Linda Haselwander

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Manchmal, wenn seine Kameraden jetzt zum Skatdreschen heraufkamen, übte Herrmann Haselwander grinsend den Hitlergruß. Das sah zackig aus und verursachte bei allen automatisch ein herzhaftes Lachen. Mensch, Herrmann! Weil sie den Krieg verloren hatten, galt das für verboten, aber diese Tatsache verweigerte sich dem Kopf. Nicht das Glück, das Schicksal sollte sie bestimmen. Irgendwie war es Herrmann Haselwander, als könne morgen schon wieder alles ganz anders sein. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, sagte er gerne. Die Abenteuerlust und eine hündische Gehorsamslust verließen ihn nicht. Dein Wunsch ist mir Befehl. Auf viele Frauen hatte er eine enorme Wirkung. Seit er hinkte, mußte er sich etwas mehr Mühe geben als zuvor, aber er wurde selten enttäuscht.

Vor dem Krieg war er ein ehrgeiziger Schifahrer, ein knochenharter Sportler gewesen, gnadenlos mit sich selbst. Seine Urkunden und Medaillen schmückten die Schreibstube. Es war doch gerade ein paar Jahre her, als er sich noch im Turnverein an Reck und Barren beweisen konnte. Jetzt bezog er Invalidenrente, und alle drei Jahre hätten sie ihm eine Kur bezahlt, wenn er für eine Kur Zeit gehabt hätte. Wenn der Schmerz, der ihn immer quälte, unerträglich wurde, trank er Schnaps. Manchmal phantasierte er, er müsse ein ganzes Volk begatten, reihenweise, er allein. Was er tatsächlich leistete, war nur ein Bruchteil von dem, was er hätte leisten können.

*

(1. Part)

Natürlich ist die Großmutter entsetzt, als Linda und ihr Vater mit dem Welpen nach Hause kommen. Sie schreit, den fahrt ihr sofort zurück. Ausgerechnet jetzt, wo die Schwiegertochter schon wieder ausfällt, ausgerechnet jetzt bringen sie zu allem Vergnügen noch einen Hund daher. Es ist Hochsommer. Der Stall, der Laden, die Fremdenzimmer, der Garten, die Wäsche. Zu ihrem Sohn sagt sie, ich glaube, jetzt bist du auch noch so verrückt geworden wie die. Das Viech kommt mir aus dem Haus. Lindas Augen gehen fort, aus der Küche hinaus, über die Landstraße bis ganz weit zum Meer, wo ihre Mutter in Erholung ist.

Plötzlich ist das Gesicht der Mutter dicht bei ihrem, sie kann den Atem spüren, ihre Mutter würde sie doch nie verlassen. Die Großmutter gibt ihr einen Stoß. Damit du wieder zu dir kommst, ich kenne dich ja nicht mehr, gerade hast du wie deine Mutter ausgesehen. Linda weint gleich. Das ist Betty, ich taufe sie Betty, Betty ist meine Schwester, sie ist mir das Liebste auf der Welt. Als sie Betty noch ein bißchen fester an sich drückt, pinkelt Betty los, daß es aus Lindas Rock auf den Küchenboden tropft. Der Vater grinst und verschwindet.

Die Großmutter läßt sich auf das Kanapee fallen. Fast ist es Linda, als weine die Großmutter auch, jedenfalls schnaubt sie heftig in ihr Taschentuch und sagt, ach Gott, ach Gott. Gleich hat Linda ein schlechtes Gewissen. Die Mutter schickt Ansichtskarten, vergiß deine Gebete nicht. Engeli chum, moch mi frumm. Sei schön brav, Linda. Obwohl Linda brav sein soll, plagt sie, bitte, bitte-bitte, Großmutter. Sie setzt das Hündchen auf den Boden und umarmt die Großmutter heftig, sie gibt ihr sogar einen Kuß. Schließlich richten sie zusammen für Betty im Stall ein Kinderzimmer ein. Linda schenkt Betty ihre Puppe mit den echten Haaren. Nachts schleicht sie sich aus dem Haus, was wegen der knarrenden Stufen ein Kunststück ist, und legt sich zu Betty ins Stroh. Von diesem Sommer an orientiert sich Linda mehr nach draußen. Zusammen mit Betty geht sie furchtlos durch den Wald bis zur Jägerhütte hinauf.

