Zweitsommer

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Zweitsommer

Impressum

Voller Trauer

Kinderseelen

Schockierende Entdeckung

Erinnerungen

Verzweifelte Suche

Gefunden!

Reisepläne

László

Heimkehr

Epilog

Isolde Kakoschky

Isolde Kakoschky

Zweitsommer

Roman

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar. ´

Print-ISBN:978-3-96752-050-7

E-Book-ISBN: 978-3-96752-550-2

Copyright (2019) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter

Coverbild: Isolde Kakoschky

Buchsatz: Alfons Th. Seeboth

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Voller Trauer

Berit atmete tief durch, ehe sie aus dem Auto stieg und auf die Fernbedienung drückte. Das Geräusch der Verriegelung erschien ihr heute unnatürlich laut zu sein. Oder war sie momentan nur überempfindlich? Sie lief den Gartenweg entlang zur Eingangstür und ärgerte sich zum wiederholten Mal, dass die Bodenplatten locker waren. Irgendwann würde jemand stolpern und sich verletzten. Aber wie so vieles, was eigentlich am Haus hätte repariert werden müssen, blieb es liegen. Daniel investierte alle seine Kraft in sein Geschäft und das seit Jahren. Es musste zwangsläufig einiges andere auf der Strecke bleiben. Noch einmal ging ein Seufzer durch ihre Brust, dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.

»Guten Abend Schatz, da bist du ja! Habt ihr alles erledigen können? Ich habe schon mal was zum Abendessen vorbereitet. Bestimmt hast du Hunger.« Daniel steckte seinen Kopf aus der Küche und hauchte seiner Frau einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

Berit hängte ihre Jacke an die Garderobe und ließ sich auf einen Stuhl in der Diele fallen. Eben noch hatte sie im Auto gesessen, doch sie fühlte sich so schlapp, als wäre sie kilometerweit gelaufen. »Eigentlich habe ich gar keinen Appetit«, erwiderte sie ihrem Mann, »doch wahrscheinlich hast du recht, ein wenig muss ich wohl essen.«

Daniel gesellte sich zu ihr. »Ich weiß, das ist jetzt alles andere als leicht für dich, schließlich ist dein Vater gerade einen Tag tot. Das ist ein schwerer Einschnitt in dein Leben; es wird dauern, bis du es begriffen und verarbeitet hast. Ich hätte dich und Jana doch auch gerne zum Bestatter begleitet, aber ich kann nicht einfach das Geschäft allein lassen.« Er sah seine Frau mit einem um Verständnis bittenden Blick an.

Daniel hatte sich vor mehr als 15 Jahren mit einem Ersatzteilhandel selbständig gemacht und es nie bereut, auch wenn die Geschäfte gerade nicht mehr so gut liefen wie ganz am Anfang. Eine Zeit lang hatte er sogar drei Mitarbeiter gehabt und Arbeitsplätze in dieser strukturschwachen Region geschaffen, doch nun war es seine Schwester, die ihm als einzige Angestellte im Büro und im Laden unter die Arme griff. Aber gerade jetzt war Marion mit ihrem Mann im Urlaub. Es tat ihm wirklich leid, dass er seine Frau nicht unterstützen konnte und sie mit ihrer Schwester Jana allein alle Wege erledi-

gen musste. Berits Mutter hatte einen Schwächeanfall erlitten, als sie ihren Mann tot im Bett fand. Auch um sie musste sich gekümmert werden. Aber den Laden einfach schließen? Nein, das hatte er nicht gewollt. Wer einmal vor verschlossener Tür stand, der kam nicht wieder, war seine Erfahrung.

Berit legte ihrem Mann die Hand auf den Arm. Sie verstand ihn ja. Aber verstand er sie auch? Ihre Ehe war in die Jahre gekommen. Vor drei Jahren hatte Berit ihren 50. Geburtstag gefeiert. Die Silberhochzeit hatten sie längst hinter sich. Ihr Sohn Markus war seit ein paar Jahren verheiratet und hatte seine Eltern schon zu Großeltern gemacht. Nur ihr Nesthäkchen Julia wohnte noch zu Hause und kämpfte sich gerade erfolgreich durch die 11. Klasse des Gymnasiums.

