Loe raamatut: «Neu-Land»
»Es soll das Neu-Land nicht mit leicht die
Oberfläche streifender Hacke, sondern mit tief
einschneidenden Pfluge geackert werden.«
Aus den Aufzeichnungen eines Landwirths.
Erstes Capitel
Im Frühling des Jahres 1868, ungefähr um ein Uhr Mittags, stieg ein nachlässig und ärmlich gekleideter Mann im Alter von gegen siebenundzwanzig Jahren mühsam die Hintertreppe eines fünfstöckigen Hauses in der Offiziers-Straße in St. Petersburg hinauf. Schwerfälligen Schrittes die schlürfenden, abgetretenen Galoschen nach sich ziehend, den wuchtigen, plumpen Körper langsam auf und nieder bewegend, schritt er endlich über die letzten Stufen, der Treppe hinweg, blieb vor einer morschen, halbgeöffneten Thür stehen, – und stürzte, ohne die Glocke zu ziehen, jedoch geräuschvoll Athem holend, in das kleine dunkle Vorzimmer hinein.
– Ist Neshdanow zu Hauses – fragte er fast schreiend mit tiefer, lauter Stimme.
– Er ist fort – ich bin hier, treten Sie ein, – ertönte aus dem Nebenzimmer eine weibliche, gleichfalls ziemlich rauhe Stimme.
– Maschurina? – entgegnete fragenden Tones der Ankömmling.
– Sie selbst. – Und Sie sind – Ostrodumow?
– Pimen Ostrodumow, – antwortete Dieser, worauf er die Galoschen vorsichtig abzog, den alten fadenscheinigen Mantel an den Nagel hängte, und dann in das Zimmer trat, aus welchem die weibliche Stimme erklungen war.
Es war ein niedriges, unsauberes Zimmer, dessen Wände mit mattgrüner Farbe gestrichen waren und in welches das Licht durch zwei verstaubte Fenster kaum hineinzudringen vermochte. Das ganze Ameublement bestand aus einem kleinen eisernen Bette in der Ecke, einem Tisch in der Mitte, einigen Stühlen und einer mit Büchern überladenen Etagère – Am Tisch saß eine weibliche Gestalt von schlichtem Aussehen, mit entblößten Kopfe, im Alter von ungefähr dreißig Jahren, in einem schwarzen wollenen Kleide und rauchte eine Cigarette. Als sie den eintretenden Ostrodumow erblickte, streckte sie ihm schweigend ihre breite, rothe Hand entgegen. Gleichfalls schweigend drückte sie Dieser – und holte, indem er sich auf einen Stuhl niederließ, aus der Seitentasche seines Rockes eine halb zerbrochene Cigarre hervor. Maschurina gab ihm Feuer – er tauchte die Cigarre an, und Beide begannen nun, ohne ein Wort zu sprechen und sogar ohne einander anzublicken, bläuliche Rauchwolken in die ohnedies schon dumpfe, tabakdurchtränkte Luft des Zimmers aufsteigen zu lassen.
Den beiden Rauchern schien ein unbestimmtes Etwas gemeinsam zu sein, obgleich die Gesichtszüge derselben einander durchaus unähnlich waren. Es sprach aus diesen zwei unordentlichen Menschen mit den groben Lippen, Zähnen und Nasen – Ostrodumow hatte dazu noch Blatternarben im Gesicht – eine gewisse Ehrlichkeit, Festigkeit und thätige Arbeitslust.
– Haben Sie Neshdanow gesehen? – fragte Ostrodumow endlich.
– Hab’ ihn gesehen; er wird gleich hier sein, Bücher wollte er zur Bibliothek bringen.
Ostrodumow spuckte leichthin zur Seite.
– Was läuft er denn jetzt immer umher? Man trifft ihn ja nie.
Maschurina holte eine andere Cigarrette hervor.
– Er langweilt sich, – sagte sie, die Cigarrette sorgfältig anrauchend.
– Langweilt sich! – wiederholte Ostrodumow vorwurfsvoll.
– Diese Weichlichkeit! Sollte man doch denken, wir hätten mit ihm nichts zu thun. Hier gilt es, will’s Gott, Alles energisch zu Ende zu führen, er aber – langweilt sich!
– Ist kein Brief aus Moskau angekommen?– fragte Maschurina nach einer kurzen Pause.
– Ist angekommen . . . vorgestern.
– Haben Sie ihn gelesen?
Ostrodumow nickte blos mit dem Kopfe.
– Nun . . . und was denn?
– Was? – Werde bald fahren müssen.
Maschurina nahm die Cigarrette aus dem Munde. – Weßhalb denn? Es geht dort doch Alles gut, wie man hört.
– Es geht seinen Gang. Es ist da nur ein nicht ganz zuverlässiges Männlein hineingekommen. Nun und . . . da muß man es absetzen, vielleicht auch ganz beseitigen. Dann giebt’s da noch and’re Dinge zu thun. – Sie ruft man ebenfalls dahin.
– Im Brief?
– Ja; im Brief.
Mit einer raschen Bewegung des Kopfes warf Maschurina das schwere Haar aus dem Gesicht zurück. Hinten unordentlich zu einer kleinen Flechte aufgesteckt, fiel es vorn über Stirn und Brauen herab.
Ei was! – sagte sie: – wenn der Befehl gegeben wird – so ist da nichts mehr zu reden.
