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Loe raamatut: «Dunst»

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Erstes Capitel

Vor dem Conversationshause in Baden-Baden wogte am 10. August 1862 um vier Uhr des Nachmittags eine zahlreiche Menschenmenge hin und her. Das Wetter war herrlich; Alles ringsum, – die grünen Bäume, die hellen Häuser der gemüthlichen Stadt, die waldbedeckten Berge mit ihren Wellenlinien, – Alles erglänzte festlich im heitern Sonnenscheine, lächelte traulich und lieblich, bis auf die Gesichter, die – junge und alte, hübsche und häßliche, – fröhlich aus zum blauen heitern Himmel schauten, Selbst die weiß und roth geschminkten Pariser Loretten störten heute nicht das allgemeine Gefühl des Wohlbehagens und der Fröhlichkeit; das scharfe, gurgelnde Geschnatter des französischen Jargons allein, welches man ringsum hörte, kannte das Gezwitscher der Vögel nicht ersetzen.

Alles ging übrigens hier seinen gewöhnlichen Gang. Das Orchester spielte bald ein Potpourri aus »Traviata«, bald einen Streußischen Walzer, bald eine russische Romanze, vom gefälligen Capellmeister auf die Instrumente übertragen; in den Spielsälen drängten sich dieselben, Allen bekannten Figuren mit demselben stumpfsinnigen und gierigen, nicht eigentlich verzweifelten oder erbitterten, aber oft raubthierartigen Ausdruck in den Gesichtern, den das Kartenfieber allen, selbst den aristokratischen Zügen giebt. Der allbekannte, wohlbeleibte, stutzerhaft gekleidete Tambow‘sche Gutsbesitzer setzte wieder mit fieberhafter Hast (mit derselben Hast, mit welcher sein seliger Vater seine Bauern zu prügeln pflegte), sich mit der Brust aus den Tisch legend und ohne auf die kaltblütigen Spöttereien selbst der Croupiers zu achten, noch im Augenblick des Rufes: »Rien ne va plus!« Haufen von Goldstücken auf alle Vierecke der Roulette, sich auf diese Weise alle Möglichkeit nehmend, irgend etwas, selbst im glücklichsten Falle, zu gewinnen; was ihn jedoch nicht hinderte, sich noch denselben Abend mit tugendhafter Entrüstung über das Spiel gegen den Fürsten Koko auszulassen.

A l‘arbre russe, am russischen Baum, versammelten sich, nach alter Gewohnheit, unsere lieben Landsleute, männliche und weibliche; herausgeputzt oder nachlässig elegant kamen sie herbei, begrüßten einander mit wichtiger Miene, wie es sich für Wesen schickt, die auf der höchsten Stufe der Bildung unter ihren Zeitgenossen stehen.

Wenn sie sich aber so versammelt und gesetzt hatten, wußten sie in Wahrheit nie, wie sie sich anders mit einander unterhalten sollten, als indem sie leeres Stroh droschen, oder den abgeschmackten Witzen, plumpen Ausfällen und Aufschneidereien eines dünnbeinigen französischen Exliterators mit abscheulichem Kinnbarte und schrecklicher Fratze zuhörten, der die Rolle eines Spaßmachers und Narren bei ihnen spielte. Er log ihnen alte, abgedroschene Charivari- und Tintamarre-Geschichten vor, und sie lachten ihm in homerischem Gelächter Beifall zu, ihre eigene Leere dadurch zur Genüge kundgebend. Und doch befand sich dort die »fine fleur« unserer Gesellschaft versammelt.