Stumm saßen Berit und Daniel sich gegenüber, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Was war das doch einmal für eine himmelstürmende Liebe gewesen! Sie hatten ihre Beziehung schon als Jugendliche vor der Welt verteidigt und gewusst, dass sie füreinander geschaffen waren und eine Familie gründen wollten. So lange war das her. Da war Berits Vater noch Abteilungsleiter in der Kreisverwaltung gewesen, dem Rat des Kreises, wie es damals genannt wurde. Mit der Umstrukturierung nach der Wende hieß es für ihn, in den Ruhestand zu gehen. Die Mutter hatte noch ein paar Jahre eine

Bürotätigkeit bei einer der diversen neuen Krankenkassen ausgeübt, bis auch sie in Rente ging. Berits Eltern waren alt geworden. Das eine oder andere Zipperlein hatte sich eingestellt. Und doch kam der Tod des Vaters vollkommen überraschend und sie konnte sich auch noch gar nicht richtig vorstellen, dass er nicht mehr da war.

Daniel durchbrach die Stille. »Du, ich müsste noch mal kurz rüber in den Laden. Ich möchte wenigstens das Nötigste an Papieren ordnen, damit Marion nicht das blanke Chaos vorfindet, wenn sie wieder da ist. Oder soll ich besser bei dir bleiben?« Jetzt huschte doch ein leichtes Schmunzeln über Berits Gesicht. Sie kannte ihren Mann einfach zu gut. »Nein, lass nur, du kannst noch mal rüber gehen. Ich bin doch nicht krank und Julia wird bestimmt auch bald kommen.«

Daniel strich seiner Frau sanft übers Haar. »Bis gleich, Schatz, ich beeile mich.«

Berit räumte das Geschirr in die Küche und ging dann ins Wohnzimmer. Es war geräumig und hatte Fenster in zwei Richtungen, außerdem eine Tür zur Terrasse. Im Halbdunkel stand sie da und sah hinaus.

Damals, als sie anfingen hier zu bauen, war der Blick noch frei gewesen. Man konnte bis zur Kirche sehen. Jetzt waren im Laufe der Zeit die Bäume, die während der intensiv betriebenen Aufforstungen

Mitte der 80er Jahre angepflanzt worden waren, so groß und dicht, dass sie einer undurchschaubaren Hecke glichen. Wie hatten sie sich gefreut, diesen Bauplatz am Stadtrand gefunden zu haben! Das Gebiet war nach dem 2. Weltkrieg erschlossen worden, um dort Neubauern anzusiedeln. Doch nicht jede Parzelle war belegt worden. Als junge Familie hatten sie damals die Chance erhalten, ihr eigenes Häuschen zu errichten.

Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, von hier weg zu gehen, viel zu sehr liebte sie ihre Heimatstadt, die sich in das enge Flusstal der Wipper zwängte. Die kleinen Häuser, in denen früher die Bergarbeiter gewohnt hatten, drängten sich rechts und links des Flusses an den Hängen dicht an dicht. Doch hier oben, wo die Stadt an die weitläufigen Felder grenzte, da war genug Platz gewesen. Der Bergbau war zu der Zeit schon als Geschichte in der näheren Umgebung abgehakt, lediglich die großen und weithin sichtbaren Abraumhalden kündeten von der jahrhundertealten Tradition. Doch das große Walzwerk und die Kupferhütten hatten den Einwohnern Arbeit und ein gutes Auskommen gesichert.

Freilich, die jungen Leute hatten oft kämpfen müssen um das knappe Baumaterial, jeder Sack Zement, den man ergatterte, war ein Erfolg. Und nun rostete das Gartentor vor sich hin und die

schwer errungenen Natursteinbodenplatten lagen lose auf dem Weg und zerbröselten wie ihre Beziehung.

Berit drehte sich um. Der Bewegungsmelder hatte die Hausbeleuchtung aufflammen lassen, jedenfalls einen Teil davon. Im Schein der einzigen, funktionierenden Glühbirne sah sie zwei eng umschlungene Gestalten. Obwohl sie den Abnabelungsprozess eines Kindes bereits bei ihrem Sohn erlebt hatte, konnte sie sich doch jetzt bei Julia noch nicht damit abfinden, dass ihr kleines Mädchen eigene Wege ging. Und wenn sie ehrlich war, ihren zukünftigen Schwiegersohn hatte sie sich auch etwas anders vorgestellt. Sie war durch ihre Arbeit bei einer Jugendeinrichtung des Landkreises durchaus offen gegenüber den Erscheinungen der Jugendkultur, doch musste ausgerechnet ihre Julia einen Jungen anschleppen, der so düster wirkte, der gepierct und tätowiert war? Sie war froh, als die Tür klappte und ihre Tochter wohlbehalten in die Diele trat.

