ein bewusstes Wahrnehmen. Wie wir äußere Eindrücke wahrnehmen und eigene Gedanken dazu entfalten, dafür sind wir selbst zuständig. Dem Verlauf der persönlichen Gedankenwelt auf die Spur zu kommen, macht uns empfindsam, stärkt unsere Eigenständigkeit und unsere Tatkraft. Denken allein überzeugt niemanden, nicht einmal uns selbst, und deshalb müssen wir vor allem Taten setzen, in denen man Sinn verwirklicht.

Trotzdem können Gedanken unsere Taten beflügeln oder lahm legen. Deshalb ist es sinnvoll, sich bewusst zu machen, welche Gedanken das Empfinden von Geborgenheit erschweren oder sogar verhindern:

•Das Leben als Wettbewerb sehen und siegen wollen

•Das Vergleichen mit anderen

•Der Anspruch, immer noch besser sein zu wollen

•Akribisch genaue Planung, ohne auf die Realität zu achten

•Schuldgefühle pflegen, die nichts mit tatsächlicher Schuld zu tun haben

•Ständige Bewertungen, Kommentare und Empörungen

Es gibt aber auch Gedanken, welche dieses Empfinden stärken:

•Sich begeistern und bestimmten Werten treu bleiben

•Mut zum Wagnis

•Dankbar sein für Gelegenheiten, die das Leben bietet

•Auf das Gelungene im eigenen Leben schauen

Mein Anliegen ist es, Menschen mit Gedanken zu inspirieren, die nicht alltäglich sind, doch sehr wohl unseren Alltag betreffen. Aus diesem Grund erzähle ich einige Geschichten, die ich persönlich erlebt habe. Dieses Erleben hat wenig zu tun mit dem, wie „es“ sein soll. Die „So-sollte-es-sein-Gedanken“ entsprechen unseren Vorstellungen, unseren Plänen und dem, was momentan in der Gesellschaft Gültigkeit hat. Das Leben aber fragt uns oft etwas völlig anderes.

Geschichte zur Inspiration

Als vom Tyrolia-Verlag die Anregung zu einem weiteren Buch kam, war ich erfreut und augenblicklich fiel mir ein, worüber ich schreiben wollte. Länger als die Logotherapie begleitet mich die Spiritualität des Ignatius von Loyola. Als ich die Ähnlichkeiten im Denken von Viktor E. Frankl und Ignatius von Loyola entdeckte, wollte ich diese Erfahrung mit anderen Menschen teilen. In der Zeit des Schreibens schenkte mir jemand das Buch „Die Kunst, sich selbst zu verstehen“ von Michael Bordt SJ. Je mehr ich in dieses Buch eintauchte, umso überzeugter wurde ich, dass es nicht sinnvoll sei, noch ein Buch zu diesem Thema zu schreiben. Ich war im Vergleichen gelandet, fand die Formulierungen von Michael Bordt genial und meine mehr als bescheiden. Ich informierte meine Lektorin und dachte, dass sich das geplante Buch nun erübrigen würde. Wir hatten ein gutes Gespräch und sie las mir aus dem Buch von Michael Bordt vor. „Dieses Buch ist streckenweise ein einziges Plagiat, und ich freue mich über jeden, der sich auf die Spurensuche bzw. Entdeckungsreise zu den Quellen begeben möchte.“3 Bis zu dieser Textstelle war ich noch nicht vorgedrungen gewesen. Erst jetzt verstand ich, wie bereichernd dieses Buch für mich war: Ich kann zu meiner Schreibweise und meinem Bemühen mutig Ja sagen.

Innere Spurensuche

Was löst das soeben Gelesene in mir aus?

Kenne ich Situationen, in denen ich mich mit anderen vergleiche?

Beflügelt oder behindert mich dieses Vergleichen?

Viktor E. Frankl und Ignatius von Loyola als Wegweiser



Bilder bzw. Symbole leisten einen wertvollen Beitrag für unsere Wahrnehmung und schärfen unsere Sichtweise. Deshalb verwende ich für die Gedanken von Viktor E. Frankl das Symbol der Brille. Sie hilft uns, klarer zu sehen, und dient als Kennzeichen für Frankl, der nicht nur die Logotherapie und Existenzanalyse begründet, sondern auch Brillen entworfen hat.

