Papakind

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PAPAKIND

Impressum

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Epilog

Isolde Kakoschky

Isolde Kakoschky

PAPAKIND

Roman

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar. ´

Print-ISBN: 978-3-96752-049-1

E-Book-ISBN: 978-3-96752-549-6

Copyright (2019) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter

Coverbild: ISKA

Buchsatz: Alfons Th. Seeboth

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Widmung

Ich danke Nadine für Ihre Offenheit und ihre wertvollen Tipps und Gitta für Ihre Hilfe beim Korrektorat.

1

»Franziska! Alexander! Kommt essen!« Die Stimme der Mutter schallte durch den Garten. Das Mädchen legte das Buch, in dem sie gerade gelesen hatte, neben sich auf die Bank. Vielleicht konnte sie nach dem Abendessen noch etwas weiter lesen. Aus der anderen Ecke des Gartens kam der Junge gerannt, der mit seinen Autos im Sand gespielt hatte.

»Ja Mami, wir kommen!«, rief er seiner Mutter zu. Die Kinder spülten sich noch rasch die Hände unter dem Gartenschlauch ab und saßen Minuten später bei den Eltern am Küchentisch.

»Mann, habe ich einen Hunger!«, stöhnte Alexander, während er genüsslich in eine dicke Leberwurstschnitte biss. Franziska saß still daneben.

»Ich mag kein Wurstbrot«, druckste sie herum.

»Hier, mein Mädchen, nimm den letzten Butterkäse«, versuchte ihr Vater, sie zum Essen zu überreden und erntete damit einen kritischen Seitenblick von seiner Frau.

»Aber ich möchte noch Marmelade auf den Käse!« Der Vater nickte ihr lächelnd zu und Franziska war froh, ihren Papa wieder einmal überlistet und sich damit durchgesetzt zu haben, auch am Abend Süßes zu essen.

»Brr, wie kann man das essen?« Alexander mochte keine Marmelade und schon gar keinen Käse.

»Kinder, es reicht mit der Diskussion«, sprach der Vater ein eher ruhiges Machtwort. »Denkt lieber an morgen. Ich hoffe doch, dass die Zeugnisse gut ausfallen.«

»Jeder ist gut nach seinen Möglichkeiten«, griff die Mutter in die Debatte ein. »Wir freuen uns über euch beide!«

Später am Abend lagen die Kinder in Ihren Betten, die nur durch einen Vorhang getrennt waren, so dass sie sich bequem unterhalten konnten. Franziska hatte ihr Buch mit ins Bett genommen und wollte eigentlich noch lesen, als Alexander zu reden anfing.

»Du, Franzi, ich bin vielleicht froh, dass jetzt Ferien kommen. Diese blöde Schule! Ich glaube, ich werde nie so gut wie du!«

»Aber Alex, das ist doch nicht so schlimm!«, versuchte Franziska ihren Bruder zu trösten. Von ihr aus hätten die Ferien noch nicht kommen müssen. Ihr machte die Schule Spaß. Wissbegierig sog sie alles Neue in sich auf und das Lernen fiel ihr viel leichter als ihrem kleinen Bruder.

»Ja, aber alle denken immer, weil ich dein Bruder bin, muss ich auch so klug sein.«

»Aber du bist doch auch klug, nur eben anders als ich«, machte Franzi ihrem Bruder liebevoll klar.

»Ich kann vielleicht besser schreiben und schneller rechnen, aber du kannst viel bessere Buden bauen und mein Fahrrad kannst du auch besser reparieren!«

»Du hast recht«, stimmte Alex seiner Schwester erleichtert zu. Und außerdem half ihm Franzi ja auch immer bei den Hausaufgaben. Und sowieso war ihm das jetzt doch egal, morgen noch das dumme Zeugnis abholen und dann: Ferien!

Am nächsten Morgen brachen die Geschwister gemeinsam zur Schule auf. Wer sie von hinten sah, dachte zwangsläufig, es wäre der große Bruder mit seiner kleinen Schwester. Der braunhaarige Alex überragte seine zierliche blonde Schwester fast um einen ganzen Kopf. Franzi trug ihre blonden Locken neuerdings immer offen, nachdem sie sich erfolgreich gegen die von der Mutter bevorzugten Zöpfe gewehrt hatte. Sie war fast 13, nicht drei Jahre!

