Linda Haselwander

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Zuerst wohnten sie in einem von einer jüdischen Hilfsorganisation zur Verfügung gestellten Obdachlosenhaus. Bald fanden sie eine billige Einzimmerwohnung mit einer geräumigen Küche, die jedoch kein Fenster hatte. In einem mit Stoff verhängten Regal war alles, was sie besaßen. Ein paar Kleidungsstücke, drei, vier Bücher, eine Pfanne und das Eßgeschirr. Nie wurden sie den Geruch nach feuchtem Keller und Schimmel los.

Maxim verbrachte viel Zeit damit, mit anderen Künstlern zu-sammen die Gründung des Kabaratts vorzubereiten. Sie planten und probten, aber bald war es doch wieder noch nicht ganz das Richtige. Abends zog er mit seinem Harmoschke von Kneipe zu Kneipe. Sie kamen nicht weiter. Herminale, mein Neschome, so wie an schlechta Traum kommt mir das vor.

New York forderte Anpassung, es zeigte den Einwanderern seine Krallen, das Geld war eine ständige Sorge. Hermina nahm eine Stelle als Gesellschafterin bei einer behinderten Dame an. Wenn sie unter die Leute ging, konnte sie wenigstens ihr Englisch verbessern. Da die Zugehfrau der Dame krank war, putzte Hermina, wusch die Wäsche und kochte dem Königspudel seine Diätmahlzeit. Alle drei Stunden mußte er um den Häuserblock geführt werden. Von der Vermieterin aus Wien ließ sich Hermina die schmale Mappe schicken, die sie ihr gegeben hatte, bevor die Nazis kamen. Darin waren ein paar Briefe und Photos, Urkunden und Zeugnisse. Ihr Verlobungsring steckte noch dazwischen.

An einer Nursing School bewarb sich Hermina um eine Ausbildung. Aber in einem Schreiben erklärte man ihr, mit achtundzwanzig sei sie zu alt und außerdem sei eine, die im Konzentrationslager war, ungeeignet dafür, als Krankenschwester zu arbeiten. Schließlich fand sie Arbeit in der medizinischen Bäderabteilung eines Krankenhauses, wo sie den Leuten Massagen und Wickel verabreichen mußte. Sie verdiente nun besser, ließ sich Dauerwellen legen und kaufte ein Kleid mit einem schwingenden Petticoat darunter. Ein Arbeitskollege lud sie abends ins Kino ein.

Als sie nach Hause kam, brüllte Maxim wie ein Irrer. Er schlug auf sie ein und zerriß das Kleid in Fetzen. Tagelang mußte sie im Zimmer bleiben, weil sie sich schämte. Ihr Gesicht war blau geschlagen, die Lippen aufgeplatzt. Maxim heulte vor Reue wie ein Kind. Herminale, mein Neschome, das Liebste in mein ganzen Leben!

1950 bekam Hermina einen Sohn. Sie nannte ihn Franz nach ihrem Vater, der in Auschwitz vergast worden war. Durch das Kind hing sie nun völlig von Maxim ab. Tante Vera, die immer gegen die Heirat mit diesem Ghetto-Juden gewesen war, schickte gute Ratschläge und vor allem Geld. Ohne Tante Veras Hilfe hätten sie nicht einmal die Geburt im Krankenhaus bezahlen können. Drei Jahre später befreite sich Hermina von der einlullenden Liebe und von den Eifersuchtsszenen Maxims. Sie hinterließ nicht einmal eine Nachricht. Mit dem Jungen und einem kleinen Koffer kam sie bei Tante Vera in München an. Da war schon ein Kinderzimmer eingerichtet worden. Ein Schaukelpferd und ein rotes Tretauto für Franz.

Aus New York kamen verzweifelte Briefe. Herminale, aus großer Liebe zu Dir versagen meine Nerven, und ich mache Sachen, die Dir und mir wehtun. Du mein Liebstes, Du meine Heilige, Du sitzt auf einen Scheslan in mein Herz. Bis in den Tod Dein Maxim.