IHS – die ersten drei Buchstaben des griechischen Namens für Jesus –, werden bei den Jesuiten als Kurzform für Iesum Habemus Socium („Wir haben Jesus als Gefährten“) gedeutet. Ich verwende dieses Symbol für die Texte von Ignatius.

Das Vergleichen verführt mich entweder zur Überheblichkeit oder bringt mich in die Verzweiflung. Wenn ich mich bemühe, mein Bestes zu geben, kann ich aufs Vergleichen verzichten. Finde ich mich und das, was mir möglich ist, bin ich weder von der Zustimmung anderer abhängig noch von ihrer Ablehnung. Die große Herausforderung besteht darin, mich und mein Leben nicht ständig mit anderen zu vergleichen.

1Etty Hillesum, Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941–1943, übersetzt von Maria Csollány, herausgegeben von J. G. Gaarlandt, Reinbek bei Hamburg 1995, 157.

2Nikolaus Harnoncourt, „… es ging immer um Musik“. Eine Rückschau in Gesprächen, St. Pölten 2014, 122.

3Michael Bordt, Die Kunst, sich selbst zu verstehen. Den Weg ins eigene Leben finden. Ein philosophisches Plädoyer, München 2016, 191.

4Viktor E. Frankl, Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse, München 1987, 189.

5Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen. Übertragung und Erklärung von Adolf Haas, Freiburg i. Br. 1966, 29.

Ignatius von Loyola und Viktor E. Frankl – ein Dialog im Jenseits

Zwischen Ignatius von Loyola und Viktor E. Frankl liegen vierhundert Jahre und mich inspiriert das Zeitlose. Die Aktualität ihres jeweiligen Gedankengutes ist verblüffend und mich fasziniert die nüchterne Leidenschaft zum Leben, die bei beiden spürbar wird. Die ignatianische Spiritualität entdeckte ich, als ich auf der Suche nach der tieferen Bedeutung meines Lebens gewesen bin. Bald darauf zog mich die Logotherapie und Existenzanalyse von Viktor E. Frankl in ihren Bann. Während ich in die logotherapeutische Gedankenwelt eintauchte, fielen mir immer wieder Sätze ein, die ich bereits bei Ignatius gelesen hatte. Z. B. lese ich bei Viktor E. Frankl: „Das Gefühl kann viel feinfühliger sein als der Verstand scharfsinnig.“ Spontan fällt mir dazu die Aussage von Ignatius ein: „Nicht das Vielwissen sättigt die Seele und gibt ihr Befriedigung, sondern das innere Schauen und Verkosten der Dinge.“

Mein wesentliches Anliegen ist, nicht über ein anderes Gedankengut zu schreiben, sondern von seiner Resonanz und Wirkkraft in mir zu erzählen. In mir begegnen sich Ignatius von Loyola und Viktor E. Frankl schon lange und immer wieder. So kam mir die Idee von einer Annäherung der beiden im Jenseits und ich ließ sie miteinander ins Gespräch kommen.

Ignatius: Ich muss sagen, ich bin überrascht, dass fünfhundert Jahre nach meinem Tod noch jemand an mich und meine Schriften denkt. Es gab in dieser langen Zeit eine große Fülle von Philosophen und Theologen und einige haben außerordentlich viel zur seelischen Heilung der Menschen beigetragen.

Frankl: Verzeihen Sie, dass ich Sie unterbreche, doch mir geht es ähnlich. Obwohl ich vor etwas mehr als zwanzig Jahren verstorben bin, interessieren sich die Menschen noch immer für meine Sinnlehre. Allerdings wundert es mich nicht, dass man Sie nicht vergessen hat. Ihre Schriften sind zeitlos – so wie auch seit ewigen Zeiten die Menschen auf der Suche nach Gott sind. Sie haben die Gesellschaft Jesu gegründet und diese wird wohl die nächsten fünfhundert Jahre überdauern. Bereits zu meiner Zeit faszinierte mich Ihr Gedanke, dass nicht das viele Wissen die Seele befriedigt und sättigt, sondern das innere Schauen und Verkosten der Dinge.