Dort war Graf X, unser unvergleichlicher Dilettant, eine bis in‘s Innerste der Seele musikalische Natur, der aber keine Note richtig lesen kann, und von dessen Gesang man nicht zu sagen weiß, ob er dem eines mittelmäßigen Zigeuners, oder eines Pariser Haarkünstlers mehr gleicht; noch war dort unser genialer Baron Z., dieses Universalgenie: Literatur, Administrator, Redner und Kartenspieler zugleich; ferner der Fürst Y., der Freund der Religion und des Volkes, der sich seiner Zeit durch die Branntweinpacht ein ungeheures Vermögen erschwindelt hat; dann der glänzende General O., der in Asien Gott weiß wo gesiegt und und Gott weiß was unterworfen hat, aber sehr wohl versteht, sich bei jeder Gelegenheit bemerklich zu machen; weiter P., der drollige Fettklumpen, der sich für sehr krank und sehr klug hält, aber gesund wie ein Stier und dumm wie ein Klotz ist. In seinem Gange – er wiegt sich trotz seiner Dicke auf hohen Hacken graziös und langsam hin und her – sucht er den seinerzeit Mode gewordenen »culte de la pose« zu erhalten, betrachtet beim Reden aufmerksam seine Fingernägel, trägt den Hut bald tief im Nacken, bald bis auf die Augenbrauen herab u.s.w. Sogar Staatsmänner, Diplomaten, Trümpfe mit europäischen Namen, Männer des Rathes und des Verstandes waren zugegen, von denen aber vielleicht Mancher glaubte, die goldene Bulle sei vom Papst herausgegeben oder die englische poor-tax eine den Armen auferlegte Steuer; endlich traf man hier noch eifrige, aber heimliche Verehrer der Camelliendamen, junge elegante Cavaliere mit untadelhaft gescheiteltem Haar, echt Londoner Costüm, und – die Gräfin Sch., die bekannte Gesetzgeberin der Moden und des grand genre, welche die bösen Zungen »die Königin der Wespen« oder »Medusa in der Haube« genannt hatten, die in Abwesenheit des französischen privilegirten Schwätzers sich mit Italienern, Arnerikanern, Geistersehern, jungen deutschen Gesandtschaftssecretären mit weibischen Gesichtszügen, aber bereits vorsichtig zurückhaltenden Manieren, unterhielt. Dem Beispiel der Gräfin folgte noch Fürstin Babette – dieselbe, in deren Armen Chopin seinen Geist aufgab (in Europa zählt man etwa tausend Damen, die alle diese Auszeichnung beanspruchen) – und Fürstin Annette, die ganz gewiß Effect machen würde, wenn nicht – wie Ambra- und Sauerkohlgeruch – bei ihr zuweilen das liebe Bauerndorf in Rede und Manier zum Vorschein käme, und Fürstin Pachette, deren Mann das Unglück hatte, in seiner hohen Stellung einen Kaufmann durchzuprügeln und zwanzigtausend Rubel Regierungsgelder zu stehlen.

Lassen wir diese reizenden Damen und entfernen wir uns von dem berühmten Baum, um welchen herum sie in so theuern, wenn gleich nicht immer in sehr geschmackvollen Toiletten sitzen, indem wir wünschen, daß Gott ihnen Erleichterung in der sie quälenden Langeweile senden möge.

Zweites Capitel

In geringer Entfernung vom »russischen Baum« saß an einem kleinen Tische vor dem Café Weber ein stattlicher, wohlaussehender Mann von dreißig Jahren, mittlerer kräftiger Figur und mit dunklen, männlichen und sehr angenehmen Zügen. Sich mit beiden Händen auf seinen Stock stützend, blickte er, vorgebeugt, auf die Vorübergehenden, wie Jemand, dem es durchaus nicht in den Sinn kommt, daß man auch ihn bemerke oder sich mit ihm beschäftige. Seine dunklen, großen, ausdrucksvollen Augen begleiteten zuweilen irgend eine excentrische Figur, wobei ein kaum bemerkliches gutmüthiges Lächeln um seine Lippen spielte. Seine Kleidung war einfach, aber anständig, ein bequemer Paletot deutschen Schnitts, während ein grauer weicher Hut seine hohe Stirn fast zur Hälfte bedeckte.

Gleich beim ersten Anblick erkannte man in ihm eine redliche, tüchtige, großes Selbstvertrauen verrathende Natur. Er schien von anstrengenden, anhaltenden Arbeiten hier auszuruhen und sich gutmüthig an dem vor ihm entfaltenden Bilde zu ergötzen, während seine Gedanken oft abwesend waren und sich in einer Welt bewegten, die der vor ihm ganz unähnlich war. Er war ein Russe und nannte sich Gregor Michailitsch Litwinow.