An der letzten Hausecke vor der Schule trennten sie sich. Nun ging jeder für sich auf seine Freunde, die schon in Grüppchen zusammenstanden, zu.

»Hallo, Verena!«, begrüßte Franzi ihre beste Freundin. Sie hatte nicht gleich von Anfang an eine richtige Freundin gehabt. Erst als Verena in die Klasse kam, freundeten sie sich an und waren schon bald unzertrennlich, obwohl sie einige Kilometer voneinander entfernt wohnten. Doch zum Glück hatte der Opa dann seiner Enkelin ein Fahrrad geschenkt, und die Entfernung war nicht mehr so schlimm.

»Ich kann noch gar nicht glauben, dass unsere Klasse heute zum letzten mal so zusammen ist.« Was Franziska bis jetzt in ihren Gedanken verdrängt hatte, machte sich nun, angesichts der fröhlich plappernden Mitschüler, deutlich bemerkbar.

»Glaub mir, so schlimm ist das gar nicht«, antwortete Verena. »Ich dachte das auch erst, als wir umgezogen sind, aber dann waren doch alle ganz nett und außerdem haben wir uns ja dadurch getroffen.« Das war sicher richtig, doch in Franziska machte sich eine Angst davor breit, was in der neuen Schule passieren würde.

Die Klingel rief die Kinder ins Klassenzimmer. Offiziell war noch eine Stunde Unterricht, ehe die Zeugnisse ausgegeben wurden. Doch an lernen dachte heute keiner mehr. Als die Lehrerin fragte, ob sie noch was gemeinsam lesen wollten, schallte es wie ein Chor durch den Klassenraum: »Der brave Schüler Ottokar«. Obwohl alle das Buch kannten, konnten sie nicht genug davon bekommen. Es war wie ein guter Film, den man immer wieder ansehen kann.

»Also gut«, lächelte Frau Breitling und begann zu lesen:

»Über die Schönheit unserer Namen … Für Knaben ist es schon schwerer, solch einen klingenden Namen zu finden, worunter es sehr seltene gibt. Zum Beispiel bekam der Sohn einer Mutter, welche manchmal in unserer Heimatzeitung dichtet, den seltenen Namen RainerMaria Senf. Warum er einen Mädchennamen angehängt kriegte, weiß ich nicht. Vielleicht ist bei der Geburt etwas verpatzt worden. Es wird sich später in der Schule herausstellen, auf welche Toilette er geht, und man muß das testen.«

Die Klasse bog sich vor Lachen. Auch Franziska mochte das Buch und lachte über den herrlichen Wortwitz. Doch bei den nächsten Kapiteln hörte sie schon nicht mehr richtig zu. Sie dachte über die Veränderungen nach, die sie nicht aufhalten konnte, und die doch kommen würden. Ihre alte Schule wurde geschlossen. Die Kinder wurden ab dem nächsten Schuljahr in andere Schulen aufgeteilt. Selbst auf Geschwister hatte das Amt keine Rück-

sicht genommen. Nach den Ferien musste Alexander in eine andere Schule als Franziska gehen, genau wie viele ihrer Mitschüler. Franzi schüttelte sich innerlich, sie hasste Veränderungen, und sie hasste Trennungen.

 

Das laute Lachen der Mitschüler riss Franzi aus den Gedanken. Und nun klingelte es auch schon zur Pause, die letzte hier, doch keiner außer ihr schien das zu bemerken.

»Na Kinder, dann wollen wir mal!« Frau Breitling stand am Lehrertisch, vor sich den Stapel mit den Zeugnissen. »Ihr habt alle fleißig gelernt in diesem Schuljahr. Und so muss keiner Angst haben, alle sind in die 7. Klasse versetzt.« Von einigen war ein deutliches Aufatmen zu vernehmen.

Frau Breitling nahm nacheinander die Zeugnisse vom Tisch und rief die Kinder nach vorne. Für jeden hatte sie noch ein nettes Wort, eine freundliche Geste. Sie hatte diese muntere Schar in den vergangenen zwei Jahren richtig lieb gewonnen und die Jungs und Mädchen mochten sie auch.

Nun lag nur noch ein Zeugnis auf dem Tisch.

»Und das beste Zeugnis bekommt auch dieses Jahr wieder unsere Franziska Zandler. Daran könnt ihr sehen, auch kleine Leute können ganz schön viel Grips haben!« Die anderen klatschten und Frau

Breitling beugte sich zu Franzi herunter und übereichte ihr noch ein Buch als Anerkennung.