*

Ab Ostern 1960 ging Linda zur Schule. Fräulein Jadow, ihre Lehrerin, war früher BDM-Führerin gewesen. Sie hatte rote Haare und das ganze Gesicht voller Sommersprossen. Obwohl sie von drüben kam, wußte man im Dorf recht gut Bescheid über ihre Vergangenheit. Fräulein Jadow galt als streng, aber gerecht, bei ihr, hieß es, lernen die Kinder fürs Leben. Gerne bediente sie sich eines besonderen Rohrstockes. Mit den schlimm entarteten Fällen ging sie vor die Tür des Klassensaals, wo sie dann, ohne den Anstand zu verletzen, mit Ausdauer auf die nackten Hintern schlagen konnte. Vor allem bei bestimmten Jungens war das notwendig, sie lernten schlecht und liefen das ganze Jahr mit grünen Rotznasen herum. Es war ja ungeheuerlich, was für Zustände bei den Bauern teilweise noch herrschten. Da hatte nicht einmal jeder sein eigenes Bett, und die Hühner gackerten in der Küche herum.

Fräulein Jadow studierte nicht allein ihre Schüler, sondern auch deren Familienverhältnisse genau. Bei ihren Hausbesuchen entging ihr nichts. Herrmann Haselwander überreichte ihr zum Abschied persönlich und mit einem verschwörerischen Blick ein Kuchenpaket. Natürlich, Fräulein Jadow war ja nicht blind. Lindas Mutter, diese farblose Frau, konnte doch kaum dreißig sein und ging schon zögerlich und gebeugt. Sie hing übermäßig an ihrer Tochter, ein ganz typischer Fall, wo die Mutter in der Tochter kein selbständiges Wesen sieht, sondern nichts als die hoffnungsvolle Fortsetzung ihres eigenen, hoffnungslosen Lebens. Aber die Art der Kleinen gefiel Fräulein Jadow, Linda schlug wohl eher nach dem Vater und ließ sich glücklicherweise nicht zu stark von der verweichlichenden, überängstlichen Mutter beeinflussen.

Fräulein Jadow klatschte Beifall, als ihr Linda vorführte, wie sie die muntere Bernhardinerin allein mit dem Blick dirigieren konnte. Ein rascher Augenaufschlag, eine kurze Kopfbewegung, und die Hündin reagierte sofort. Linda ließ sie wie ein Pferd über Hindernisse springen und wie einen Tiger durch den Hula-Hoop. Seit sie im Fernsehen Zirkus Krone gesehen hatte, träumte sie davon, mit Betty dort aufzutreten. Weil Betty, wenn Linda nicht in ihrer Nähe war, unentwegt heulte, ließ man sie aus dem Stall und mit zur Schule laufen. Bei jedem Wetter wartete sie vor dem Tor des Pausenhofs, bis Linda herauskam. Im Winter war sie oft völlig zugeschneit.

Natürlich war Linda die Lieblingsschülerin von Fräulein Jadow. Wenn es mit dem Stricken nicht so klappte, wurde sie zu ihr in die Wohnung im alten Schulhaus bestellt. Fräulein Jadow hatte eine Menge Bücher und einen Plattenspieler, auch Betty ging gerne hin, denn sie bekam dort ein saftiges Stück Wurst.

Wenn sich Linda auf den Weg zu Fräulein Jadow machte, hieß es immer, ach, gehst du schon wieder zu der. Einmischungen von außen konnten sie keine vertragen, da waren sich die Mutter und die Großmutter einmal einig. Manchmal verlegten sie beim Aufräumen Fräulein Jadows Bücher, so daß Linda sie weder zu Ende lesen noch zurückbringen konnte. Linda litt unter der Eifersucht der Mutter, nie durfte sie eine Freundin haben. Aber die Besuche bei Fräulein Jadow erkämpfte sie sich unter Tränen. Der Sog von draußen wurde immer stärker. Oft träumte Linda davon, zusammen mit Betty oben in der Jägerhütte zu wohnen oder ganz fortzuwandern und nie wiederzukehren, sie hätte kein Heimweh bekommen.

*

Linda geht an einem hellen, kalten Februartag auf das alte Schulhaus zu. Es liegt noch viel Schnee, aber die Straßen und Wege sind geräumt. Von einem leichten Wind werden Flocken dahingetrieben, sie fallen und steigen, sie trudeln in der Sonne dahin wie Pappelsamen. In einem Stall stößt ein Bulle entsetzliche, hohe Schreie aus. Es riecht nach frischem Mist. Neben Linda trabt Betty, stolz, sie trägt in der Schnauze das Handarbeitskörbchen zu Fräulein Jadow, die sie gewiß belohnen wird. Es ist keine Schule, weil Fastnachtsdienstag ist, aber mit Fastnacht hat Lindas Familie nichts zu tun, außer daß der Vater dann Krapfen backt und mit Marmelade füllt. Er hat für Fräulein Jadow eine pralle Tüte davon mitgegeben. Linda muß aus rosa und hellblauer Baumwolle einen Waschlappen stricken, aber ihr Strickzeug ist klebrig, bretthart und voller verdrehter Maschen.