Wir müssen mit ihm Bekanntschaft machen und demzufolge in kurzen Worten seine sehr einfache Vergangenheit erzählen.

Als Sohn eines unbedeutenden Beamten von bürgerlicher Herkunft, wurde er nicht, wie man hätte glauben sollen, in der Stadt erzogen, sondern auf dem Lande. Seine Mutter, von altadligem Geschlecht und in einem Fräuleinstift erzogen, besaß einen guten, zwar leicht erregbaren, doch aber festen Charakter. Etwa zwanzig Jahre jünger als ihr Mann, fing sie an, diesen zu erziehen, so viel eben noch möglich war, machte ans dem Beamten einen Gutsbesitzer, besänftigte seinen starren Sinn und brachte ihm, so weit es noch ging, Sitte und Lebensart bei. Ihren Bemühungen gelang es, ihn dahin zu bringen, daß er sich sauber kleidete, anständig hielt und zu fluchen und schimpfen aufhörte, Gelehrte und Gelehrsamkeit zu achten anfing, wenn gleich er selbst nie ein Buch in die Hand nahm, überhaupt sich zusammennahm, sich vor den anderen Gutbesitzern, seinen Nachbarn, keine Blöße zu geben. So fing er an, langsam und bedächtig zu gehen und zu reden, und sich über Sachen zu belehren, die ihn eigentlich innerlich höchst langweilten. »Ach, wie wollt’ ich Euch durchwichsen, diverse aufzählen!« dachte er oft bei irgend einer Verhandlung bei sich, während er laut sagte: »Ja freilich – natürlich – die Frage will bedacht sein!« Ihr Haus brachte Litwinows Mutter gleichfalls auf einen europäischen Fuß, sie sagte zu den Dienern »Sie«, und erlaubte Niemandem, bei Tische sich zu überessen, oder etwa einzuschlafen und zu schnarchen. Was übrigens das Gut selbst betraf, so verstanden weder sie noch er es ordentlich zu verwalten, noch vernünftig zu wirthschaften – es war in ziemlich vernachlässigtem Zustande, aber reich an Land und Wäldern, nebst einem See, an welchem vormals eine große Fabrik gestanden hatte, die vom früheren Besitzer eingerichtet, von einem spitzbübischen Kaufmanne ausgebeutet und unter der Verwaltung eines ehrlichen Deutschen gänzlich zu Grunde gegangen war. Madame Litwinow war zufrieden, daß die Sachen, wenn gleich nicht gut, doch auch nicht schlechter gingen, und daß sie nicht genöthigt waren, Schulden zu machen. Unglücklicher Weise war sie von schwächlicher Constitution, eine Unvorsichtigkeit brachte ihr die Schwindsucht, und sie starb in demselben Jahre, als ihr Sohn in die Moskauer Universität eintrat. Er beendigte seine Erziehung dort nicht, aus Gründen, die der Leser später erfahren wird, lebte dann eine Zeit lang auf dem Lande, wo er ohne Beschäftigung, ohne Umgang einige Zeit seinen Grübeleien nachhing. Dank der Unbeliebtheit, in der er bei seinen Gutsnachbarn war, die zwar die Theorie der Unschädlichkeit des westeuropäischen »Absynthe« noch nicht kannten, dafür aber sich desto fester an den einheimischen Kornbranntwein hielten, und dem Litwinow nicht, gleich ihnen, seine Huldigung darzubringen verstand, gerieth er im Jahre 1855 unter die Landwehr, und wäre in der Krim fast am Typhus gestorben, ohne einen einzigen der gegen Rußland Alliirten gesehen zu haben, stand dann während sechs Monate am Ufer des Azowschen Meeres in einer Erdhütte, lebte darauf wieder auf seinem Gute und fand endlich Behagen an der Landwirthschaft. Er begriff, daß das mütterliche Gut schlecht von seinem alt werdenden Vater verwaltet wurde und nicht den zehnten Theil der Einnahmen brachte, die es hätte bringen müssen, und daß es in kundigen Händen zu einer Goldgrube werden könne; da er aber selbst zu geringe Kenntniß in der Landwirthschaft besaß, so reiste er in‘s Ausland, um Agronomie und Technologie tüchtig zu studiren. Länger als vier Jahre brachte er in Mecklenburg, Schlesien und Karlsruhe zu, bereiste Belgien und England, arbeitete fleißig, erwarb sich Kenntnisse und befand sich jetzt auf dem Wege in die Heimath, wohin ihn lange schon sein Vater zurückrief, dem die Wirthschaft immer mehr und mehr über den Kopf gewachsen war, und der bei der Emancipation der Bauern und den dadurch entstandenen neuen Verhältnissen zuletzt nicht mehr wußte, wo aus noch ein . . . Wenn nun dem so, warum befand er sich denn aber jetzt in Baden-Baden?