Hermina durfte den Führerschein machen und in dem Cabriolet der Tante zum Chiemsee hinaus fahren. Es war Sommer, sie war braungebrannt und sportlich, man hielt sie für eine Italienerin oder für eine Spanierin, sie hatte Verehrer. Aber Hermina, die den Ring des im Krieg gefallenen Verlobten nun zu ihrem Ehering dazugesteckt trug, wollte nichts mehr von Männern wissen. Über ein Jahr spielte sie im Haus von Tante Vera, die so gerne sagte, no geh scho Mohrlerl, die Rolle der Tochter. Dann ermutigte sie sich und nahm einen Zug nach Wien. Schon nach drei Tagen wußte sie genug. Sie wollte weder in der Straßenbahn fahren noch auf den frisch gestrichenen Parkbänken am Heldenplatz sitzen. Immerhin waren die Schilder Für Juden verboten abmontiert worden. Hermina sah sie in den Kellerräumen der Hofburg lagern, bis sie wieder gebraucht würden. Auch am Prater hatte sie kein Vergnügen mehr. Nicht einmal zum Riesenradfahren hatte sie Lust. Die hinterfotzige Freundlichkeit der Leute widerte sie an. In der Wohnung der Kriegerwitwe wohnte jetzt eine junge Familie. Hermina fragte nicht weiter. Aber Tante Vera berichtete sie von rührenden Wiedersehensszenen und was diese sonst noch gerne hörte. Kein Wort über die Toten.

Bei Tante Vera und Onkel Sepp trug Franz, der ein kräftiger, aber für sein Alter ungewöhnlich besonnener Junge war, Lederhosen und ein Filzhütchen. Für Hermina hatte die Tante ein Dirndl aus Seidenstoff gekauft und eine passende Brosche dazu. Es hatte kurze Ärmel und ließ die in Auschwitz eintätowierte Nummer sehen. Aber nach ihrer Wienreise ertrug Hermina den biedermeierlichen Haushalt ihrer Tante, wo das Dienstmädchen mit einer kleinen, weißen Spitzenschürze herumging, nicht mehr. Sie wollte nicht verwöhnt werden wie eine einzige Tochter, und auch das Angebot von Onkel Sepp, als Sekretärin im Geschäft mitzuarbeiten, lehnte sie ab. Wie hätte sie es erklären können? Sie hatte Anspruch auf Wiedergutmachungsgeld. Es half für den Anfang. Hermina ließ sich zur Krankengymnastin ausbilden. Sie zog mit Franz in eine Wohnung im Lehel, die zwei große, hohe Zimmer mit abgeblätterten Stuckdecken und eine Küche hatte, ein Bad gab es nicht. Die Toilette war für mehrere Wohnungen zusammen im Treppenhaus.

Jahre später, als Hermina das beharrliche Gefühl des Neben-sich-selbst-Stehens nicht mehr aushalten konnte, vertraute sie sich einer Psychologin an, mit der sie sich angefreundet hatte. Bei ihr lernte sie mühsam, über das, was sie durchgemacht hatte, zu sprechen und über die Toten zu weinen.

Franz

Franz ist ein besonderer Junge. Aber das weiß nur er selbst, er läßt sich das nicht anmerken. Er hat schon über zwanzig Geheimnisse, die er alle ganz für sich behalten kann und die er in seinem Geheimbuch auflistet. Er hat sie in drei Gruppen unterteilt: Geheim, höchst geheim, geheim bis in den Tod. Geheim ist beispielsweise, daß er schneller als der Klassenlehrer rechnen kann, unter geheim bis in den Tod fällt der ungeöffnete Brief mit dem Absender Maxim Wisniewski, New York, USA, den er in seiner Schätzekiste aufbewahrt. Wenn Hermina die Post aus dem Briefkasten unten holt und ein Luftpostbrief dabei ist, seufzt sie schwer. Der Vater hat in Amerika eine lebenswichtige Aufgabe zu erledigen. Deshalb kann er nicht einmal zu Weihnachten kommen, so daß Franz und Hermina, damit sie nicht allein sind, bei Tante Vera und Onkel Sepp feiern, wo der Christbaum mit seiner silbernen Spitze bis zur Decke hoch reicht und wo es nach der Bescherung Gänsebraten gibt.