Julia schaltete das Licht an. »Mama, du stehst ja hier im Dunkeln.« Das Mädchen drückte die Mutter an sich. »Wie geht es dir? Ich war auch den ganzen Tag heute so traurig, dass Opa nicht mehr lebt. Aber Basti hat mich ganz lieb getröstet. Wir haben Musik gehört und er hat mir Gedichte vorgelesen,

 

das war voll schön! Ich bin so froh, dass ich ihn gefunden habe.«

Berit unterdrückte eine erstaunte Bemerkung und versuchte ein Lächeln.

»Ach, es geht soweit. Wollen wir noch etwas fernsehen und uns ablenken?« Julia nickte zustimmend und so kuschelten sich Mutter und Tochter gemeinsam in die Sofaecke und folgten einem Liebesfilm.

Als Daniel vom Geschäft zurückkam, waren beide eingeschlafen. Während Julia sich später in ihr Zimmer zurückzog, blieb Berit auf dem Sofa liegen. Ihr unruhiger Schlaf war von Träumen durchzogen, in denen sie selbst ein Mädchen war, kaum älter als ihre Julia heute. Auch sie hatte an der Haustür gestanden und sich mit ihrem Freund geküsst. Doch ihr Empfang durch die Mutter war so ganz anders gewesen.

»Was soll das?«, hörte sie die aufgebrachte Stimme ihrer Mutter wieder fragen. »Willst du wirklich mit einem dreckigen Schlosser zusammen leben?« Berits Tränen hatten die Mutter nicht erreicht. Erst als sich der Vater einmischte, hatte die Mutter eingelenkt, wohl in der Hoffnung, dass sich das Problem noch von selbst lösen würde.

Als Berit aufwachte, schien ihr die Morgensonne ins Gesicht. Im Haus war es ruhig und kündete davon, dass Daniel im Geschäft und Julia in der Schule war. Bruchstückhaft kam ihr der Traum wieder in Erinnerung. Sie lächelte einen Moment in sich hinein. Heute war ihre Mutter überzeugt, dass es keinen besseren Schwiegersohn geben könnte als Daniel. Na ja, Kunststück, dachte Berit bei sich, schließlich hat sie ja nur einen! Jana war glücklicher Single aus Überzeugung und würde wohl auch nicht mehr heiraten. Dabei war sie eine sehr aparte Frau mit ihren nun auch bald 50 Jahren. Aber es war wirklich dem Vater zu verdanken gewesen, dass die Mutter bereit war, Daniel näher kennen zu lernen und ihre Vorurteile schmolzen wie Schnee in der Sonne. Durch seine strebsame, fleißige Art hinterließ er nur den besten Eindruck und war bald Schwiegermutters Liebling. Als Berit die Oberschule abschloss, konnte man schon sagen, dass die beiden ein festes Paar waren. Und daran sollte sich auch nichts mehr ändern.

Berit stieg die Treppe hinauf und ließ sich erst einmal ein Bad einlaufen. Dann stand sie suchend vor dem Kleiderschrank, schließlich hatte sie die Nacht in ihren Sachen verbracht. Sie musste sich so oder so von Kopf bis Fuß umziehen. Gestern hatte sie eine graue Jacke und einen grauen Pulli angezogen, das erschien ihr durchaus angemessen. Doch heute musste sie direkt zu ihrer Mutter gehen, die erwartete mit Sicherheit schwarze Trauer-

kleidung. Berit mochte schwarz nicht. Gerade jetzt, im Frühling, hätte sie lieber luftige, bunte Kleidung getragen, doch bis zur Beerdigung kam sie wohl nicht um eine gewisse Kleiderordnung herum. Ganz hinten im Schrank entdeckte sie eine schwarze Bluse, die hatte sie einmal zur Beerdigung einer Tante angehabt. Ein Glück, sie passte noch! Dazu das schwarze Kostüm, welches für gelegentliche offizielle Anlässe parat hing, so konnte sie der Mutter entgegen treten.