Nun, der Grund seiner Anwesenheit war, – daß er hier von Tag zu Tag die Ankunft seiner weitläufigen Verwandten und Braut, Tatiana Petrowna Schestow, erwartete. Seit seiner frühesten Kindheit schon mit ihr bekannt, hatte er den Frühling wie den Sommer mit ihr in Dresden verlebt, wo sie sich mit ihrer Tante diese Zeit über niedergelassen hatte-.

Aufrichtig liebte und tief verehrte er seine junge Anverwandte und beendigte die Vorbereitungen zu seiner neuen Laufbahn damit, daß er ihr als seiner Auserwählten, seiner treuen Freundin und Gefährtin Herz und Hand anbot, Glück und Leid, Arbeit und Ruhe mit ihm zu theilen, »for better, for worse,« wie der Engländer sagt.

Sie willigte ein, und er begab sich nach Karlsruhe, wo seine Bücher, Sachen, Papiere zurückgeblieben waren.

»Nun, was thut er aber denn in Baden-Baden?« höre ich wieder fragen.

In Baden befand er sich aus dem Grunde, weil die Tante seiner Braut, die sie erzogen hatte, Kapitolina Markowna Schestow, eine alte Jungfer von fünfundfünfzig Jahren, die gutmüthigste und ehrlichste Seele zwar, aber Sonderling und Freigeist, die eingefleischteste Feindin der großen Welt und der Aristokratie, doch der Versuchung nicht widerstehen konnte, wenn auch nur einmal, ein Stückchen dieser großen Welt an einem so modischen Badeorte, wie Baden, näher kennen zu lernen.

Kapitolina Markowna ging ohne Crinoline und trug ihr graues Haar kurz geschnitten, à l‘enfant. Luxus und Glanz zu verachten und zu verhöhnen, machte ihr herzliche Freude . . . Warum nicht der lieben Alten diese Freude in vollem Maße gewähren?

Und darum nun saß Litwinow so ruhig und unbekümmert da, blickte so selbstvertrauend um sich, weil das Leben eben so ungetrübt vor ihm lag, weil sein Schicksal entschieden und er stolz auf dasselbe war und sich desselben, als der Errungenschaft seines Fleißes, freute.

Drittes Capitel

»Ba, ba, ba, ist’s möglich?« gellte plötzlich eine kreischende Stimme in Litwinows Ohr, und eine plumpe Hand klopfte auf seine Schulter.

Er erhob den Kopf und erkannte einen seiner zahlreichen Moskauer Bekannten, einen gewissen Bambaew, einen gutmüthigen, hohlköpfigen, nicht mehr jungen, schwammig aufgedunsenen Menschen mit plumper Nase und rothem Gesicht. Beständig ohne Geld und beständig für irgend etwas enthusiasmirt, trieb sich Bambaew ohne Ziel, aber immer schreiend, auf Gottes weiter Welt umher.

»Das nenne ich ein angenehmes Zusammentreffen!« rief er, seine verschwollenen Glotzaugen aufreißend und seinen gefärbten Schnurrbart liebkosend streichelnd. »Da lob’ ich mir Baden! Wie zu einem Ameisenhaufen kriecht hier Alles zusammen! Wie bist Du denn hierher gekommen?«

Bambaew hatte die edle Gewohnheit, Jeden zu duzen.