Ignatius: Da gibt es wohl so etwas wie einen Gleichklang unserer Seelen. Mir fiel diese Ähnlichkeit auf, als ich in der Bibliothek des Universums Ihr Buch „Der unbewusste Gott“ gefunden habe. Von Ihnen stammt ja diese wunderbare Formulierung, dass das Gewissen ein Sinnorgan ist und dass es nicht nur darum geht, Wissen zu vermitteln, sondern das Gewissen zu verfeinern. Das ist eine schwierige Aufgabe und war schon im Mittelalter alles andere als einfach. Vor allem jene Menschen, die an der Macht waren, haben ihr Gewissen nicht verfeinert, sondern viel Unheil angerichtet.

Frankl: Gab es eigentlich eine Zeit, in der Machthaber kein Unheil angerichtet haben? Wie Sie wissen, habe ich die Schreckenszeit des Holocaust im 20. Jahrhundert erlebt und erlitten. Es grenzt ohnehin an ein Wunder, dass ich überlebt habe und nach meiner Befreiung aus dem Konzentrationslager ein halbes Jahrhundert in einem friedlichen Österreich leben und die ganze Welt bereisen konnte.

Ignatius: Ist es nicht so, dass Menschen Suchende sind? Ziemlich sicher verirren sich manche auf dieser Suche. Bei mir war das ähnlich. Nach einem Leben, das ausschließlich auf weltlichen Erfolg ausgerichtet war, bin ich mit Schriften in Berührung gekommen, die mein Denken verändert haben. Mein Lebensweg war entscheidend für das Entdecken und Entwickeln der Geistlichen Übungen. Wie haben Sie eigentlich Ihre Sinnlehre entdeckt?

Frankl: Erklären kann ich das gar nicht so genau, aber ich habe mich bereits in meiner Schulzeit mit dem Thema Sinn beschäftigt. Als mein Physikprofessor sagte, das Leben sei nichts als ein Oxydationsprozess, habe ich ihn gefragt, welchen Sinn dann das Leben habe. Würde ich es etwas übertrieben formulieren, war dieser Moment die Geburtsstunde der Logotherapie.

Was mich interessieren würde: In Ihren Schriften kommt immer wieder die Formulierung von der „Unterscheidung der Geister“ vor. Was meinen Sie damit und was führt Sie dazu?

Ignatius: Als ich aufgrund einer Beinverletzung längere Zeit liegen musste, staunte ich ziemlich über deutliche Unterschiede in meinem seelischen Empfinden. Beim Lesen von Rittergeschichten – heute würde man sie wohl als Krimis bezeichnen – spürte ich Langweile und Unzufriedenheit, außerdem wurde mir klar, dass mich diese Lektüre nicht bereichert, sondern nur ablenkt. Als ich dann begann, Geschichten von Heiligen zu lesen, belebten mich diese Gedanken und ich erlebte trotz meiner körperlichen Einschränkung tröstliche Stunden. Mit diesen seelischen Stimmungen habe ich mich lange beschäftigt und bin zur Einsicht gelangt, dass unsere Gedanken von drei Quellen genährt werden: von der eigenen Freiheit, von guten Gedanken, die ermutigen, und von bösen oder schlechten Gedanken, die Groll verursachen. Mittlerweile habe ich von einigen Hirnforschern gehört, dass sich das menschliche Gehirn so entwickelt, wie ein Mensch es benutzt. Heute werden ja nicht mehr sehr viele Menschen Heiligengeschichten lesen, aber es gibt eine Fülle von lesenswerten Biografien, welche das Gute im Menschen anregen und stärken können.

Frankl: Die Erkenntnisse der Hirnforschung hätte ich noch gerne erlebt, denn ich habe immer die Meinung vertreten, dass der Mensch ganz Mensch wird durch die Sache, die er zur seinen macht; wo er also aufhört, sich ständig selbst zu bespiegeln und zu fragen, ob er nicht zu kurz kommt. Der Mensch braucht etwas, das er mehr liebt als sich selbst; dabei kann es sich um einen anderen Menschen oder um eine gute Sache handeln. Wo ein Mensch sich hingibt, sich selbst vergisst, da wird er ganz er selbst.

Ignatius: Wie ist es dann bei Menschen, die sich einer bösen Sache widmen? Mit böse meine ich Menschen, die Freiheit rauben und Macht ausüben? Geht dann so ein Mensch in der bösen Sache auf?