Jana hatte die Nacht bei der Mutter verbracht und Berit war ihrer Schwester dankbar gewesen. Nun machte sie sich auf den Weg in die Altstadt zur Wohnung ihrer Eltern.

»Da bist du ja endlich«, empfing Jana ihre Schwester. »Mama hat schon nach dir gefragt.« Gemeinsam gingen sie ins Wohnzimmer, wo die Mutter auf dem Sofa saß und blicklos ins Leere zu starren schien. Der Tod ihres Mannes hatte sie schwer getroffen. Berit setzte sich zu ihr und legte den Arm um ihre Schultern. Sie hätte sie trösten wollen, doch eigentlich brauchte sie selber Trost. Stumm sahen sich Mutter und Tochter an.

Jana durchbrach die Stille: »Ich mache uns jetzt mal einen Kaffee. Vielleicht kannst du die Mama überreden, dass sie auch etwas isst. Sie hat wahr-

scheinlich seit vorgestern nicht viel zu sich genommen.«

»Das ist eine gute Idee«, stimmte Berit ihrer Schwester zu. »Ich habe ja heute auch noch nichts gegessen. Vielleicht kommt gemeinsam der Appetit.«

Wenig später stand der Kaffe auf dem Tisch und duftete mit dem frischen Toast um die Wette. Die Schwestern sahen sich aufatmend an, als die Mutter wirklich begann eine Scheibe Toast mit Käse zu essen.

Später legte Jana den Katalog des Bestattungshauses auf den Tisch. Mit Klebezetteln hatte sie markiert, was sie gemeinsam mit Berit am Tag zuvor bestellt hatte. Sie hatten den Wunsch des Vaters respektiert und sich für eine Urnenbestattung entschieden, auch wenn die Meinung der Mutter eine andere gewesen war. Doch nun nickte sie zustimmend zu der ausgewählten Urne und dem Blumenschmuck. »Ihr beide habt das genau richtig gemacht, Heinrich hätte es wohl so gewollt.«

Die Schwestern waren innerlich erleichtert. Nun mussten sie noch eine Grabstelle aussuchen.

»Glaubst du, dass du mitkommen kannst zum Friedhof?«, fragte Jana ihre Mutter.

»Ich sollte mich wohl dazu aufraffen«, antwortete die Mutter. So langsam schienen ihre Lebensgeister zurückgekehrt zu sein. Die drei Frauen zogen sich die Schuhe an und traten vor die Haustür.

»Wo hast du denn das Auto geparkt?« Jana sah Berit fragend an.

»Ich bin den kurzen Weg gelaufen«, entgegnete Berit ihrer Schwester. »So konnte ich nämlich ein wenig den Kopf wieder frei bekommen. Ich hatte so einen blöden Traum von früher, das war richtig wie echt. So was kommt einem wohl wieder hoch, wenn ein vertrauter Mensch plötzlich nicht mehr lebt.«

»Dann musst du dich aber auf die Rückbank zwängen«, grinste Jana ihre Schwester an. Ihr schmuckes Cabrio hatte den Komfort auf die Vordersitze begrenzt. Aber Berit lachte nur und war schon nach hinten durchgerutscht. So ungelenkig war sie nun doch noch nicht.

Die Fahrt führte aus der Innenstadt stetig bergauf. Oben auf der Anhöhe lag der Friedhof inmitten einer parkähnlichen Anlage. Hohe, alte Bäume säumten die Hauptwege und spendeten im Sommer erholsamen Schatten.

In der Friedhofsverwaltung war wenig Publikumsverkehr und die Frauen wurden von der netten Mitarbeiterin sofort hereingebeten.

»Ja, was soll es denn sein, ein Reihengrab oder ein Einzelgrab? Dort könnten dann später noch mehrere Urnen beigesetzt werden.«

Es war wohl genau die letzte Bemerkung, die den Ausschlag gab. »Wir nehmen ein Einzelgrab. Dann könnte ihr mich mal direkt neben meinem Heinrich begraben.« Die Mutter hatte die Worte sehr energisch gesprochen und auch wenn ihre Töchter jetzt noch nicht an ihren Tod denken mochte, so stimmten sie doch der Entscheidung zu.