Franz besitzt einen Cowboyhut, einen Gürtel, in dem zwei Colts stecken, und einen Sheriffstern. Wenn er die Sachen trägt, sieht er wie sein Vater aus. Der hat außerdem ein Lasso und zwei Pferde, auf denen er abwechselnd durch die Prärie reitet. Vom sonntäglichen Fernsehen bei Tante Vera weiß Franz genau, wie es auf der Ranch am Fuß der blauen Berge aussieht. Sein Vater ist der Freund eines großen Indianerhäuptlings. Wenn sich die beiden in der Prärie begegnen, zünden sie ein Lagerfeuer an, setzen sich nieder und rauchen die Friedenspfeife. Auch Franz besitzt eine Friedenspfeife, er hat sie von Onkel Sepp ausgeborgt, dem so viele Pfeifen gehören, daß der es gar nicht merkt, wenn einmal eine fehlt. Den Cowboyhut, die Colts, den Sheriffstern und die Friedenspfeife holt Franz jedoch nur dann aus seinem Schätzekoffer, wenn er allein zu Hause ist.

Franz ist oft allein, weil Hermina im Krankenhaus arbeitet. Sie verdient dort Geld und hilft, kranke Leute gesund zu machen. Meistens kommt sie erst um sechs Uhr abends nach Hause. Er hat dann längst bei Frau Mumbauer unten gegessen und seine Schulaufgaben gemacht. Die sind immer ganz einfach, Franz bekommt die besten Noten, deshalb darf er schon jetzt nach Ostern, ein Jahr früher als üblich, ins Gymnasium wechseln. Wenn er fertig gerechnet und geschrieben hat, wartet er, bis Frau Mumbauer von ihrem Mittagsschlaf aufwacht. Um sich die Zeit zu verkürzen, liest er in den Büchern von Frau Mumbauers Mann, der Buchhändler war und letzten Sommer gestorben ist. Franz geht fast nie zum Spielen hinaus, er will weder anderen Kindern noch Bällen noch sonst etwas nachlaufen. Er wartet mit einem Buch am Küchentisch, bis Frau Mumbauer aus ihrem Schlafzimmer herauskommt und sich einen Kaffee aufbrüht. Dann fragt er, ob sie ihm den Schlüssel gibt und ihm erlaubt, nach oben zu gehen. Meistens unterhalten sie sich noch ein wenig, dann bedankt sich Franz für das Mittagessen, macht eine kleine Verbeugung, denn er weiß, wie man sich benimmt, und zieht die Tür sehr vorsichtig hinter sich zu, weil Frau Mumbauer oft ihre Migräne hat. Oben zieht Franz gleich die Schätzekiste unter seinem Bett hervor und holt den Cowboyhut, den Gürtel mit den Colts und die Friedenspfeife heraus. Damit verwandelt er sich in den Sohn des großen Maxim. Mit gewichtigen Schritten stolziert er zum Spiegel in das Zimmer von Hermina hinüber um nachzuprüfen, ob alles richtig sitzt.

Er ist ein großer, kräftiger Junge, der so schwarze Augen und so schwarzes Haar hat wie keiner sonst in der Klasse. Auch seine Haut ist dunkler, selbst im Winter sieht sie wie eben gebräunt aus. Franz weiß, woher das kommt. Seine Mutter ist nämlich gar nicht seine richtige Mutter. Das hat er schon vor zwei Jahren unter geheim bis in den Tod notiert. Deshalb hat er vor einiger Zeit angefangen, sie Hermina statt wie vorher Mutti zu nennen. Zuerst hat sie gemeint, das sei doch keine gute Idee, aber jetzt hat sie sich daran gewöhnt, und es scheint ihr recht. Hermina ist eigentlich die Schwester seines Vaters. Um Franz vor den für ihre Grausamkeiten bekannten Komantschen zu schützen, hat Maxim seine Schwester, die sich niemals fürchtet, beauftragt, mit dem Kind nach Deutschland zu fliehen. Seine wirkliche Mutter ist eine Häuptlingstochter, die die Komantschen entführt haben. Maxim hat ewige Rache geschworen.