»Ich bin vorgestern angekommen.«

»Woher?«

»Das kann Dir gleichgültig sein.«

»Wie? Gleichgültig? Ei gewiß nicht! . . . Richtig, ich kann mir’s denken. Du hast gewiß gehört, daß Gubarow in höchsteigener Person hier sein wird. Nun, er ist gestern aus Heidelberg herübergekommen. Natürlich kennst Du ihn?«

»Ich habe von ihm gehört.«

»Sonst nichts? Wart’, wart’, ich werde Dich gleich zu ihm führen. Einen solchen Menschen nicht zu kennen, ist ja fast ein Verbrechen! . . . Ah, sieh da! da kommt auch Woroschilow. Den kennst Du vielleicht auch nicht? . . . Meine Herren, ich habe die Ehre, Sie einander vorzustellen. Ein paar Gelehrte, dieser da sogar ein Phönix!«

Fünf Minuten später stiegen alle Drei die Treppe des Hotels hinauf, wo Stephan Nikolaewitsch Gubarow abgestiegen war.

Eine schlanke Dame von hohem Wuchse, in einem Hute mit kurzem dunklen Schleier, eilte rasch die Treppe hinab. Als sie Litwinow bemerkte, blieb sie plötzlich, wie im höchsten Grade überrascht, einen Augenblick stehen und schien sich an ihn wenden zu wollen; unter dem Schleier war ein heftiges Erröthen, dann ein eben so plötzliches Erbleichen zu bemerken; Litwinow, der sich gerade zu Bambaew gewendet hatte, bemerkte sie jedoch nicht; die Dame ihrerseits eilte darauf noch rascher die Stufen hinab.

Bei Gubarow fand Litwinow eine bunte Gesellschaft Russen: Officiere, die eine kurze Urlaubszeit in Europa zubrachten, neugierig und halb furchtsam, daß ihr Regimentschef ihren Abstecher zu einem zwar als klug, aber etwas gefährlich verschrieenen Literator erfahren werde; Studenten, die zeitweise in Heidelberg studirten, in nachlässiger, genial sein sollender Toilette, mit langen Haaren und Bärten, verächtlich und hochmüthig auf Alles herabsehend, was irgend einen Anstrich von feinerer Bildung und aristokratischen Manieren zeigte; ein paar Gutsbesitzer, denen die Emancipation der Bauern nicht nach ihrem Sinne war, weil es sie in Zukunft hinderte, die von denselben bisher fast willkürlich erpreßten Abgaben zu verprassen; weiter eine Art Blaustrumpf, eine gewisse Mattena Semeonownowna Suchantschikow, die, als Wittwe ohne Kinder und mit geringen Mitteln, seit ein paar Jahren im Auslande von Ort zu Ort wanderte, sich mit besonderer Erbitterung über Russland und seine Zustände ausließ und eine große Verehrerin Gubarows war. Noch saß in einer Ecke des Zimmers eine ziemlich plump und linkisch aussehende Figur, die Keinem vorgestellt und von Niemandem in‘s Gespräch gezogen wurde, aber doch eine aufmerksam zuhörende, scharf beobachtende Persönlichkeit zu sein schien. Was nun endlich den Herrn der Wohnung, den genialen Löwen des Tages, den gefürchteten, hochverehrten Gubarow anbetraf, so war Litwinow nicht wenig erstaunt, als er demselben vorgestellt wurde und in ihm eine sehr gewöhnliche Persönlichkeit fand, mit breitem Stierkopfe, breiter, etwas viereckiger Stirn, breitem langem Barte, breitem Nacken und breiten schielenden, meist zu Boden gerichteten Augen, so daß er eher das Aussehen eines Gutsbesitzers aus der Provinz als eines Gelehrten hatte.

Nachlässig in einen breiten Paletot, graue weite Beinkleider und Morgenschuhe gekleidet, hatte er die Gewohnheit, immer im Zimmer auf und ab zu wandern, nur hin und wieder irgend ein abgebrochenes Wort hinzuwerfen – gewissermaßen wie man bei der Tafel dem Hunde von Zeit zu Zeit einen Bissen oder einen Knochen zuwirft – und die Gesellschaft durch sein viel sagen sollendes Schweigen in Erstaunen zu sehen.

»Er sammelt Material,« sagten seine Verehrer.