Franziska ging zu ihrem Platz und setzte sich neben Verena, während Frau Breitling vorne tief durchatmete.

»Nun müssen wir uns voneinander verabschieden. Ich wünsche euch alles Gute in der neuen Schule! Ihr werdet das schon schaffen! Aber erst einmal sind Ferien, draußen lacht die Sonne. Ihr könnt heute noch ins Schwimmbad gehen. Viele von euch werden mit den Eltern verreisen oder ins Ferienlager fahren. Habt viel Spaß in den Ferien und kommt gut erholt zurück. Und noch was, zeigt ruhig, dass ihr was gelernt habt und blamiert mich nicht!«

Ein leises Kichern ging durch die Reihen, ehe die Kinder aufstanden, um sich nach und nach von ihrer Klassenlehrerin zu verabschieden und nach draußen zu gehen.

»Kommst du mit ins Bad?«, wollte Verena von Franziska wissen.

»Nein, ich werde nachher noch der Mutti beim Packen helfen, wir fahren ja morgen zu den Großeltern nach Halle. Ich bleibe noch zwei Wochen dort.«

»Das ist schade, wenn du wieder kommst, bin ich bei meinen Großeltern. Aber wir können uns ja Briefe schreiben.«

Die Freundinnen verabschiedeten sich mit einer langen Umarmung und gingen in verschiedene Richtungen heimwärts.

Auf dem Heimweg trafen Franziska und Alexander wieder zusammen. »Und«, fragte Franzi ihren Bruder, »wie sieht dein Zeugnis aus?« »Na ja, es geht so. Aber wenigstens sagt im nächsten Schuljahr kein Lehrer mehr zu mir, ich soll mir an dir ein Beispiel nehmen. Die kennen dich dann nämlich gar nicht!« Alexanders Erleichterung war nachvollziehbar und linderte ihren eigenen Schmerz ein wenig.

Zu Hause liefen die Geschwister gleich in die Küche, wo ihre Mutter schon bei den Vorbereitungen für das Mittagessen war.

»Na, zeigt mal her!«, forderte sie die Kinder auf.

»Hier Mutti, ich bin wieder Klassenbeste! Und ein Buch habe ich auch noch bekommen!« Voller Freude hielt Franzi ihr Zeugnis in die Höhe.

»Ich hatte nichts anderes erwartet, leg es zum Unterschreiben in die Stube.« Franziska schluckte heftig, als sie sah, wie die Mutti ihren Bruder in den Arm nahm. »Und du, mein Süßer, zeig doch mal,

wie es geworden ist. Na super, ich bin stolz auf dich!«

Mit ihrem Zeugnis lief Franziska aus der Wohnung. Sie musste erst mal hier weg. Nebenan wohnte ihre Oma Klara, die Mutter ihres Vaters. Ohne zu klopfen stürmte sie in die gute Stube der Großmutter. »Oma, ich bin wieder die Beste! Aber Mutti hat sich gar nicht richtig gefreut. Den Alex hat sie gedrückt, mich gar nicht.« Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Ach Franzi, du weißt doch, der Kronsohn geht ihr über alles, nimm es nicht so schwer. Warte nur, bis dein Vati kommt, der freut sich bestimmt ganz doll, und ich auch! Hier, meine Große, kauf dir was Schönes!« »Danke, Oma!« Franziska umarmte ihre Oma. Die 10 Mark waren schon gut, aber Omas liebe Worte waren mehr wert.

Beim Mittagessen hatte sich Franzi wieder beruhigt. Es war ja nichts Neues, die Zuneigung war in der Familie gleichmäßig verteilt, Mutti liebte besonderes ihren Sohn und Franziska war eben das Papakind.

Am Nachmittag half sie der Mutter beim Sachen packen. Franzi sollte ja zwei Wochen in Halle bleiben, da wollte alles gut durchdacht sein. Ihr wäre ja lieber gewesen, wenn Alex auch mit bei den Großeltern geblieben wäre, aber so viel Platz gab es dort nicht. Es gab eigentlich schon genug Platz, aber er war eben blöd verteilt. Wieso brauchten aber auch zwei Leute, die verheiratet waren, gleich zwei Schlafzimmer? So musste Alexander am Abend wieder mit den Eltern zurück fahren.