 

Franz schürt den Küchenherd, er stochert mit dem Schürhaken in der Glut, daß Funken aufsteigen. Er legt ein Brikett nach. Dann setzt er sich nach Indianerart auf den an den Herd gerückten Küchentisch und schaut in das Feuer und zieht an der kalten Pfeife, die einen widerlichen Geschmack im ganzen Mund macht. Er zwingt sich, solange wie möglich mit durchgestrecktem Rücken dazusitzen und seine Gedanken zu ordnen. Als Sohn der Häuptlingstochter ist er natürlich nicht katholisch wie die anderen in der Klasse, deshalb wird er auch kein Kommunionsfest feiern, obwohl das ein herber Verzicht für ihn ist, er hätte gerne ein Fest und Geschenke gehabt. Doch nur der Form halber besucht er überhaupt den Religionsunterricht, das hat Hermina so mit dem Lehrer besprochen. Tatsächlich haben sie jedoch eine ganz andere, eine viel bedeutendere Beziehung zu Gott. Das kann man leicht daran erkennen, daß Hermina eine Nummer an ihrem Arm stehen hat. Diese Nummer geht nicht weg, soviel Hermina auch badet und sich wäscht. Bevor Franz viel fragt, macht er sich lieber seine eigenen Gedanken, außerdem hat er die Bücher vom verstorbenen Herrn Mumbauer, in denen er manches nachlesen kann.

Einmal, schon länger her, als sie im Bad waren und nach dem Schwimmen in der Sonne lagen, rieb Franz mit dem Zeigefinger über die Nummer, er nahm auch Spucke, irgendwie, dachte er, dieser Stempel müsse unter dem Reiben doch verschwinden. Hermina hielt da in der Sonne die Augen geschlossen und machte ein ganz normales Gesicht. Aber schließlich sagte sie leise zu Franz, gib dir keine Mühe, das geht nicht weg, das ist die Telephonnummer zum lieben Gott.

Franz, da auf dem Küchentisch, tut bald der Rücken weh und die Knie, mit dem Schmerz kommt ihm die Haltung immer irgendwie lächerlich vor, überhaupt ist alles blöd. Er räumt die Sachen in die Schätzekiste zurück und macht ein paar Notizen in das Geheimbuch. Unter die Rubrik Briefe 1959 setzt er ein Kreuz, denn gestern hat Hermina, als sie von der Arbeit kam, einen Luftpostbrief mit hochgebracht. Nur sie besitzt einen Schlüssel zum Briefkasten. Noch im Mantel steckte sie sich eine Zigarette an, seufzte tief, setzte sich an den Küchentisch und las. Das dauerte nur eine halbe Minute, Franz schaute auf die Wanduhr, dann warf sie den Brief in den Herd.

Franz fragt nicht mehr. Wenn Hermina die Augen zusammenpreßt und die Hand so an den Hinterkopf legt, weiß er inzwischen, daß keine vernünftige Antwort kommt. Als er noch kleiner war, konnte sie ihm die tollsten Geschichten erzählen. Er ahnt jedoch, daß das Verbrennen des Briefes eine notwendige Vorsichtsmaßnahme sein wird, um den Sohn der schönen Häuptlingstochter vor den Komantschen zu schützen.