Höchlich erstaunt schien er, als auf die Frage, die Jemand an Litwinow richtete: welcher Art seine politischen Ueberzeugungen seien? dieser lächelnd antwortete: »Was mich betrifft, so habe ich keine dergleichen.«

Die linkische, plumpe Figur im Winkel erhob bei diesen Worten unwillkürlich den Kopf und blickte ihn lange aufmerksam an.

»Aha, ein Unreifer!« bemerkte Gubarow kurz und setzte seinen unterbrochenen Spaziergang im Zimmer fort.

Gegen zehn Uhr des Abends entfernte sich Litwinow heimlich, denn der Kopf fing an, ihn heftig zu schmerzen in diesem Chaos und bei dem erbitterten Streit über alle möglichen Gegenstände, hauptsächlich aber über Rußland. Die milde frische Nachtluft that ihm wohl und erfrischte seinen ermüdeten Geist.

»Das nennen die Deutschen einen Streit um des Kaisers Bart,« dachte er, »wozu soll das führen?«

Er trat bei Weber ein, bestellte eine Portion Eis und nahm eine Zeitung.

Das Eis war schlecht und die Zeitung faselte langweilig von der römischen Frage.

Schon wollte er nach Hause gehen, als ein Unbekannter in einem Hute mit breitem Rande auf ihn zutrat, ihn russisch fragte: »Störe ich Sie vielleicht?« und sich zu ihm setzte.

Jetzt erst erkannte Litwinow in ihm jene linkische, plumpe Figur, die er in einem Winkel bei Gubarow hatte sitzen sehen. Während des ganzen Abends hatte dieser Herr den Mund kaum aufgethan, und jetzt blickte er, nachdem er den Hut abgenommen hatte, Litwinow herzlich und wohlwollend, wenn gleich auch verlegen an.

Viertes Capitel

»Herr Gubarow, bei dem ich das Vergnügen hatte Sie zu sehen,« hub der Unbekannte an, »hat mich Ihnen nicht vorgestellt, erlauben Sie also, daß ich solches selbst thue: ich bin der verabschiedete Hofrath Potugin, diente früher im Finanzministerium zu Petersburg. Ich hoffe, Sie werden es nicht sonderbar finden ich habe sonst wohl nicht die Gewohnheit, so plötzlich Bekanntschaften anzuknüpfen . . . mit Ihnen aber . . .«

Hier wurde Potugin verlegen und rief einen Kellner, bei dem er ein Gläschen Kirschwasser bestellte.

»Mir Muth zu machen,« fügte er lächelnd hinzu. Litwinow blickte mit verdoppelter Aufmerksamkeit auf den letzten seiner neuen Bekannten des Tages und dachte:

»Das ist kein solcher, wie jene!«

Und wirklich war es kein solcher.

Vor ihm saß, mit den feinen Fingern auf dem Tische leicht trommelnd, ein breitschultriger Mann mit vollem Körper auf kurzen Beinen, leicht gebücktem kraushaarigen Kopfe, sehr klugen und theilnehmenden Augen unter dichten Brauen, vollem regelmäßigen Munde, schlechten Zähnen und jener echt russischen Nase, die man Kartoffel zu nennen pflegt, etwas linkischem, zurückhaltendem Wesen, gewiß aber keine Dutzendfigur. Sehr einfach gekleidet, war sein Rock sogar altmodisch und die Schleife seines Halstuches auf die Seite verschoben.

Einen eigenthümlichen Eindruck machte er auf Litwinow, er erregte in ihm Theilnahme, Achtung und unwillkürliches Mitleid-.

»Ich störe Sie also nicht?« wiederholte er mit heiserer aber weicher Stimme, welche ganz zu seinem Aeußern paßte.

»Nicht im geringsten,« antwortete Litwinow, »ich bin im Gegentheil sehr froh.«

»Sehen Sie, das freut mich. Ich habe viel von Ihnen gehört, weiß sogar, womit Sie sich beschäftigen, und kenne Ihr Vorhaben. Sie fangen die Sachen beim rechten Ende an; darum schwiegen Sie auch heute.«

»Ja, und auch Sie sprachen nur sehr wenig,« bemerkte Litwinow.