Franzis Tasche war gerade fertig gepackt, als der Vati von der Arbeit kam. »Na, mein Mädchen, wie viel Einsen gab es?« Franzi flog auf ihren Vati zu.

»Jede Menge, Vati. Nur in Sport eine Zwei!« Franz Zandler fing seine Tochter auf und hob sie bis unter die Decke, ehe er ihr einen Kuss gab. Franzi klammerte sich an ihm fest und genoss dieses wohlige Gefühl, von ihrem Vati so geliebt zu werden. Oma hatte recht.

2

»Kinder, los jetzt, raus aus den Federn, sonst fährt der Bus ohne uns!« »Ach, das sollen nun Ferien sein, nicht mal ausschlafen kann man«, kommentierte Alexander ziemlich mürrisch die Aufforderung seiner Mutter. Doch wenig später saßen beide Kinder fix und fertig angezogen mit den Eltern am Frühstückstisch.

Es war nicht weit bis zum Busbahnhof und als die vier dort ankamen, fuhr der Bus gerade an der Haltestelle vor. An diesem frühen Samstagmorgen war der Bus nicht voll und so konnten sich alle ein schönes Plätzchen suchen. Franzi und Alex saßen hintereinander, damit jeder einen Fensterplatz hatte. Der groß gewachsene Junge beugte sich von hinten über die Lehne und begann ein Gespräch mit seiner Schwester.

»Verstehst du, warum immer nur einer von uns in Halle bleiben kann?« »Ach Alex, du weißt doch, wie es bei Oma und Opa zugeht. Ich muss mal danach fragen, warum das so ist«, versprach Franziska ihrem Bruder.

Gleichmäßig summend fuhr der Bus übers Land bis er nach fast zwei Stunden in Halle am Busbahnhof hielt. Der Vater nahm die Taschen und die

Mutter die Kinder an die Hand, schließlich waren sie die Großstadt nicht gewöhnt. Vor allem Franziska war der Verkehr und ganz besonders die Straßenbahnen nicht geheuer. Es kostete sie jedes Mal große Überwindung, überhaupt einzusteigen. Auch heute dauerte ihr die Fahrt bis zum Stadtrand viel zu lange. Und es war mit dem Aussteigen nicht vorbei. Von der Haltestelle bis zu den Großeltern war noch ein Fußweg zurück zu legen, der unter einer Eisenbahnbrücke hindurch führte. Während alle ganz normal unter der Brücke entlang liefen, versicherte sich Franzi jedes mal erst lange, ob kein Zug kam, um dann blitzschnell loszurennen. Erst hinter der Brücke drehte sie sich völlig außer Atem um. Geschafft!

»Franzi hat Schiss!«, rief Alexander schadenfroh hinter seiner Schwester hinterher. Er kannte ihre Ängste und ärgerte sie ganz gerne damit. Er hatte keine Angst vor Zügen oder Straßenbahnen und er war drei Jahre jünger. Was Mädchen manchmal so hatten!

Als sie um die nächste Ecke bogen, sahen sie schon den Opa Paul am Zaun stehen. Die Kinder liefen auf ihn zu. Bestimmt hatte er Schokolade zur Begrüßung mit raus gebracht.

»Na ihr zwei Racker, da habe ich was für euch!« Die Kinder streckten dem Opa die Hände entgegen und wie erwartet bekam jeder eine kleine Tafel Milchschokolade.

»Franz, Gudrun, schön euch zu sehen!«, begrüßte der Opa die Eltern und im nächsten Moment kam auch die Oma Hilde aus dem Haus. Sie schloss ihre Tochter in die Arme. »Wie geht´s, alles in Ordnung? Kommt rein!« Eine Antwort wartete sie gar nicht ab und bugsierte die ganze Familie samt Gepäck in den Flur. »Mit dem Essen dauert es noch. Alexander und Franziska, ihr könnt noch im Garten spielen. In der großen Zinkwanne ist auch Wasser und das ist schon warm. Wer will, kann später darin baden.«

Aber erst einmal setzten die Kinder kleine Holzschiffe aus der Spielzeugkiste in die Zinkwanne und schoben sie hin und her. Mitten in das Spiel drängte sich plötzlich ein Geräusch, das Franziska sofort aufschreckte. »Ein Zug!« Wie in Panik stürzte sie aus dem Garten, der an die Gleisanlagen grenzte, nach vorne zum Haus. Sie riss die Tür auf, rannte in den Flur und verkroch sich in der hintersten Ecke. Erst als das Fahrgeräusch des Zuges nicht mehr zu hören war, kam sie wieder vor.