»Wollen wir dann eine schöne Stelle aussuchen? Es sind mehrere Grabstellen frei geworden, die im alten Teil des Friedhofs liegen, das wäre doch bestimmt etwas für Sie. Dann ist auch der Fußweg nicht so weit bis zum Grab.« Die Mitarbeiterin schloss die Bürotür ab und trat mit den Frauen nach draußen. Sie hatte während ihrer Lehre den nun Verstorbenen noch kennengelernt und war wirklich daran interessiert, seiner Witwe und den Kindern unter den gegeben Umständen etwas Gutes tun zu können.

Schon bald war der passende Platz gefunden und die restlichen Formalitäten erledigt. Alles Übrige würde das Bestattungshaus übernehmen.

Als die Frauen wieder im Auto saßen, war es Nachmittag geworden. Irgendwie knurrte Jana und Berit nun doch der Magen und so beschlossen sie, in einem Restaurant einzukehren und eine Kleinigkeit zu essen. Die Schwestern ließen auch das Argument der Mutter, dass sie ja gar kein Appetit habe, nicht gelten; und zum Schluss schmeckte es allen gut. So gestärkt trafen sie bei der Wohnung der Mutter wieder ein.

»Soll ich noch eine Nacht bei dir bleiben?«, wollte Jana wissen. Doch die Mutter verneinte. »Ihr habt doch beide euer eigenes Leben. Heute geht es ja auch schon wieder. Die Frau Doktor will am Abend noch mal nach dem Kreislauf sehen. Und ich kann euch ja anrufen, wenn was ist.«

Es war für Berit wie ein Gedankenblitz, den das Wort anrufen ausgelöst hatte. Sie hatte seit gestern ihr Handy auf Stummschaltung und nicht einmal darauf gesehen. Oh Gott, das war ihr ja noch nie passiert! Sie kramte das Gerät aus der Tasche und sah ein halbes Dutzend unbeantwortete Anrufe. Die von den Kollegen ignorierte sie weiter, schließlich hatte sie Urlaub genommen. Doch Daniel musste sie unbedingt schnellstens zurückrufen. Sie verabschiedete sich von Mutter und Schwester und lief in Richtung Stadtpark. Hier war sie ungestört und setzte sich auf eine Bank, um Daniel anzurufen.

Er nahm das Gespräch an, kaum dass sie auf die Verbindungstaste gedrückt hatte. »Da bist du ja! Ich habe schon ein paar mal versucht, dich zu erreichen.« Leicht vorwurfsvoll klang Daniels Stimme.

»Bitte entschuldige, ich hatte die Stummschaltung an und deine Anrufe nicht bemerkt. Auf dem Friedhof war das auch besser, das Kinderhaus hat auch schon versucht, mich zu erreichen. Aber diesmal muss Urlaub auch Urlaub sein! Ich kann nicht noch nebenbei für die anderen die Arbeit mit machen, ich habe den Kopf so schon voll.« Berit machte aus ihrer momentanen Stimmung keinen Hehl.

»Oh, dann sollte ich wohl besser absagen. Markus und Familie wollten eigentlich nachher mal rum kommen.«

»Nein, nein!«, beeilte sich Berit zu versichern. »Die Kinder können ruhig kommen, das ist doch ganz anderer Stress, der lenkt höchstens ab. Und den Kleinen habe ich auch schon wieder viel zu lange nicht gesehen.«

Obwohl Markus mit seiner Frau Tanja und dem kleinen Paul kaum eine Fahrstunde entfernt wohnte, sahen sie sich nicht all zu oft.

»Soll ich noch was einkaufen?« Berit wurde schmerzlich bewusst, dass ihr nicht einmal der Inhalt ihres Kühlschrankes mehr bekannt war.

»Nein, das ist nicht nötig, die Kinder wollen Pizza bestellen.«

Berit atmete auf. Auch wenn sie nicht viel von Fastfood hielt, heute war sie froh, nicht noch etwas zubereiten zu müssen.

»Gut, dann mache ich mich jetzt auf den Heimweg, bis gleich, Daniel.«

»Ja, bis gleich, Liebling!«

Kaum, dass Berit richtig zuhause angekommen war, hielt auch schon das Auto von Markus und Tanja vor dem Haus und der kleine Paul in seinem Kindersitz strahlte ihr entgegen. Das war, als ginge die Sonne in ihrem Herzen auf. Der Kleine war seinem Vater sehr ähnlich und Berit fühlte sich bei jeder Geste des Jungen an ihren kleinen Markus vor 25 Jahren erinnert. Sie liebte dieses Kind über alles! Manchmal dachte sie mit einem schlechten Gewissen, ich liebe ihn mehr als meine eigenen Kinder. Doch dann erinnerte sie sich an ihre Oma, die hatte einmal gesagt: »Liebe hat die Fähigkeit, größer zu werden, wenn man sie teilt.« Und so hoffte sie, dass ihre Liebe für alle reichte.