»Dafür raisonnirten die Anderen desto mehr. Ich hörte zu. Nun, wie hat Ihnen denn unser babylonischer Thurmbau gefallen?«

»Gerade der babylonische Thurmbau, das haben Sie vortrefflich gesagt. Ich hätte Lust, diese Herren wohl zu fragen, um was sie sich eigentlich so bemühen.«

Potugin seufzte.

»Das ist ja eben das Unglück, daß sie das nicht selbst wissen. Und das Bemerkenswerthe ist, daß viele von ihnen sonst ganz achtungswerthe Leute sind, sogar die erbitterte Madame Suchantschikow, die da ihr letztes Geld mit zwei armen Nichten theilt, ebenso auch Ihr Freund Bambaew, der das beste Herz auf der Welt hat. – Bemerken Sie nun noch: wenn zum Beispiel ein Dutzend Engländer zusammenkommen, so kommt sogleich die Rede auf den unterseeischen Telegraphen, auf die Baumwollensteuer, meinetwegen sogar auf die Art und Weise, Ratzenfelle zu verarbeiten, mit einem Worte auf etwas Nützliches Positives; kommen ein Dutzend Deutsche zusammen, nun da ist, versteht sich, Schleswig-Holstein und die Einigung Deutschlands zu einem großen Reiche das Hauptthema; ein Dutzend – Franzosen bringen ohne Zweifel, außer ihrem militärischen Ruhm, das Capitel: Frauenzimmer, und speciell noch: die verbotenen Früchtlein, Camellien 2c. auf‘s Tapet; treffen aber endlich ein Dutzend Russen zusammen, so ist ohne Weiteres die erste Frage: die Zukunft Rußlands, und darüber werden so viele verschiedene Ansichten vorgebracht, als Personen gegenwärtig: Klagen, Unzufriedenheit, Hoffnungen, Erwartungen, alles durcheinander. Die unglückliche Frage wird von ihnen zusammengekaut, wie etwa Knaben ein Stück Gummi elastivum kauen: ohne Sinn und Verstand! Nun, und bei dieser Gelegenheit wird dann gehörig auf den »verfaulten Westen« geschimpft. Und wenn man’s bei Licht betrachtet, so schlägt er uns in allen Punkten, dieser Westen, – den man immer als faul bezeichnet, und gegen den man beständig thut, als ob man ihn verachte. Ich sage: »thut,« denn im Grunde sind das ja nur Phrasen und eine Lüge. Den Westen schimpfen wir zwar, das ist richtig, auf seine Meinung aber sind wir eifersüchtig, im Grunde aber eigentlich nur auf die Meinung der Pariser Windmacher und Flachköpfe. Die Sache geht so weit, daß ein guter Freund von mir, ein Familienvater und kein junger Mann mehr, einige Tage lang außer sich war, weil er, der sich eingebildet hatte, ein vollkommener Pariser zu sein, in einem Restaurant dem Garcon zugerufen hatte: »Une portion de beafsteak aux pommes de terre,« nun hören mußte, wie ein wirklicher Franzose ganz einfach rief: »Garcon! beefsteak, pommes!«

–Sagen Sie mir doch,« sagte Litwinow, »wir kommt es, daß Gubarow einen so augenscheinlichen Einfluß auf seine Umgebung besitzt? Vielleicht durch seine Fähigkeiten, seine Kenntnisse?«

»Ei, Gott bewahre! er besitzt nichts dergleichen.«

»Also wohl durch seinen Charakter?«

»Auch dadurch nicht, wohl aber durch seinen festen Willen. Wir Sclaven lassen uns gar leicht beherrschen. Herr Gubarow hat an der Spitze der Partei stehen wollen, und Alle haben sich vor ihm gebeugt. Sie kennen ja das Sprichwort: Wer den Stock zu gebrauchen weiß, wird leicht Corporal!«

Potugin sagte diese bitteren Worte niedergeschlagen, augenscheinlich betrübt über deren Wahrheit.