Franziska setzte sich auf die Bank und beobachtete die Hühner in ihrem Auslauf. Das sind nur dumme Hühner, dachte sie, aber die haben keine Angst. Ich bin ein kluges Mädchen und renne vor einem Zug weg, der nur hier vorbei fährt. Sie verstand sich selbst nicht.

Nach dem Mittagessen verbrachte die Familie den Nachmittag im Garten. Nur ab und zu störte das Geräusch eines herannahenden Zuges die Idylle, wenn Franziska wieder kopflos davonlief. Der Opa nahm sie in den Arm und machte ihr Mut. »Du musst keine Angst haben, es passiert nichts. Ich beschütze dich, mein kleines Goldlöckchen!«

Sie saßen alle noch gemeinsam bei Kaffee und Kuchen bis sich Franzis Eltern und Alexander verabschieden mussten, um den Bus nicht zu verpassen. Es war doch ein langer Weg nach Hause.

»Hier, nehmte euch noch frische Eier mit!« Die Oma drückte ihrer Tochter einen Karton in die Hand. »Und wenn ihr Franzi abholt, gibt es neue.« Die Hühner legten gerade recht gut.

Ein bisschen tat es dem Mädchen leid, nicht mit nach Hause zu können, doch andererseits freute sie sich auch auf die Zeit mit den Großeltern. Besonders der Opa würde sie wieder richtig verwöhnen.

Am Abend brachte die Oma ihre Enkelin ins Bett in ihrem Schlafzimmer. Sie schlief in der Zeit, wenn ein Enkelkind bei ihnen war, immer auf dem Sofa.

»Oma«, fing Franziska an zu fragen, »warum kannst du nicht mit dem Opa in einem Schlafzimmer schlafen, wie meine Eltern?« Die Oma drehte ihr Gesicht etwas zur Seite. »Ach Kind, das ist besser so. Und außerdem schnarcht der Opa ziemlich laut.« Franzi hatte den Opa noch nie schnarchen hören, aber sie schlief ja auch fest in der Nacht. Die Oma würde es schon wissen.

Der Sonntag war warm und sonnig, wie schon die Tage vorher. Am frühen Nachmittag sagte der Opa zu Franziska: »Die Oma geht nachher zur Nachbarin, das ist nichts für uns. Wollen wir an die Saale fahren und Eis essen?«

»Au ja!«, jubelte Franzi. Doch im nächsten Moment blickte sie ängstlich. »Opa, müssen wir unbedingt mit der Bahn fahren?« Diese Angst vor Schienenfahrzeugen war größer als ihre Freude auf ein Eis.

»Nein, aber nur weil du es bist!«, stimmte der Opa ihrem unausgesprochenen Vorschlag zu. Dann will ich das gute Stück mal aus der Garage holen.«

Der Opa war jetzt Rentner, aber früher hatte er eine gut gehende Schlosserei gehabt. Aus dieser

Zeit stammte das Auto, ein betagter F8 Kombi mit Holzaufbau. Oft fuhr er nicht mehr damit, aber wenn er seiner Enkelin damit eine Freude machen konnte, dann war das Grund genug für eine Ausnahme.

Er öffnete das Garagentor. Der Anlasser ratterte und in einer Wolke aus Auspuffgasen rumpelte das Vehikel auf die Straße.

»Na, dann wollen wir mal. Sag noch schnell Oma auf Wiedersehen und dann steig ein!«

Ach, das war ein Gefühl, herrlich so neben dem Opa durch die Straßen in Richtung Saale zu fahren. Franzi hatte die Seitenscheibe heruntergekurbelt und ließ sich den Fahrtwind um die Nase wehen. Ihr blonden Locken flatterten und glänzten mit der Sonne um die Wette.

Am Saaleufer angelangt, parkte der Opa vor einem Lokal, wo Tische mit bunten Schirmen auf der Terrasse standen. Sie setzten sich und bestellten Eis für Franzi und Kaffee für den Opa. Franzis Blick ging zum anderen Ufer, wo sich die Burg Giebichenstein stolz über dem Fluss erhob. Sie mochte diesen Blick. Man müsste es malen, es ist so schön, dachte sie bei sich.