Frankl: Sie haben vorhin als Ursprung unserer Gedanken die Freiheit erwähnt, sowohl gute als auch böse Gedanken zu denken. Ich habe Menschen erlebt, die waren überzeugt, Gutes zu tun, obwohl es offensichtlich böse war. Sie beriefen sich auf ihre Pflicht und hatten jede Form ihrer inneren Freiheit an die Machthaber der jeweiligen Zeit abgegeben. Im Alten Testament steht im Buch Exodus sinngemäß: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus der Gefangenschaft herausgeführt hat in ein Land voll Leben und Freiheit.“

Mit diesem Zitat versuche ich, Ihre Frage zu beantworten. Ich kann mir vorstellen, dass Handlanger des Bösen nichts von jener Freiheit wissen, die wir meinen, und daher denken sie auch nicht darüber nach, dass ihr Tun Menschen schadet. Hinweise auf das Böse werden diese Menschen nicht erreichen, obwohl sie dringend Nachhilfe in Skepsis nötig hätten. Allerdings bezweifle ich, ob diese Menschen so etwas wie innere Ruhe und Vertrauen ins Leben kennen. Die sehen doch in jedem, der nicht ihrer Meinung ist, einen Feind.

Ignatius: Mit Ihrer Antwort erinnern Sie mich an die unselige Zeit der Inquisition. Ich hatte mehrmals mit diesen ausschließlich von sich selbst überzeugten Kirchenvertretern zu tun, die jede Menschlichkeit vergessen hatten und natürlich auch Gott. Ein Jahr vor meinem Tod kam ein eifriger Verfechter der Inquisition auf den Papstthron, Paul IV. Er sperrte sogar Kardinäle, die dem Herrn und den Menschen dienten, in die Engelsburg. Es war grauenvoll und hat mich sehr bekümmert. Doch eines haben diese Fehlhaltungen von Menschen nie geschafft, mir meinen Glauben und die Liebe zu Christus zu nehmen. Die Kirche war nie frei von Spannungen und Missbrauch hat es zu allen Zeiten gegeben. Verständlich ist, dass sich Menschen auf der Erde nach einem Ort sehnen, wo himmlische Ordnung herrscht. Tragisch ist, dass gerade im Namen Christi viel Unrecht und sehr Schlimmes von Kirchenmännern geschehen ist. Ich nehme an, dass auch deshalb immer weniger Menschen bereit sind, zwischen Kirche und Gott zu unterscheiden. Vielleicht ist das nicht ganz richtig formuliert. Menschen machen sehr wohl einen Unterschied, sie wenden sich von der Kirche ab und teilweise fragwürdigen Heilsversprechen zu. Früher hat man Menschen mit Gott gedroht und heute besteht die versteckte Forderung aus einer genauen Handlungsweise, die einzuhalten ist, um glücklich zu sein. Zu viele sind bereit, zweifelhafte Empfehlungen zu befolgen, die auch noch Geld kosten. Meist stellt sich das Erhoffte nicht ein, aber die Sehnsucht des Menschen ist versucht, diese Folgen auszublenden.

Frankl: Ich stimme Ihnen gerne zu. Neben der groben Vernachlässigung religiöser Sehnsüchte auf der einen Seite gibt es auf der anderen fragwürdige Angebote. Dietrich Bonhoeffer, der leider das Konzentrationslager nicht überlebt hat, hat einen Aufsatz über die menschliche Dummheit geschrieben. Darin beschreibt er, dass wir gegen die Dummheit wehrlos sind. Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen. Dass der Dumme oft bockig ist, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass er nicht selbständig ist. Man spürt es geradezu im Gespräch mit ihm, dass man es gar nicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihn mächtig gewordenen Schlagworten und Parolen zu tun hat.

Ignatius: Hat nicht der deutsche Philosoph Immanuel Kant gesagt, dass der Mangel an Urteilskraft eigentlich das ist, was man Dummheit nennt, und dass einem solchen Gebrechen gar nicht abzuhelfen ist?

Frankl: Das war Kant und von ihm stammt auch der Hinweis, dass zwei Dinge ausreichen würden, ein Mensch zu sein: der gestirnte Himmel über mir und das Sittengesetz in mir. Also das Staunen über eine sternenklare Nacht und die Schönheit der Natur sowie eine innere Überzeugung, die ich mit Ehrfurcht vor dem Leben bezeichnen möchte.