Das alte Schulhaus liegt über dem Bach auf der Winterseite, von weitem sieht es wie eine vernachlässigte Villa aus. Es wird in Lindas Leben einen wichtigen Platz einnehmen. Seit Jahren findet der Schulunterricht nicht mehr dort, sondern in einem neuen, größeren Gebäude am Ortsende statt. Die ehemaligen vier Klassenräume werden jetzt von Vereinen zu Versammlungen benutzt, auch der Kirchenchor probt gelegentlich darin, und im Saal gleich links unten ist provisorisch die von Fräulein Jadow betreute Bibliothek untergebracht.

Unter dem Dach befinden sich zwei Wohnungen für Lehrer, in der einen wohnt Fräulein Jadow, die andere steht leer, weil die Gemeinde ungewisse Pläne mit dem Haus hat, das gründlich renoviert werden müßte. Zu dem Gebäude gehört ein mit einer hohen, gelben Mauer umgebener Garten, der verwildert ist, dieselbe Mauer begrenzt auch den Schulhof, in dem noch das Nebengebäude mit den Plumpsklos für die Schüler steht.

Fräulein Jadow hat für Linda Kakao gekocht. Trotz des sonnigen Tages ist es in dem Wohnzimmer dämmrig. Fräulein Jadow sitzt mit dem Strickzeug dicht beim Fenster. Beim besten Willen ist da nichts mehr zu machen, sie zieht es vollständig auf und schlägt neue Maschen an.

Wie schön still es hier ist. Keine Ladenglocke, kein Telephon. Bei Fräulein Jadow kann Linda gemütlich und vornehm im Sessel sitzen, und niemand verlangt etwas von ihr. Nachdem sie den Kakao ausgetrunken hat, darf sie eine Schallplatte auflegen. Sie sucht die Musik nach der Hülle aus, die ihr am besten gefällt. Lange zögert sie zwischen einem bunten Operettenchor und einem weißhaarigen Mann, der an einen Flügel lehnt. Arthur Rubinstein. Schließlich ertönt das erste Klavierkonzert von Beethoven. Das ist Musik. Fräulein Jadow schließt die Augen. Leuchtend wie der Tag heute, sagt sie und freut sich, weil das Kind die Schuhe auszieht und anfängt, sich zu bewegen. Ein Kätzchen, das nicht weiß, was es tut.

Fräulein Jadow selbst spielt Geige, wären die Zeiten damals besser gewesen, hätte sie wahrscheinlich Musik studiert, anstatt auf das Lehrerseminar zu gehen. Schon lange wollte sie mit Lindas Vater reden, der vernünftig schien, sie würde ihm anbieten, Linda kostenlos Unterricht zu geben.

 

Musik wird Linda immer veranlassen, ihr Leben stärker zu lieben, heftiger zu wünschen, freudiger zu geben und sich zu verschwenden. Wenn ich groß bin, werde ich Tänzerin, sagt Linda mit Gewißheit zu Fräulein Jadow, die für den Waschlappen zuerst die hellblaue Wolle verarbeitet. Und immer wird Linda jemanden finden, der für sie zuständig ist und ihr hilft, und sie läßt sich helfen.

*

Der lieb Gott het zuem Früehlig gsait:

»Gang, deck im Würmli au sy Tisch!«

Druf het der Chriesbaum Blätter trait,

viil tausig Blätter, grüen un frisch.

Fräulein Jadow hatte keine Probleme, als sie die Kinder in ihrer vierten Klasse »Das Liedlein vom Kirschbaum« von Johann Peter Hebel lesen ließ. Sie benötigten die Fußnoten im Lesebuch nicht. Schier unmöglich war es jedoch für Fräulein Jadow, ihnen das beizubringen, was sie selbst für hochdeutsch hielt.

Der lieb Gott het zuem Winter gsait:

»Deck waidli zue, was übrig isch!«

Druf het der Winter Flocke gstreut,

viil tausig Flocke, wyß un frisch.