Nachdem Franz nichts mehr einfällt, das er in das Geheimbuch zu notieren hätte, nimmt er sich den ungeöffneten Brief mit dem Absender Maxim Wisniewskis wieder vor. Er kennt jeden Schnörkel der großen umständlichen und irgendwie schlecht zu lesenden Schrift. Obwohl sich Hermina vor nichts fürchtet, ist es doch Franz, der die Verantwortung trägt, das weiß er ganz genau, und eigentlich ist er auch kein Lügner. Es war nur so, daß er vorletzten Freitag, als die Schule erst um zehn Uhr anfing, vor dem Haus dem Briefträger begegnete. Der war eilig und überreichte im Vorbeigehen Franz den Brief, Post heute nur für euch, Bub, rief er, und Franz wurde es zuerst heiß, dann kalt und schwindlig, es war das erste Mal, daß er etwas, das direkt von seinem Vater kam, in den Händen hielt. Endlich wieder bei Besinnung steckte er den Brief in die Schulmappe, wo er ihn zwischen den Heften und Büchern ja leicht hätte vergessen können.

Nachmittags notierte er die New Yorker Adresse sorgfältig in sein Geheimbuch, denn natürlich hatte er schon oft über eine heimliche Reise nachgedacht. Ihm kam die Idee, Maxims Schrift nachzumachen. In den großen, umständlichen Buchstaben schrieb er Maxim Wisniewski, bis sich das, was im Geheimbuch stand, nicht mehr von dem auf dem Umschlag unterscheiden ließ. Als Hermina abends nach Hause kam, fragte sie nicht etwa, ist der Briefträger heute morgen eilig gewesen und hat im Vorübergehen gesagt, Post heute nur für euch, Bub. Sie war an diesem Tag sehr zufrieden, erzählte beim Essen lustige Geschichten, wie sie im Krankenhaus passieren, und bevor sie schlafen gingen, spielten sie noch zwei Runden Halma, bei denen er Hermina absichtlich gewinnen ließ. Nach ein paar Tagen dachte Franz, dem es natürlich mulmig war, es sei ja nun ganz undenkbar, Hermina den Brief noch zu geben oder ihn selbst in den Briefkasten unten zu stecken, weil sie gewiß merken würde, daß es ein alter Brief war, und nachforschen würde. Diese Schande könnte Franz nicht aushalten. Die einzige Möglichkeit, die er noch hatte, war, den Brief im Herd zu verbrennen.

Im Zimmer ist es schon düster geworden, Franz zittert ein wenig vor Kälte, der Küchenherd allein schafft es nicht, auch noch die beiden Zimmer zu heizen, die keine Öfen haben. Er schiebt die Schätzekiste unter sein Bett und geht in die Küche hinüber, den Brief nimmt er mit. Das Feuer brennt nicht gut, er zerknüllt Zeitung und stopft sie hinein. Wenn er den Brief verbrennt, so macht es ja keinen Unterschied, ob er ihn vorher geöffnet hat oder nicht. Von dem Brief wird nichts wirklich übrig bleiben, sondern nur das, was Franz im Kopf behält. Und es kann sein, daß eine lebenswichtige Botschaft darin steht, ohne die er und Hermina verloren sind. Als er die Stufen im Treppenhaus knarren hört, rennt er in sein Zimmer zurück und versteckt den Brief schnell unter der Matratze. Schließlich, halb unter das Bett gekrochen, ermutigt er sich. Es ist fast, wie er vermutet hat, trotzdem ist er enttäuscht. Der ganze Brief besteht aus Geheimschrift, jeder Buchstabe, pure Geheimschrift, so daß Franz nichts, gar nichts entziffern kann. Er steckt den Brief in die Schätzekiste zurück, tief unter die anderen Sachen.