»Wie sind Sie denn mit Gubarow bekannt geworden?«

»Ach, den kenne ich seit langer Zeit! Der ist auch so eine der Abnormitäten unseres Landes, wie es deren so manche bei uns giebt. Wie Sie sehen, ist er Slavänophile, Demokrat, Socialist und sonst Alles, was Sie wollen, dessen ungeachtet verwaltete und verwaltet noch sein Bruder, ein Landwirth im alten Geiste, sein Gut, einer von denen, die wir Zahnausbrecher, Bauernschinder zu nennen pflegen. Daß er kein Redner ist, haben Sie gewiß schon heute herausgefühlt, und Gottlob! daß er nur wenig gesprochen hat, denn wenn er einmal bei einem Glase aufthaut, so wird es sogar mir, der ich doch sonst ein geduldiger Mensch bin, zu viel. Dann fängt er an zu spötteln und Zoten zu reißen, daß es Einem widerlich wird zuzuhören.«

»Als ob Sie wirklich so geduldig sind? Ich hätte eher das Gegentheil vermuthet.«

Potugin schlürfte etwas von seinem Kirschwasser.

»Da irren Sie doch sehr: ich bin wirklich geduldig. Mein Vater war Geistlichen und schon früh kam ich in’s Ministerium, wo ich einen Verwandten, den wirklichen Staatsrath Potugin, zweiundzwanzig Jahre lang zum Vorgesetzten hatte. Haben Sie den vielleicht gekannt?«

»Nein.«

»Nun da gratulire ich Ihnen. Geduld habe ich bei dem, als armer Verwandten gelernt! Seit ich nun aber aus dem Dienst getreten, habe ich gelernt, mich etwas freier zu bewegen und mich nicht mehr zu fürchten, meine Ueberzeugung gerade herauszusagen. Meine Meinungen über West-Europa sind nicht die der Majorität bei uns: ich habe hohe Achtung vor Europa gewonnen, oder, genauer zu reden, vor der Civilisation – ich liebe sie von ganzem Herzen und habe keinen anderen Glauben und werde keinen anderen haben als die Civilisation!« Potugin sprach dieses Wort gedehnt und mit Nachdruck aus.

»Nun, und Rußland, Ihr Vaterland, lieben Sie doch?« fragte Litwinow nach einer Pause Herrn Potugin.

»Ich liebe es leidenschaftlich und hasse es zugleich!«

»Das ist veraltet, Herr Potugin, nichts als eine Redensart und schmeckt noch nach dem Romantismus der dreißiger Jahre – nach Byron.«

»Sie irren, das ist eine viel ältere Wahrheit; der Erste, der auf solch eine Verschiedenheit der Gefühle hinweist, lebte vor zweitausend Jahren, es ist der römische Dichter Catullus. Ja, ich liebe mein ganz absonderliches, abscheuliches, theures Vaterland. Ich habe es jetzt verlassen, um meinen Geist etwas auszulüften nach zweiundzwanzigjährigem ewigen Sitzen am Regierungstische; ich habe Rußland verlassen, und mir ist hier ganz behaglich, aber ich fühle doch, lange halte ich es in der Fremde nicht aus, denn gut ist wohl die Gartenerde, aber die Moosbeere kann nicht in derselben gedeihen . . .Doch ich schwatze da schon so lange mit Ihnen, daß es endlich Zeit wird aufzuhören, um nicht Ihnen gleich bei der ersten Bekanntschaft unbescheiden zu erscheinen. Auf angenehmes Wiedersehen! . . . Ich wiederhole Ihnen, es hat mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Warten Sie doch; sagen Sie mir wenigstens, wo Sie wohnen und ob Sie noch lange hierbleiben?«

Potugin antwortete etwas verlegen:

»Ich bleibe noch eine Woche hier, wir können uns aber, wenn es Ihnen recht ist, ja hier bei Weber oder Max treffen. Sonst kann ich auch zu Ihnen kommen . . . Und somit: leben Sie wohl!«

Er stülpte seinen breiten weichen Hut auf und verschwand bald in der Lichtenthaler Allee.

Žanrid ja sildid

Vanusepiirang:
0+
Ilmumiskuupäev Litres'is:
04 detsember 2019
Objętość:
150 lk 1 illustratsioon
Õiguste omanik:
Public Domain

Selle raamatuga loetakse