Bei Linda zu Hause wurde auch mit den oftmals ratlosen Feriengästen unbefangen Dialekt gesprochen. Erst durch das Radio und dann erst recht durch das Fernsehen fing die Familie an, sich vor Fremden ein wenig tölpelhaft zu fühlen mit ihren Wörtern. Manchmal, wenn sie sicher war, daß es niemand hörte, sprach Linda mit Betty wie die Fernsehansagerin, für die sie schwärmte. Und heute Abend zeigen wir Ihnen die klügste Hündin der Welt im Zirkus Krone bei ihren einmaligen Kunststücken. Wir wünschen Ihnen eine gute Unterhaltung. Auch durch den Einfluß des Lehrerehepaares aus dem Rheinland und durch Fräulein Jadow, die ihre Kindheit jedoch in Dresden verbracht hatte, wurde Linda schon früh so etwas wie zweisprachig. Sie verfügte zumindest über eine zweite, eine abgemilderte Version ihres Dialektes. Aber sie mußte Eisenschuhe tragen und hätte doch gerne getanzt. Wer anders sprach als sie, beeindruckte sie unwillkürlich und erschien ihr klüger, besser, gewandter, so daß sie manchmal mitten in einem Satz hilflos verstummte.

*

Keiner kann aus sich selbst heraus. Vielleicht ist es wirklich so: Wie einem ein bestimmter Körper mit all seinen Eigenschaften gehört, besitzt man auch einen bestimmten Charakter. Er ist der Panzer, der nach außen schützt und der zugleich unbeweglich macht. Man ist eingeklemmt zwischen Körper und Charakter. Linda konnte bezaubern, ein Machtgefühl beglückte sie, wenn sie spürte, daß sie andere für sich einnahm. Früh zeigte sich bei ihr eine Neigung, nicht eigentlich zur Theatralik, aber doch zu einer theatralischen Gestimmtheit. Sie hatte Distanz und war neugierig darauf, wie es weitergehen würde für sie.

Mit der Frage nach dem Sinn aller Dinge wurde Linda selbst ihre Erwartungshaltung zunehmend bewußter. Wer eine Sechs würfelt, darf alle anderen überholen. Sie dachte, ihr würde ein Lebensauftrag zugeteilt oder wenigstens ein Zeichen gegeben, dem sie dann zu folgen hätte. Oft konnte sie nicht einschlafen, und sie sinnierte darüber, mit welchem Menschen sie bald ihr Leben teilen würde. Nur durch eine Heirat könnte sie das Elternhaus verlassen. Früh sah sie ihre Kindheit als etwas an, das abgeschlossen war, sie wollte nicht mehr Kind sein, immer sehnte sie sich fort. Wo lebt er jetzt, wie sieht er aus. Was tut er eben in diesem Augenblick, wo ich das denke? Sie glaubte an ein Paradies auf Erden und wollte sich auf die Suche danach machen.

Nach den Osterferien, bevor Linda elf Jahre alt wurde, wechselte sie von der Volksschule zum Mädchengymnasium nach Bad Hohenbirch. Fräulein Jadow hatte sich dafür eingesetzt, und der Vater wurde nicht müde, nun von seiner »höheren Tochter« zu sprechen. Tagelang siezte er sie vor Begeisterung und fuhr sie morgens mit dem Auto zur Schule, denn wenn sie den Bus nahm, mußte sie schon um sechs Uhr aufstehen. Sie fing mit Latein an, und es war nicht so, daß ihr die Umstellung leicht fiel. Sie blieb während der ganzen Schulzeit eine mittelmäßige Schülerin, nur in Deutsch war sie immer die beste.

Im gleichen Sommer kündigte der Geselle unerwartet, und für Linda, die ihr Bett noch immer im Schlafzimmer bei den Eltern stehen hatte, wurde das Mansardenzimmer renoviert. Bald waren die Wände mit Holz verschalt und weiß gestrichen, eine elektrische Heizung eingebaut und ein blauer Teppichboden gelegt. Als Überraschung hatte die Großmutter weiße Chippendale-Möbel bestellt. Außer dem Bett und dem Schrank auch eine Spiegelkommode. Unter das Gaubenfenster wurde ein zierlicher Schreibtisch gestellt. Zur Einweihung brachte Fräulein Jadow einen Plattenspieler. Den stellte Linda auf die mit Schnitzereien verzierte Truhe, die vorher bei den alten Schränken auf dem Speicher gestanden hatte. Linda freute sich sehr. Am liebsten hätte sie das stille, warme Zimmer nicht mehr verlassen.