Markus übernahm die Bestellung der Pizzen und dachte sogar an seine kleine Schwester. Und als hätte er es geahnt, kam Julia fast mit dem Pizzaboten gemeinsam zur Tür herein. Auch sie freute sich, ihren Bruder und seine Frau wieder zu sehen. Doch noch mehr freute sie sich über den kleinen Paul. Sie war vernarrt in ihren Neffen und verschwand schon bald mit dem Pizzateller und Paul in ihrem Zimmer, um mit ihm zu spielen.

Nun wurde das Gesprächsthema ernster. »Wisst ihr schon, wann die Beerdigung sein wird?«, wollte Markus wissen.

»Ja, das ist heute in zwei Wochen, also am Donnerstag. Und morgen oder übermorgen wird auch die Anzeige in der Zeitung erscheinen. Es gab ja doch viele, die Papa gekannt haben.« Berit sah voller Trauer in die kleine Runde. Daniel legte ihr den Arm um die Schultern, es war ein stummer Trost.

»Also, wenn ihr noch Hilfe braucht, wegen der Trauerfeier oder so, dann sagt uns das bitte, wir helfen gerne«, griff Tanja in die Unterhaltung ein.

Berit putzte sich die Nase. »Um ehrlich zu sein, so weit habe ich noch gar nicht gedacht. Mamas Wohnung ist ja groß, aber ich möchte ihr nicht den ganzen Trubel zumuten. Es wird wohl darauf hinauslaufen, dass wir einen Raum in einer Gaststätte mieten werden, dort eben Kaffee trinken und dann ganz ruhig der Mama zur Seite stehen können, statt in der Küche.«

Alle nickten zustimmend.

Eine Stunde später brach die kleine Familie zur Heimfahrt auf. Paul war schon auf Julias Arm eingeschlafen und ließ sich ohne noch einmal aufzuwachen in den Kindersitz verfrachten.

Berit schloss die Tür und drehte sich zu ihrem Mann um. »Weißt du was, jetzt könnte ich einen Schnaps vertragen!«

Während Daniel zur Bar ging und jedem einen Weinbrand einschenkte, ließ sich Berit auf das Sofa fallen. »Aber nicht wieder hier einschlafen!«, ermahnte sie ihr Mann. Doch das war nicht nötig. Sie tranken ihre Gläser aus und gingen gemeinsam die Treppe hinauf zum Schlafzimmer.

 

In dieser Nacht schlief Berit tief und traumlos und eng an Daniel geschmiegt, so wie ganz früher, zu Beginn ihrer Ehe.

Wieder war das Haus in Stille gehüllt, als Berit die Augen aufschlug. Sie überlegte kurz, was heute noch alles zu erledigen sein würde. Schließlich hatte sie heute noch frei. In der nächsten Woche rief die Arbeit wieder.

Sie stellte sich kurz unter die Dusche und begann, noch im Bademantel, zu frühstücken. Der Alltag setzte sich wieder durch und mit ihm die ureigensten Bedürfnisse. Der Kühlschrank hatte ihr nicht mehr viel geboten, sie musste also dringend Lebensmittel einkaufen. Aber auch ein paar Kleidungsstücke waren nötig. Noch einmal streifte sie die Bluse und das Kostüm über, aber es waren einfach nicht die Sachen, mit denen sie länger rumlaufen wollte, Todesfall hin oder her.

Heute entschied sich Berit wieder dafür, das Auto zu nehmen. Es musste nicht sein, dass sie mit schweren Beuteln beladen den Berg hoch stieg.

Und der Familien-Audi bot schon einiges an Stauraum. Den Berg runter hätte sie allerdings glatt den Motor sparen können, da rollte das Gefährt ganz von selbst.