Franz kennt Herminas unmögliche Chefin im Krankenhaus, und er weiß über den unverschämten Hausbesitzer Bescheid, der nichts renovieren läßt, aber dauernd mehr Miete will. Wenn Tante Vera wieder geseufzt hat, bei uns könntet ihr es so gut haben, heult Hermina oft schon auf dem Nachhauseweg in der Straßenbahn und dann noch den ganzen Abend lang, und Franz bringt ihr Kamillentee ans Bett und setzt sich daneben, bis sie aufhört zu zittern und einschläft. Immer sorgen sie füreinander. Sie hätte gerne, daß Franz häufiger hinausgeht, daß er Fußball spielt und Kameraden hat, statt dauernd über Büchern zu hocken. Der Schularzt hat gesagt, Franz sei zu dick, er brauche mehr Bewegung. Franz selbst hat nur ein einziges Problem, aber soviel er es im Kopf auch probiert, die Wörter kommen nicht heraus. Seit er nicht mehr klein ist, erzählt ihm Hermina keine wunderbaren Geschichten mehr über den Vater, daß es ihn überhaupt gibt, beweisen nur die Briefe. Er fragt Hermina auch dann nichts, als er in der neuen Klasse auf dem Gymnasium hört, wie ein Mitschüler einem anderen laut und so bedeutungsvoll zuflüstert: Juden sind immer die Klassenbesten.

Franz weiß vom Religionsunterricht, daß es in der Bibel um Juden geht. Aber sicherheitshalber schlägt er im Lexikon des verstorbenen Herrn Mumbauer nach, es riecht noch neu, ganz unbenutzt. Unter einem Bild, auf dem drei bärtige Männer mit Hüten gehen, steht: Orthodoxe Juden aus Munkatsch (Karpato-Ukraine) mit der übernommenen Tatarenkleidung (Talar und Fellmütze). Wie soll Franz das mit sich und seinen guten Noten in Verbindung bringen? Juden sind ein Rassengemisch vorderasiatischer und orientalischer Semiten. Und weiter unten: Die sagenhafte Vorgeschichte des Volkes Israel beginnt nach der Bibel mit Abraham, der um 2140 v. Chr. von Mesopotamien nach Kanaan (Palästina) auswanderte, den Monotheismus und die Beschneidung einführte und dessen Enkelsfamilie (Jakob) Israel sich in der ägyptischen Prov. Gosen ansiedelte. Es ist viel zu viel, um sich alles zu behalten und um es dann oben ins Geheimbuch zu schreiben. Frau Mumbauer wird noch eine Weile in ihrem Schlafzimmer bleiben, und Franz macht etwas, was er sonst noch nie getan hat. Er faltet eine scharfe Kante und trennt die Seite vorsichtig aus dem noch völlig unbenutzten Lexikon heraus. Von nun an hat Franz viel Gelegenheit, seine Sammlung über das Judentum zu erweitern, im Heraustrennen wird er immer ungenierter. Sein Geheimbuch ist bald vollgeschrieben und beklebt, heimlich kauft er sich ein neues, in dem er nun systematisch alles, was er in Erfahrung bringt, nach Jahreszahlen ordnet. Ein paar Mal geht er sogar mit Onkel Sepp auf die Jagd, um ihn zum Erzählen zu bringen, und er spitzt die Ohren, wenn sich Hermina und Tante Vera in der Küche unterhalten. Eins paßt zum andern, endlich durchschaut er die Anläufe, die Hermina nimmt, um mit ihm offen zu sprechen, aber er tut naiv und macht ihr damit absichtlich das Leben schwer. In das Geheimbuch schreibt er mit roter Tinte schlimme Schwüre.

Als er vierzehn ist, sagt er ihr, daß er alles weiß, auch woher sie die Nummer hat. Zum Beweis legt er ihr das Bild einer nackten und zum Skelett abgemagerten Frau, die einen irren Blick hat, vor. Darunter steht, Bergen-Belsen am 15. April 1945, das Photo wurde unmittelbar nach der Befreiung des Lagers von einer britischen »Film and Photographic Unit« aufgenommen.

Ist es so mit dir auch gewesen? Wochenlang genieren sie sich derart voreinander, daß sie nur noch das Nötigste sprechen. Zum ersten Mal stellt Franz eine Forderung. Er will seinen Vater sehen.