Malte

Malte Olson wurde 1952 in Bremen geboren. Seine Mutter war Organistin und Klavierlehrerin, sein Vater begann, nachdem er schon einige Zeit als technischer Zeichner gearbeitet hatte, ein Ingenieur-Studium. Malte hatte drei Geschwister. Carsten, den um zwei Jahre älteren Bruder, Caren, die um ein Jahr jüngere Schwester, und Marie, die 1963 geboren wurde. Bis zu ihrem Umzug in den Schwarzwald, wo der Vater dann Leiter einer Kunststoffabrik wurde, lebte die Familie ziemlich beengt in einer Mietwohnung.

Malte war ein bewegliches, lebensfrohes Kind. Für ihn gab es nur vollkommene Wachheit oder tiefen Schlaf. Er sang viel und laut und hüpfte und klatschte dazu im Rhythmus. Mit den Hausbesitzern in der darunter liegenden Wohnung gab es deshalb oft Ärger. Wenn er müde war, legte er sich irgendwohin und schlief sofort fest ein. Schon als Dreijähriger ging er nicht mit der ganzen Hand patschend auf das Klavier los, sondern drückte vorsichtig einzelne Tasten. Er lauschte, wie sich ein Ton ausdehnt und wie er nach und nach leiser wird, bis er ganz verklingt. Die Mutter freute sich darüber und spielte und sang oft mit ihm am Klavier. Carsten machte nicht mit, er wollte viel lieber ins Schwimmbad gehen, und Caren zog ihre Puppen vor.

Als Malte fünf Jahre alt war, gab ihm die Mutter regelmäßig Klavierunterricht. Sonntags durfte er beim Gottesdienst, den sie begleitete, neben ihr an der Orgel sitzen. Nie dauerte ihm das lang genug. Außer der Musikalität fielen an dem Jungen besonders seine leuchtenden blauen Augen auf. Sie blickten wach und interessiert und in gewisser Weise zärtlich. Jeder behandelte Malte mit Respekt und eher wie einen Erwachsenen. Undenkbar, daß man ihn in einen Kindergarten geschickt hätte. Im Halbschlaf hörte er oft wunderbare Klänge. Er spielte. Er allein, aber sein Instrument war nicht nur ein Klavier, sondern außerdem ein ganzes Orchester, und er sehnte sich danach, was er gehört hatte, aufzuschreiben. Neben der Musik war ihm alles andere nebensächlich. Bald sagte er, daß er Pianist werden wolle. Er las schon gerne in Biographien berühmter Musiker, und er hatte seine Vorbilder. Manchmal war es schwierig zu unterscheiden, was von ihm selbst kam und was er imitierte.

Mit acht Jahren beteiligte er sich zum ersten Mal an einem Wettbewerb am Konservatorium. Gleich bekam er den ersten Preis. Man wurde auf ihn aufmerksam, und er sollte im Theater mitmachen, als für ein modernes Stück ein Kind gesucht wurde, das auf der Bühne sicher Klavier spielen und Kraft und Konzentration eines frühreifen Genies darstellen konnte. Obwohl seine Mutter immer wieder betonte, sie halte nichts von Wunderkindallüren, ließ sie ihn mitmachen. Der Vater schüttelte nur den Kopf. Ihm wäre es lieber gewesen, daß Malte trotz seiner Begabung und seiner Neigung zum Extrem wie Caren und Carsten aufwuchs. Wurde in dem Jungen nicht ein Narr gezüchtet? Aber letzten Endes verstand der Vater ja nichts von Musik, und so schwieg er.

Auf dem Programmheft des Theaters war dann dieses Photo: Ein Junge mit einer Mozartperücke sitzt in einen engen Frack gezwängt vor einem Konzertflügel. Seine Füße stehen auf einem Schemel, denn sie würden noch nicht bis auf den Boden reichen. Wie zu einem wilden Akkord hat der Junge beide Hände erhoben. Alles auf dem Bild wirkt übertrieben. Aber tatsächlich war das Stück an jedem Abend ausverkauft. Maltes Spiel rührte die Menschen.