Berit parkte in der Nähe des Marktplatzes und wollte als erstes nach Bekleidung suchen. Sie erinnerte sich noch, als ihre Großeltern gestorben waren. Da gab es das große Kaufhaus der Handelsorganisation noch. Und im Obergeschoss, ganz hinten in der letzten Ecke, da fand sich ein Schild:

»Trauerbekleidung«. Das hatte weder mit hübsch noch mit modisch was zu tun, es war einfach nur schwarz und hässlich gewesen. Jetzt befand sich in dem Gebäude die Niederlassung einer Jeans-Kette und genau dorthin führte sie ihr Weg. Schon der erste Ständer war voll mit schwarzen T-Shirts in vielen Varianten, mit Strass-Applikationen, mit dezenten Logos oder mit kleinen Raffungen und Puffärmeln. Berit griff sich ein paar Bügel und verschwand in der Umkleidekabine.

Bei der letzten Anprobe rief sie leise, um nicht aufzufallen, nach einer Verkäuferin. »Ich würde das gerne anlassen, geht das?«

Die junge Verkäuferin, vielleicht im Alter von Markus und Tanja musterte sie von Kopf bis Fuß und erkannte Berits Problem.

»Natürlich geht das, ich werde gleich den Diebstahlschutz entwerten, dann können Sie es anzie-

hen. Aber ich glaube, Sie können noch mehr brauchen. Wir haben auch noch sehr schöne dunkle Jeans oder auch Jeans-Röcke und ein Sweatshirt würde ich Ihnen auch noch empfehlen. Dazu noch diese Blousonjacke und Sie sind für die nächsten Wochen gut angezogen.«

Dankbar blickte Berit die junge Frau an. Wenig später hatte sie die größte Einkaufstüte voll mit Klamotten gepackt, die sie je getragen hatte. Na, wenigstens musste sie nicht noch Schuhe kaufen, die waren, wie bei Frauen üblich, in allen Farben vorhanden, auch in schwarz.

Berit wuchtete die Riesentüte ins Auto und widmete sich den Lebensmitteln. Als sie alles eingekauft hatte, sah der Kofferraum gut gefüllt aus. Das Wochenende würde nicht in eine Schlankheitskur ausarten müssen, wie noch vorhin zu befürchten war. Berit sah auf die Uhr und beschloss, noch einen kurzen Abstecher zu ihrer Mutter zu machen. Die hatte sich zwar nicht gemeldet, aber Berit dachte sich, sicher ist sicher.

Einen Moment überlegte sie, ob sie ihren Schlüssel benutzen sollte um gleich in die Wohnung zu gehen. Doch sie entschied sich, zu klingeln. Es dauerte auch gar nicht lange, bis die Mutter an die Tür kam.

»Ach, das ist aber lieb, dass du mal reinschaust«, begrüßte sie ihre Tochter. Sie gingen in die Küche, wo die Mutter gerade mit dem Abwasch beschäftigt war. Seit Jahren versuchte die Familie sie von der Nützlichkeit eines Geschirrspülers zu überzeugen. Doch das war für die alte Dame viel zu viel Schnickschnack. Und das bisschen Geschirr kriegte sie immer noch mit der Hand sauber. Schließlich kam ja schon das warme Wasser aus dem Hahn. Welcher Fortschritt zu früher, als jeder Liter auf dem Herd heiß gemacht werden musste.

»Was hat denn die Frau Doktor gestern gesagt?« Berit wollte wenigstens erfahren, wie sie den Gesundheitszustand ihrer Mutter einschätzen konnte. Es war gut, dass die Hausärztin gleich um die Ecke wohnte. Schon der Vater der jetzigen Frau Doktor, der alte Sanitätsrat war der Hausarzt der Familie gewesen, nun aber schon lange tot.

»Ach, was soll sie sagen? Ich bin eine alte Frau, da muss man die Wehwehchen hinnehmen. Aber der Blutdruck ist wieder ganz gut und der Puls auch. Ich soll mich nicht aufregen, hat sie gesagt. Aber ich habe mir ja die Aufregung nicht ausgesucht.« Berit sah ihre Mutter liebevoll an. »Ach Mama, wie kann ich dir nur helfen? Möchtest du mit zu uns kommen und ein paar Tage oben bleiben?«

»Nein, lass nur Kind, hier habe ich doch alles was ich brauche. Und wenn ich aus der Haustür trete, habe ich Bekannte um mich. Bei euch oben wäre ich ab nächster Woche doch den ganzen Tag alleine.«

Berits Blick war voller Zweifel. »Aber du rufst gleich an, wenn was nicht in Ordnung ist!«

»Das mache ich, versprochen. Aber nun fahr heim und kümmere dich um deinen Mann und deine Tochter.«

Berit nickte. Sie verabschiedete sich von ihrer Mutter und stieg ins Auto. Ein kurzes Hupen, dann war sie um die Ecke verschwunden.