Etwa zur gleichen Zeit wie Kant lebte Friedrich Schleiermacher. Er schrieb in einer berühmten Sammlung von Vorträgen „An die Gebildeten unter ihren Verächtern“: „Religion ist die Anschauung des Universums.“ Religion beginnt also mit der Erfahrung des Ganzen und hat zunächst nichts mit Gebräuchen und Ritualen zu tun. Darüber sagt Schleiermacher, dass Religion auf das Gefühl radikaler Abhängigkeit hinweist. Das bedeutet: Ich weiß um mich selbst, dass ich in jeder Hinsicht fragil, abhängig und verletzbar bin. Mir selbst war diese Abhängigkeit zu Lebzeiten sehr bewusst und deswegen habe ich immer wieder betont, dass wir uns hin und wieder mit dem Tod konfrontieren sollten. Denn die Tatsache der zeitlichen Begrenzung unseres Daseins ist der Ansporn, die Zeit und jede Stunde und jeden Tag zu nützen.

Ignatius: Ich möchte noch einmal zum Sittengesetz von Kant zurückkommen. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang für Sie das menschliche Gewissen?

Frankl: Vorausschicken möchte ich, dass ich davon überzeugt bin, dass jeder Mensch ein präreflexives Selbstverständnis auf diese Welt mitbringt. Also ein inneres Wissen, welches nicht erst durch ständiges Nachdenken und Reflektieren entstanden, sondern auf eine eigene Weise schon im Menschen angelegt ist. Es muss ihm nur bewusst werden, was er irgendwie ohnehin schon immer weiß. Für mich steht hinter dem Gewissen des Menschen das Du Gottes. Deshalb habe ich das Gewissen als Sinnorgan bezeichnet, als eine Art intuitiven Kompass, der mich und jeden Menschen – sofern er sich dafür interessiert – auf der persönlichen Suche nach Sinn leitet. Es steht außer Frage, dass das Gewissen gepflegt werden muss. Das gilt besonders in einem Zeitalter, in dem die Zehn Gebote für viele ihre Geltung zu verlieren scheinen. Gewissenspflege bedeutet, als Mensch hellhörig genug zu sein, um das Leben wahrzunehmen und auf die Fragen, die es uns stellt, menschlich zu antworten.

Ignatius: Sie haben eine hohe Meinung vom Menschen. Sie trauen ihm viel zu, aber Sie muten ihm auch viel zu. An meine Zeit der Zweifel und Skrupel, die mich auf meiner Pilgerschaft gequält haben, kann ich mich gut erinnern. Immer wieder plagte mich der Gedanke, ich hätte vergessen eine Sünde zu beichten. Da hätte es mich sehr entlastet, wenn ich Ihre Sichtweise früher gekannt hätte. Mich bringt man ständig mit der Unterscheidung der Geister in Verbindung, Sie sofort mit der Suche nach Sinn und mit der Trotzmacht des Geistes. So wie ich das verstanden habe, kann der Mensch stärker sein als das, was ihn kleinzumachen droht. Er kann sich sogar selbst entgegentreten, wenn ihn eine irreale Angst immer wieder daran hindert, etwas zu tun, was in seinen Augen wertvoll ist. Auf der Erde würde ich diese Fähigkeit besonders jenen wünschen, die ein bisschen zu viel Selbstmitleid haben. So wie ich Ihre Trotzmacht des Geistes verstanden habe, kann sich der Mensch von seinen Eigenheiten auch distanzieren.

Frankl: Ja, ich möchte sagen, dass ich auf diese Entdeckung ein wenig stolz bin. Inspiriert hat mich ein österreichischer Dichter, Johann Nestroy, ein Wiener so wie ich. Der hat in einem seiner Theaterstücke gesagt: „Jetzt bin ich neugierig, wer ist stärker: Ich oder ich?“ Da ich die Berge liebe, mich jedoch Höhenangst plagte, habe ich mich gefragt: „Bin ich stärker oder der Schweinehund in mir, der sich nicht zu klettern traut?“ Wichtig ist für mich zu erwähnen, dass der Wert, den die Bergwelt auf mich ausübte, groß genug war, um mich zu überwinden. Meine Leidenschaft für das Bergsteigen hat mir geholfen, mich von meiner Angst zu distanzieren. Jetzt haben wir aber ständig von mir gesprochen, dabei interessieren mich Ihre Geistlichen Übungen, Ihre Exerzitien sehr.