»Guten Tag Paul!« Eine Stimme riss Franziska aus ihren Gedanken. »Kann ich mich zu euch setzen?«

»Helene! Ja, setz dich doch.« Der Opa schien erstaunt zu sein, aber er kannte die Frau, das merkte Franzi gleich.

Aus den Augenwinkeln beobachtete Franziska die fremde Frau. Sie war bestimmt mal sehr hübsch gewesen. Sie hatte ganz weißes Haar mit schönen Locken. Aber ihre Haut sah blass aus, ihre Wangen waren eingefallen und sie atmete schwer.

 

»Ist sie das?«, stellte die Frau dem Opa eine Frage. Der Opa nickte und Franzi blickte verwundert, denn offensichtlich war sie damit gemeint.

»Sie sieht ihr ähnlich«, sprach die Frau weiter. Der Opa drehte sich weg und wischte sich über die Augen.

Franziska hatte inzwischen ihren Eisbecher leer gegessen.

»Franzi, möchtest du nicht ein bisschen am Ufer die Enten füttern gehen?«

»Ja Opa, das mache ich.« Franzi verstand, dass er mit der Frau lieber alleine sprechen wollte, dabei hätte sie doch auch gerne erfahren, wer das war und was das alles bedeutete. Sie hörte nur noch, wie der Opa die Frau wieder ansprach.

»Entschuldige Helene, aber geht es dir nicht gut? Du siehst müde aus.«

»Nein, es geht mir wirklich nicht gut«, antwortete die Frau. »Ich habe nicht mehr lange zu leben. Ich habe Krebs im Endstadium, da ist nichts mehr zu machen. Ich wollte nur noch ein paar Sonnenstrahlen erhaschen, ehe es für immer um mich kalt und dunkel wird. Und ich bin so froh, dass ich euch getroffen habe, dass ich die Kleine noch einmal sehen konnte.«

Sie trank ihre Tasse Kaffee aus und erhob sich.

»Machs gut, Paul. Und pass gut auf sie auf!« Helene drehte sich noch einmal um, als sie zum Ufer ging. Dort strich sie der erstaunten Franziska übers Haar, die ihr verwundert nachschaute.

Als Franzi zum Opa zurück kam, sah sie, dass er geweint hatte.

»Opa, was hast du? Was ist mit der Frau?«

Paul schaute seine Enkeltochter an. »Das war eine alte Freundin und nun ist sie krank und stirbt bald.«

»Oh, das ist traurig.« Franzi streichelte dem Opa tröstend über den Arm.

Sie hätte ihn gerne noch gefragt, wem sie ähnlich sehen sollte, aber sie wollte nicht, dass er noch trauriger wurde, also ließ sie es lieber.

Die nächsten Tage waren ausgefüllt mit fröhlichem Spiel mit ihrer Freundin Gabi, ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Gabi war ein Einzelkind und hatte so viele Spielsachen, dass man jede Stunde etwas anderes hätte nehmen können. An den Wochenenden war sie immer mit den Eltern unterwegs zu Ausflügen, aber in der Woche war sie froh, eine Spielgefährtin zu haben.

Am Freitag erreichte die sommerliche Hitze ihren Rekord und am Mittag zogen dunkle Wolken auf, die sich schon bald in einem heftigen Gewitter entluden. Die beiden Mädchen saßen in Gabis Zimmer, dicht aneinander gekuschelt und zuckten bei jedem Blitz und jedem Donner zusammen. Der Regen fiel so dicht, dass man die Hand vor Augen nicht sehen konnte. Auf den Straßen ergossen sich wahre Sturzbäche. Und dann war mit einem mal Schluss. Doch erst jetzt nahmen die Menschen das ganze Ausmaß des Unwetters wahr. Das Wasser war in die Keller eingedrungen, die Gärten waren verwüstet und Straßen unpassierbar. Ein Nachbarsjunge brachte die Nachricht zu Gabi:

»Die Bahnbrücke steht unter Wasser. Los, wir wollen hin gehen. Ehe die Feuerwehr das alles weggepumpt hat, können wir noch prima drin schwim-

men.« Die Kinder der Siedlung kannten dieses Phänomen.

»Klar, ich komme mit«, stimmte Gabi dem Plan zu und blickte fragend zu Franzi.