In der Klasse spricht er mit keinem mehr, er liebt plötzlich das Gefühl, eine Art Märtyrer zu sein. Seine Mutter ist doch nicht vom Himmel gefallen. Sie hat ihm den Namen ihres Vaters gegeben, der in Auschwitz vergast worden ist. Franz trägt den Namen eines vergasten Juden. Zu den Lehrern ist er arrogant, mit diesen verbohrten alten Nazis will er nichts zu tun haben. Geschichte fällt jetzt öfter aus, bevor Hitler an die Macht kommt, läßt sich der Lehrer an der Galle operieren. Franz braucht keinen Unterricht. Diese Obersturmbannführer sollen dem Juden seine Einsen und sein Abiturzeugnis geben und ihn nicht anmachen.

Hermina sagt ihm, daß Maxim jetzt siebzig Jahre alt ist, in einer fast fensterlosen Kellerwohnung haust und als Straßenmusikant herumzieht. In all den Jahren hat sie ihm Geld geschickt, obwohl sie kaum wußte, wie haushalten mit ihrem Gehalt. Sie will Franz die Briefe, die noch immer regelmäßig eintreffen, vorlesen. Er tut, als höre er nicht hin. Herminale, mein Neschome, mein Liebstes auf der Welt, ich will du sollst glicklich sein, aber ich bleibe dein Mann bis in den Tod. Maxim verweigert den Scheidungsbrief. Was hätte er auch noch ändern können?

Franz will keinen Christbaum und keinen Gänsebraten mehr, das nette Spiel ist vorbei. Als die ungeheure Beklemmung nicht aufhört, mischt sich Tante Vera doch ein. Man hätte von vorneherein alles anders machen sollen. Ihr war schon immer klar gewesen, daß es eines Tages zur Katastrophe kommen mußte. Großmütig spendiert sie Franz ein Flugticket nach New York und das nötige Taschengeld dazu. Franz will ganz entschieden nicht, daß Hermina mit ihm kommt.

Am Flugplatz steht ein alter, Mann, der aussieht wie einer der drei Juden in Herrn Mumbauers Lexikon. Er weint hemmungslos. Franz, der schon größer ist als sein Vater, läßt sich in den Arm nehmen und immer wieder abküssen, obwohl es ihm unangenehm ist. Er hat sich vorgenommen, Englisch zu sprechen. Aber Maxim sagt, sei asej gut und redt mit mir in a Sproch, was ich kann verstehn. Franz lacht das erste Mal seit langer Zeit, er will sich auf alles einlassen, vielleicht wird er für immer in New York bleiben.

In der finsteren Wohnung steht noch das Kinderbett von Franz. Seit Hermina vor zwölf Jahren fortgegangen ist, hat sich hier nichts geändert. Franz soll neben Maxim in ihrem Bett schlafen. Es ist ihm seltsam, da in New York neben einem fremden, alten Mann im Ehebett zu schlafen. Maxim steht früh auf, legt die Gebetsriemen an und geht zur Synagoge, das Harmoschke nimmt er in einer großen schwarzen Tasche mit. Franz tut, als schlafe er noch, er spürt, daß der Sohn, der keine Toraschule besucht hat, ein Unglück für diesen Vater ist. Nur am Sabat geht er in die Synagoge mit, freilich ohne ein Wort zu verstehen.

Die Morgen verbringt Franz damit, nach und nach Küche und Bad zu schrubben. Er wäscht sogar den karierten Vorhang, der vor dem Regal hängt, und die Regalbretter, er lüftet, so gut es geht. Franz ist in Haushaltsdingen nicht ungeübt, jeden Samstag erledigt er zu Hause mit Hermina alles, was zu tun ist. Maxim sagt nichts zu den Verbesserungen, wahrscheinlich bemerkt er sie gar nicht. Mittags kommt er und schüttet eine Menge Münzen in den Kochtopf, der ihm als Sparkasse dient. Dann gehen sie zum Essen in einen Saal, wo die jüdische Gemeinde billig Eintopf ausgibt. Alles koscher, und Franz trägt während des Essens die Kippa, die man ihm bringt. Es kann doch nicht sein, daß Maxim das ernst nimmt. Alle seine Freunde hier tragen lange Bärte und schwarze Hüte, manche haben Schläfenlocken.