Nachdem Malte zehn Jahre alt war, verbrachte er die Sommerferien oft in Lübeck bei einer jüngeren Freundin seiner Mutter. Lioba Vengerowa wohnte außerhalb der Stadt in einem abgelegenen Haus, denn sie war Konzertpianistin und brauchte, wenn sie nicht auf Reisen war, einen Ort, an dem sie tun und lassen konnte, was sie wollte. Aus ihrer Meisterklasse waren oft Schülerinnen und Schüler bei ihr. Sie sah wie eine Balletteuse aus und hatte eine große Liebe zu allem Indischen. Meistens trug sie weite, bunte Gewänder, sie mochte nichts, das einengte. Bei ihr mußte endlich auf niemand Rücksicht genommen werden, bei Lioba Vengerowa durfte Malte auch nachmittags zwischen eins und drei und sogar mitten in der Nacht Klavier spielen. Sie ließ ihm viel Freiheit, sie vertraute seiner Begabung und seiner Disziplin. Er mußte keine Anweisungen und keine Fingersätze in seine Notenbücher schreiben. Nichts von: Tu dies, tu jenes. Über ihren heimlichen Grundsatz, nur wer das Unmögliche verlangt, kann das Bestmögliche erreichen, sprach Lioba Vengerowa selten, vor allem mit ihren besten Schülern hatte sie Geduld. Sie konnte warten.

Und Malte war mit sich selbst streng genug. Sein Ziel war das klare, ebenmäßige Spiel. Er war erst zufrieden, wenn jeder Ton scharf abgegrenzt vom anderen erklang. Manchmal war er penibler als seine Lehrerin. Im Haus von Lioba Vengerowa war es Maltes Gewohnheit, vormittags zwei Stunden lang aus dem wohltemperierten Klavier zu spielen. Danach konnte der Tag erst recht beginnen. Zwang er sich, ein Stück zu erarbeiten, das er nicht mochte, wurde ihm davon körperlich übel. Auf langen Spaziergängen analysierten sie alle Arten von Musik. Malte folgte seiner Lehrerin, die sich auch schon als Komponistin einen Namen gemacht hatte, in vielem. Sie beglückten einander mit ihrer Lust am Experimentieren. Skizzen, Improvisationen, glückliche Reminiszensen an das ganz Einfache, das doch so schwer zu machen ist. Wenn Lioba Vengerowa Chopin spielte, saß Malte stundenlang in sich versunken dabei. Ihr Spiel versetzte ihn in eine Abwesenheit, aus der er oft nur mühsam wieder zurückfand. Für ihn selbst blieb Chopin lange Zeit unspielbar, es war die Musik, die allein seiner verehrten und geliebten Lehrerin gehörte.

So wuchs Malte Olson auf.

Hermina

Hermina wurde 1921 als Hermina Kavkowá in Wien geboren. Ihre Mutter kam aus einer großbürgerlichen Wiener Familie. Ihr Vater stammte aus Prag, wo seine Eltern ein Galanteriewarengeschäft betrieben. Nähseide, Bänder, Knöpfe, Unterwäsche, Kinderkleider. Sie hatten gespart, um dem Sohn sein Mathematikstudium zu ermöglichen. Kurz vor Herminas Geburt war er zum Professor an der Universität berufen worden. Als Hermina drei Jahre alt war, bekam sie eine Schwester und ein Jahr darauf noch eine. Beide waren blond wie die Mutter. Nur Hermina hatte den dunklen Teint und die schwarzen Haare ihres Vaters geerbt. In der Familie hieß sie deshalb »’s Mohrlerl«.

Von klein auf neigte sie zu Phantastereien. Wenn sie in einer ihrer Erzählungen nicht weiter wußte, legte sie die linke Hand an den Hinterkopf und stemmte die rechte in die Hüfte. No geh scho, Mohrlerl. So stand sie dann eine Weile mit fest zugepreßten Augen da, als könne sie auf diese Weise ihre fortströmende Phantasie in den Kopf zurückrufen. Bei dem kleinen Mädchen wirkte das drollig, wie es dastand und sich besann, aber Hermina verlor diese Gewohnheit auch als Erwachsene nicht ganz.

Die Familie zählte zu den assimilierten Juden in Wien. Man hielt zwar noch an verschiedenen Gebräuchen fest, sie gingen an den Hohen Feiertagen zur Synagoge und fasteten an Jom Kippur, aber mit der Sabatruhe nahmen sie es nicht so genau, und sie hatten eine Köchin, die nicht koscher kochen konnte. Dennoch gab es einen gewissen Stolz darauf, Juden zu sein. Hermina hatte eine unbeschwerte Kindheit. Ihre Eltern waren unbekümmert und tolerant. Mit Problemen gaben sie sich nicht gerne ab. Ihr Haus stand jedem offen. Aber dann kam die furchtbare Zeit des Nationalsozialismus, die aller Sorglosigkeit ein Ende bereitete.