Ignatius: Nachdem wir beide in der Ewigkeit angekommen sind, haben wir ja noch ewig Zeit.

Mit den Exerzitien möchte ich Menschen vor allem zum Nachdenken über das eigene Leben anregen. Sie sind ein Übungsweg auf der Suche nach Gott, die aufgrund von Texten aus der Bibel Unterstützung erhalten. Im Wesentlichen geht es in den Exerzitien darum, die gegenwärtige Lebensphase ernst zu nehmen und die Liebesfähigkeit des Menschen zu stärken. Die Veränderungen der letzten fünfhundert Jahre haben dazu geführt, dass meine Nachfolger sehr kreative Ideen hatten. Auf diese Weise sind Schreibexerzitien, Filmexerzitien, Wanderexerzitien und vieles andere entstanden, um Menschen in ihrer jeweiligen Lebenssituation zu begleiten und ihnen ihr Leben zuzumuten, aber nicht abzunehmen. Worauf nach wie vor bei allen Exerzitien Wert gelegt wird, ist das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit und das persönliche Gespräch mit einem Begleiter oder einer Begleiterin. Letztlich geht es jedoch nicht um ein Leistenwollen, sondern um den Geist, in dem sich ein Mensch diesem geistlichen Übungsweg stellt. Es geht um die Offenheit, sich von Gott oder vom Leben beschenken zu lassen.

Frankl: Sie sprechen vom Geist, in dem sich ein Mensch auf den von Ihnen beschriebenen Übungsweg begibt. So wie ich das verstehe, geht es um die innere Einstellung, um die Bereitschaft, sich dem Glauben zu öffnen und sich auf die Stille einzulassen. Der Mensch hat entweder einen Glauben oder einen Aberglauben. Je weniger vom Geist die Rede ist, umso mehr wird von Geistern gesprochen.

Ignatius: Mir ist schon einige Male aufgefallen, dass Sie eine ganz besondere Fähigkeit haben zu formulieren. Von Ihnen stammt doch auch der Satz: Der Partner unserer tiefsten Selbstgespräche ist Gott. Das stimmt doch, oder?

Frankl: Ja, das stimmt. Wenn ich in letzter Einsamkeit schlimme Stunden verbracht habe, war mir so, als ob mir Gott zuhört. Ich persönlich mag das Wort Gott. Ich kann aber auch gut verstehen, dass dieser Begriff für manche Menschen – aufgrund ihrer Lebensgeschichte – belastet ist. Da ist es doch sehr sinnvoll, dass Dietrich Bonhoeffer die „guten Mächte“ ins Spiel gebracht hat.

Ignatius: Obwohl wir beide von gestern sind, haben wir ein großes Interesse für das, was heute auf der Welt geschieht. Ich bin gerne bereit, auf Begriffe, die Zwang ausüben, zu verzichten, und finde es großartig, welche Gedanken sich manche Menschen machen. Vor kurzem habe ich mit Tiziano Terzani gesprochen, dem Journalisten, der lange in Asien gelebt hat. Er hat das wunderbar formuliert und erwähnt auch den Sinn, der Ihnen so am Herzen liegt: „Nichts geschieht zufällig. Wenn wir hier sind, muss das einen Sinn haben. Zu sehen, welchen Grund jeder von uns hat, hier zu sein, und nachzuverfolgen, was uns hierhergeführt hat, ist eine wunderschöne Übung in Demut und ein Akt der Bewunderung für jene Intelligenz, die die Welt zusammenhält.“6

Frankl: Manchmal denke ich, dass wir viel Freiraum haben für all das, was wir mit dem Verlegenheitsnamen Gott bezeichnen. Übrigens, da fällt mir noch Václav Havel ein, der so viel für die Freiheit seiner Mitbürger riskiert hat. Er schrieb in einem Brief an seine Frau Olga: „Der wirkliche Glaube ist etwas unverhältnismäßig viel Tieferes und Geheimnisvolleres als irgendeine optimistische Emotion und hängt entschieden nicht davon ab, wie einem gerade Wirklichkeit erscheint.“7