 

Sie laufen viel durch die Straßen nebeneinander her. Franz lädt Maxim zu einer Sightseeing-Tour im Bus ein. Einmal machen sie eine Schiffahrt zur Freiheitsstatue und um Ellis Island. Maxim schildert mit viel Rührung, wie Hermina und er 1948 hier ankamen. Sie hatten kurz zuvor geheiratet, es war die glücklichste Zeit in seinem ganzen Leben. Am Ende werden die vier Wochen lang. Franz will nach Hause, und Maxim hält ihn nicht auf.

1965

Herrmann Haselwander kauft das neue Mercedes Modell, einen Traum in Weiß, und schenkt seiner Frau zum Geburtstag eine silbergraue Persianerjacke. Sein Knie plagt ihn viel. Jede Art von Ablenkung ist ihm recht.

Auch Fräulein Jadow kauft sich einen Wagen. Sie ist aus dem alten Schulhaus in eine Neubauwohnung im Nachbarort gezogen. Oft fährt sie hupend vor die Bäckerei, um Linda zur Geigenstunde abzuholen.

Die Großmutter legt ihr Geld, bevor es wieder bei einer Inflation verreckt, wie sie sagt, lieber in Gold und feingeknüpften Perserbrücken an. Die Pracht der Muster und Farben sind ihr eine Wohltat. Die Kuh und die Schweine hat sie abgeschafft, überhaupt macht sie es sich jetzt leichter, sie wüßte gar nicht, wozu sie sich immerfort abplagen soll.

Die Olsons ziehen von Bremen nach Huwihl und mieten das alte Schulhaus, das von der Gemeinde provisorisch hergerichtet wurde. Hier können sie endlich soviel Musik und Lärm machen wie sie wollen.

Malte spielt täglich mehrere Stunden Klavier. Marie ist jetzt zwei Jahre alt und übt, sich gegen die drei älteren Geschwister durchzusetzen.

In dem linken unteren Klassensaal ist weiterhin die von Fräulein Jadow betreute Bibliothek untergebracht. Aber das macht der Familie nichts aus. Frau Olson übernimmt die Leitung des Kirchenchors und gibt Musikunterricht. Im Haus ist ohnehin ein ständiges Kommen und Gehen. Ihre Schlafzimmer haben sie unter dem Dach in den Lehrerwohnungen. Der andere Klassensaal unten ist zugleich Küche und Wohnzimmer. Die beiden oberen Klassensäle sind Musik- und Gästezimmer. Oft wohnen bei den Olsons Musiker und Maler und Schriftsteller. Eine Menge solcher mit langen Haaren und Bärten. Auch Lioba Vengerowa kommt gelegentlich, um sich für ein paar Tage im Schwarzwald zu erholen und um mit Malte zu musizieren.

Künstler, sagen die Leute. Aber sie sagen es wohlwollend und sogar mit einem Stolz auf das, was ihr Ort zu bieten hat. Vor allem Frau Olson ist beliebt.

Tante Vera und Onkel Sepp machen eine Kreuzfahrt in die Karibik, um endlich einmal etwas anderes als München zu sehen.

In die Wohnung von Hermina und Franz wird ein Bad eingebaut, indem man durch die Küche eine Wand zieht. Auch eine Zentralheizung wird installiert. Seit Franz in Amerika gewesen ist, kommt von Maxim kaum noch Post.

Frau Mumbauer will das hintere Zimmer an eine Studentin vermieten. Um mehr Platz zu haben, schenkt sie Franz die Bücher ihres Mannes. So kommt es, daß im Zimmer von Franz an einer Wand fast bis zur Decke Kartons mit Büchern gestapelt sind. Es sieht aus, als sei Franz gerade am Umziehen. Ihm gefällt es so. Hermina will bald ein Regal kaufen.