Trotzdem verlobte sich Hermina mit ihrer heimlichen Liebe, einem nichtjüdischen Deutschen. 1941 fiel er in Rußland. Hermina litt unsäglich. Als das Leben für die Juden in Wien immer schwieriger wurde, kam der Vater von einer Reise nach Frankreich nicht mehr zurück. Die Mutter meinte, für eine Frau mit drei Töchtern sei es doch gar nicht gefährlich. Aber Wien entledigte sich elegant seiner unnütz gewordenen Juden.

 

Nach der Flucht des Vaters wurde das Haus beschlagnahmt, und die vier Frauen mußten in ein enges Hinterzimmer ziehen. Die Vermieterin, eine energische Witwe, hatte ihren Mann im ersten Weltkrieg verloren. Sie hielt mit ihrer Meinung über das Nazipack, das nur Elend über alle brachte, nicht zurück. Hermina gab ihr eine Mappe mit Papieren, Briefen und Photos und legte schweren Herzens den Ring aus rötlichem Gold, den sie seit ihrer Verlobung getragen hatte, dazwischen. Durch ihre Phantasie war sie manchmal weitblickend. Tag und Nacht lebten die vier Frauen in der Angst davor, daß sie abgeholt würden. Längst getrauten sie sich nicht mehr auf die Straße. Obwohl Sommer war, litt die Mutter unter einem Husten, der sie dauernd nach Luft ringen ließ, sie konnte das Bett kaum noch verlassen. Als die Nazis schließlich vorfuhren, konnte auch die gewaltbereite Kriegerwitwe, die einen Schrank vor die Tür des Hinterzimmers gerückt hatte, um die vier Frauen zu verstecken, nichts ausrichten. Die tobende Horde schlug ihr in wenigen Minuten die Möbel zusammen und warf sie aus dem Fenster. Mit einem der letzten Judentransporte wurde Hermina zusammen mit ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern nach Theresienstadt verfrachtet. Das war im September 1942.

Die durch ihren Husten schon geschwächte Mutter starb kurz nach der Ankunft in Theresienstadt. Herminas Schwestern wurden aussortiert und nach Auschwitz weitergeschickt. Hermina bekam offenbar eine Frist. Viele Wochen verbrachte sie in Theresienstadt. Kapierte sie dort endlich, was es heißt, Jüdin zu sein? Im Winter dann wurde auch sie in einen der Viehwaggons gepfercht und nach Birkenau verfrachtet. Sie hoffte, dort doch ihre Schwestern oder ihren Vater wiederzusehen. Immer hielt sie Ausschau nach ihnen. Später erfuhr sie, daß zu der Zeit schon längst alle drei vergast worden waren. Im Juni 1944 wurde Hermina selektiert und wieder in einem Viehwaggon, der allerdings weniger beladen war als der erste, fortgeschafft. Diesmal ging die Fahrt durch eine idyllische Sommerlandschaft nach Niederschlesien in ein Außenlager von Groß-Rosen, wo sie, zum Skelett abgemagert, im Wald Baumstümpfe ausgraben sollte. Da die Häftlinge hier mit der Bevölkerung in Kontakt kamen, wurden ihnen die Haare nicht mehr geschoren.

Als bei Kriegsende die Russen näherrückten, wurden die wenigen Häftlinge, die noch lebten, von uniformierten Männern evakuiert. Diesmal ging es zu Fuß vorwärts. Das war im Februar 1945. In der Dämmerung des dritten Abends konnte sich Hermina zusammen mit zwei anderen Frauen davonschleichen. Die Aufseher waren selbst zu erschöpft, um lange zu suchen. Überall herrschte hektische Aufbruchsstimmung, Trecks wurden zusammengestellt, manche Höfe waren schon verlassen. Die drei Frauen versteckten sich in Scheunen und Ställen, zu essen fanden sie genug. Von einem Dorfpastor bekam Hermina gefälschte Papiere. Sie war nun keine Jüdin mehr, sondern Hilde Fidler, eine junge, deutsche Flüchtlingsfrau aus dem Osten. Im Durcheinander der letzten Kriegswochen gelangte Hermina nach München, zu Tante Vera, der Schwester ihrer Mutter, die dort mit einem polternden Gamsbart-Katholiken verheiratet war. Ja, Mohrlerl, wo kommst du denn her?

Hermina schämte sich zu erzählen, wie sie die letzten Jahre verbracht hatte. Appellstehen, Durst, vor allem Durst und Angst, Willkür, Stockschläge, Lastwagen voller Leichen, der Gestank des Rauches über dem Lager. Der SS-Mann, der munter vor sich hinpfeifend die nackten Frauen bei der Selektion Kniebeugen machen ließ. No geh scho, Mohrlerl.