»Ich muss erst fragen, ob ich darf«, warf Franzi ein.

»Ich komme mit, und wenn ich frage, darfst du bestimmt.«

Das war es nun nicht, was Franziska gewollt hatte, aber Gabi war schon auf dem Weg.

So zogen sie bald darauf los. Eine ganze Kinderschar bewegte sich in Richtung Bahnbrücke, wo schon reges Treiben herrschte. Da diese Brücke nur eine Nebenstraße war, kam die Feuerwehr erfahrungsgemäß nicht so schnell. Und auch Franzi fand sich schon bald in dem lustigen Treiben wieder.

Bis ihr plötzlich fast das Herz stehen blieb. Das Rattern, das Pfeifen, ein Zug! Nur, wohin jetzt so schnell laufen? Und die anderen Kinder würden sie bestimmt auslachen. Mit 12 noch vor einem Zug weglaufen! Sie drückte sich ganz eng an die Mauer. Ein Vibrieren ging durch das ganze Bauwerk. Sie hielt die Luft an, und dann, dann war es auch schon vorbei. Franzi atmete tief durch. Und in ihr kam eine große Freude auf: Ich habe es geschafft, die Angst endlich überwunden!

Am Abend schrieb sie schließlich den versprochenen Brief an ihre Freundin Verena: »Liebe Reni, ich bin heute zum ersten Mal nicht vor der Eisenbahn weggelaufen und wenn wir uns wieder sehen, muss ich dir ganz genau erzählen, was ich hier erlebt habe… Liebe Grüße! Deine Franzi«

»Opa, morgen fahre ich doch wieder nach Hause«, begann Franzi vorsichtig. Sie wollte den Opa um etwas bitten.

»Na, frag schon, was hast du auf dem Herzen?« Ihr Opa hatte das Mädchen längst durchschaut.

»Können wir noch mal runter zur Saale fahren? Ich möchte so gerne die Burg oben auf dem Felsen malen.« Franziska bekam zu Hause seit einigen Jahren einmal in der Woche zusätzlichen Zeichenunterricht. Sie war nicht untalentiert und es machte ihr großen Spaß. »Meinen Zeichenblock und die Stifte habe ich mit.«

»Wie kann ich denn da noch nein sagen?«, erwiderte der Opa lächelnd.

Franzi wollte eigentlich die Gelegenheit nutzen, um den Opa noch mal auf die fremde Frau anzusprechen. Doch als sie bemerkte, dass die Oma heute auch mitkommen würde, wusste sie, dass daraus nichts werden würde.

Am Saaleufer machte Franziska es sich auf einem großen Stein gemütlich und begann ihre Skizzen. Schon bald entstand vor ihr auf dem Papier ein Abbild dessen, was sie oben auf dem Felsen über der Saale sah. Zu Hause wollte sie das Bild in Linoleum schneiden. So konnte man von einem Motiv viele Drucke fertigen. Diese Ansicht war einfach zu schön für nur ein Bild!

Zum Abschluss kehrten sie noch einmal in das Terrassenlokal ein und Franzi verdrückte einen großen Eisbecher mit Sahne. Es war doch gar nicht so schlecht, mit Oma und Opa allein etwas zu unternehmen!

»Franzi! Wir kommen!!!« Alexanders Ruf ertönte so lautstark, dass man es gar nicht überhören konnte. Kurz darauf kamen auch die Eltern um die Ecke und Franziska lief ihnen entgegen.

»Na sag mal, bist du gewachsen?« Der Vater schaute seine Tochter erstaunt an. Franzi sah gesund aus, hatte offensichtlich sogar zugenommen und bekam so langsam frauliche Formen, die sich unter ihrem dünnen Sommerkleid deutlich abzeichneten.

»Weißt du was«, fing Alex an, auf seine Schwester einzureden »ich bin direkt froh, wenn du wieder da

bist. Ich durfte nicht mal alleine ins Schwimmbad gehen!« Franzi lachte. Das war ja schön, wenn sie wenigstens von einem vermisst wurde.

Als die Familie sich später auf den Weg zum Bus machte, staunte der Vater zum zweiten Mal über seine Tochter. Er wollte sie gerade an die Hand nehmen und ihr helfen, in die verhasste Straßenbahn zu steigen, als Franziska ganz alleine einstieg. Ja, Franziska war gewachsen, äußerlich und innerlich.