Zuhause angekommen, räumte Berit die Lebensmittel in die Schränke und füllte den leeren Kühlschrank auf. Dann breitete sie ihre neu erworbenen Sachen auf dem Bett aus. Obwohl sie schwarz waren, war es keine typische Trauerbekleidung und damit mochte sie sich durchaus identifizieren, jedenfalls eine Zeit lang.

Und so konnte sie auch zur Arbeit gehen. In der nächsten Woche musste sie ihren gewohnten Rhythmus wieder aufnehmen. Die Kollegen und die Kinder vertrauten darauf, dass sie dann wieder einsatzfähig war. Und Berit war sich sicher, dass ihr die Arbeit mit den Kindern gut tun würde. So nahm sie das Telefon und rief endlich bei ihrer Kollegin zurück. Mehr als eine kurze Rückmeldung war auch nicht nötig, alles Weitere würden sie am Dienstag besprechen können.

Jetzt wollte sie sich erst einmal eine kleine Ruhepause gönnen. Sie hatte gerade die Kaffeemaschine angestellt, als Daniel vom Geschäft herüber kam.

»Das passt ja wunderbar, einen Kaffee könnte ich jetzt auch gebrauchen!« Er ließ sich in der Diele nieder.

»Kannst du denn einfach weg, sind keine Kunden da?«, sah Berit ihren Mann verwundert an.

»Marion ist gestern wieder aus dem Urlaub gekommen«, berichtete er. »Eigentlich würde sie ja erst am Dienstag nach Pfingsten wieder anfangen, aber sie möchte uns gerne unterstützen und ist heute schon vorbei gekommen. Und als ich gesehen habe, dass du auch wieder da bist, bin ich gleich rüber gekommen.«

Berit lächelte ihrem Mann zu. Auch sie war der Schwägerin dankbar. So eine gemeinsame Kaffeestunde in aller Ruhe, das tat beiden gut.

Ausführlich berichtete Berit ihrem Mann von ihren großen Einkauf, vor allem der Bekleidung. Daniel konnte sich kaum das Lachen verkneifen angesichts des Kaufrausches seiner Frau. Aber da sie sich jetzt wenigstens wieder in ihrer Haut wohlzufühlen schien, war es ihm auch recht. Und schließlich ließen sich schwarze Sachen ja auch mit anderem kombinieren. Es musste also nicht gleich wieder jemand sterben, um die Kleidung zu nutzen.

Fast nahtlos gingen die Eheleute vom Kaffee trinken zum Abendessen über. Wie in der letzten Zeit so oft, zog es Julia vor, gemeinsam mit ihrem Freund irgendwo ein Schnellgericht zu sich zu nehmen. Aber das war wohl ihrer Jugend geschuldet und natürlich dem Wunsch, so viel wie möglich mit Sebastian zusammen zu sein.

Während Berit später eine Ladung Wäsche für die Maschine fertig machte und eine kurze Grundreinigung mit dem Staubsauger in Angriff nahm, ging Daniel noch einmal ins Geschäft, um mit Marion zu besprechen, was während ihres Urlaubs an Arbeit angefallen war und was nun dringend erledigt werden musste.

Berit hatte gerade den Staubsauger wieder in den Flurschrank geräumt, als sie Julias Stimme vor der Haustür hörte. Sie schien den Abschied von ihrem Freund gewollt in die Länge zu ziehen und Berit fühlte sich wieder an ihre eigene Jugend und an den Traum vor zwei Tagen erinnert. Sie klapperte betont laut mit der Schranktür, um bei den beiden draußen keine peinliche Situation aufkommen zu lassen, dann öffnete sie schwungvoll die Tür.

»Oh, Mama.« Julia sah trotzdem erstaunt ihre Mutter an.

»Na ihr beiden, was steht ihr denn hier draußen?« Berit wollte sicher klingen, doch selbst spürte sie, dass sie nicht recht wusste, wie sie sich jetzt richtig verhalten sollte. Jedenfalls nicht wie ihre Mutter vor vielen Jahren!

Sie lächelte den jungen Leuten zu. »Kommt doch rein.«