Tante Vera frühstückte jeden Morgen von ihrem Meissner-Porzellan, sie hätte das alles ohnehin nicht geglaubt, deshalb erzählte Hermina gleich eine andere Geschichte. Und die Eltern und die Schwestern, die würde sie sicher in Wien wiedertreffen. Gewiß. Onkel Sepp hatte sich mit den Nazis arrangiert. Mit Blick auf seine Frau flüsterte er Hermina ins Ohr, daß er nur auf diese Weise auch Juden hätte retten können. Seine Geschäfte liefen äußerst zufriedenstellend.

Die Nächte verbrachte Hermina nun mit ihrer vor Angst schreienden Tante Vera im Keller. Nachdem Hermina drei Konzentrationslager überlebt hatte, wäre sie fast im Bombenhagel der Befreier umgekommen. Dann waren die Amerikaner da. Gutmütige, kaugummikauende junge Kerle. Hello! Sie wußten nicht, für wen und gegen wen sie da eigentlich gekämpft hatten. Ein jüdischer Kommandant der Militärregierung verschaffte Hermina eine Stelle bei der Organisation für »displaced persons«. Sie half, Kontakte zwischen auseinandergerissenen Familien herzustellen. Hermina wirkte bald kräftig und selbstbewußt. Sie wollte nichts Schlimmes erlebt haben, und sie wollte sich vor allem Schlimmen die Ohren verstopfen.

Bei ihrer Arbeit lernte sie Maxim Wisniewski kennen. Er war fünfzig Jahre alt, trug einen Kaftan und sah aus wie die Figur aus einem russischen Märchen. Nie sprach er etwas anderes als jiddisch. Jiddisch, sagte er bedeutungsvoll, ist älter als deutsch, es ist die Sprache der Juden. Er war stolz darauf, Jude zu sein, und Hermina sehnte sich nach einem Menschen aus einer Bilderbuchwelt. Maxim hatte die schlimme Zeit in Amerika verbracht. Er war Vorkriegsemigrant und suchte nun in dem verwüsteten Europa nach seinen Verwandten. Mit Malech, seinem Schutzengel, führte er lange Gespräche. Durch seine unbeirrte Frömmigkeit besann sich auch Hermina auf ihr Judentum. Plötzlich bekam sie ein Heimatgefühl. Sie wollte dazugehören, vertrauen, gläubig werden und die Gebräuche halten. Vielleicht würde ihr daher eine Erklärung für alles kommen. Sie erzählte Maxim nicht, daß sie ihr Jiddisch im Konzentrationslager gelernt hatte.

Maxim war ein russischer Bär aus dem Schtetl, ein chassidischer Bohémien, ein Künstler, ein Narr, der durch Kneipen zog, auf seinem »Harmoschke« spielte und dazu sang. Schon 1933 war er nach New York ausgewandert, um dort ein Kabarett zu gründen, nur das geeignete Auditorium von Jidden, das er sich gewünscht hatte, fehlte ihm noch, so daß er sich als Sänger bei Hochzeiten und Bar-Mízwa-Feiern durchschlagen mußte.

Niemand vorher hatte Hermina so zum Lachen gebracht wie Maxim, wenn er rief, Herminale, gib a Guck, was da tut sich. Seine Väterlichkeit und sein Humor machten sie in manchen Augenblicken wirklich sorglos. Herminale, du sitzt in mein Herz, du sitzt auf einen weichen Scheslan in mein Herz, sang Maxim und spielte dazu auf seinem Harmoschke. Er hob sie liebevoll verehrend auf einen Thron, und alle sollten den Schatz bewundern, den er besaß.

Wer wollte die Juden vor dem Krieg aufnehmen?

Wer wollte die Juden während des Krieges aufnehmen?

Wer wollte die Juden nach dem Krieg aufnehmen?

Hermina träumte davon, nach Palästina auszuwandern. Vielleicht hätte sie von Italien aus mit einem illegalen Schiff einreisen können. Vielleicht wäre sie aber von den Engländern erwischt und auf Zypern interniert worden. Vor Lagern hatte Hermina einen Horror. Maxim schwärmte von New York. In New York sei er so gut wie zu Hause. Endlich würde er sein längst geplantes Kabarett gründen, Hermina sollte die geschäftliche Leiterin werden. In New York liege das Geld nur so auf der Straße herum. Alle Juden und alle Nicht-Juden in New York würden allabendlich Maxim Wisniewskis Kabarett füllen. Sie gab seinem sanften Drängen nach. 1948 heirateten sie und nahmen ein Schiff nach New York.