– Natürlich, nichts! ohne Geld ist es jedoch gar nicht möglich; woher soll man’s aber nehmen, dieses Geld?
Maschurina sann noch.
– Neshdanow muß es schaffen, – sagte sie leise, gleichsam für sich.
– Deswegen eben bin ich gekommen, – bemerkte Ostrodumow.
– Haben Sie den Brief bei sich? – fragte Maschurina plötzlich.
– Ja. Wollen Sie ihn lesen?
– Geben Sie oder nein, ist nicht nöthig. Wir lesen ihn zusammen . . . später.
– Es ist so, wie ich sage, – brummte Ostrodumow; – zweifeln Sie nicht daran.
– Ich zweifle auch gar nicht.
Und Beide wurden wieder still, und es entstiegen wie früher nur Rauchwolken den verstummten Lippen und zogen in schwach kräuselnder Bewegung über ihren mit üppigem Haarwuchs bedeckten Köpfen hinweg.
– Da ist er! – flüsterte Maschurina.
Die Thür ging ein wenig auf und ein Kopf zeigte sich in der Oeffnung – aber es war nicht Neshdanow’s Kopf.
Es war das ein rundes Köpfchen mit schwarzem, struppigem Haar, breiter, gerunzelter Stirn, braunen überaus lebhaften Augen unter den dichten Brauen, einer entenartigen, aufgeworfenen Nase und einem kleinen rosigen, possirüch gebildeten Munde. Das Köpfchen blickte sich um, nickte, und lächelte – wobei eine Menge kleiner weißer Zähnchen zum Vorschein kamen – und trat dann mitsammt seinem schwächlichen Oberkörper, den kurzen Armen und den ein wenig krummen und lahmen Beinchen in’s Zimmer. Als Maschurina und Ostrodumow dieses Köpfchens gewahr wurden, zeigte sich in ihren Mienen sogleich eine gewisse nachsichtsvolle Verachtung, als ob gleichsam ein Jeder von ihnen innerlich ausgerufen hätte: »Ah! Dieser!« Und sie ließen kein Wörtchen weiter fallen, sie rührten sich nicht einmal. Der dem neu eintretenden Gast erwiesene Empfang setzte denselben übrigens durchaus nicht in Verlegenheit, sondern gewährte ihm sogar, wie es schien, eine gewisse Befriedigung.
– Was hat das zu bedeuten? – brachte er mit seiner, durchdringender Stimme hervor. – Ein Duett? Warum denn kein Trio? und wo ist denn der erste Tenor?
– Ihre Wißbegierde betrifft wohl Neshdanow, Herr Paklin? – fragte ihn Ostrodumow mit ernster Miene.
– Ganz recht, Herr Ostrodumow: Neshdanow.
– Er kommt wohl bald, Herr Paklin.
– Sehr angenehm zu hören, Herr Ostrodumow.
Das schwächliche Männchen wandte sich zur Maschurina. Mit finsterer Miene saß sie da – und fuhr aus ihrer Cigarrette gemächlich zu dampfen fort.
– Wie geht es Ihnen, liebste . . . liebste . . . Ach wie das ärgerlich ist! Immer vergesse ich Ihren Tauf- und auch ihren Vaternamen!
Maschurina zuckte die Achseln.
– Und Sie brauchen ihn auch nicht zu wissen! Mein Familienname ist Ihnen bekannt. Ist das nicht genug! – Und was das für eine Frage ist: wie geht es Ihnen? – Sehen Sie denn nicht, daß ich lebe?
– Vollkommen, vollkommen richtig! – rief Paklin, die Nasenflügel aufblasend und mit den Augenbrauen zuckend; – wenn Sie nicht am Leben wären, würde Ihr ergebener Diener nicht das Vergnügen haben, Sie hier zu sehen und sich mit Ihnen zu unterhalten! – Schreiben Sie meine Frage einer verjährten dummen Gewohnheit zu. Ebenso hinsichtlich des Tauf- und Vaternamens . . . Wissen Sie: es ist gewissermaßen so unbequem, ganz einfach Maschurina zu sagen. – Ich weiß freilich, daß Sie auch Ihre Briefe nicht andere unterzeichnen, als einfach: Bonaparte! – wollte sagen: Maschurina! – Aber ungeachtet dessen, in der Unterhaltung . . .
– Wer hat Sie denn überhaupt gebeten sich mit mir zu unterhalten?
Paklin begann zu lachen: es war ein nervöses, gleichsam stickendes Lachen.
– Nun, lassen Sie es gut sein, Sie Liebe, Herzige, geben Sie mir Ihre Hand, seien Sie nicht böse – ich weiß ja: Sie sind seelengut – und ich bin auch gut . . . Nun?
Paklin streckte ihr die Hand entgegen . . . Maschurina blickte mit finsterer Miene zu ihm auf – gab ihm jedoch ihre Hand.
– Wenn Sie meinen Namen durchaus wissen wollen, – sagte sie mit derselben finsteren Miene, – es sei: ich heiße Thekla.
– Und ich – Pimen, fügte in tiefem Baß Ostrodumow hinzu.
– Ah! das ist gewiß sehr, sehr belehrend! Aber sagen Sie mit in diesem Falle, o Thekla! und Sie, o Pimen! sagt mir, warum Euer Benehmen gegen mich so feindselig, so unveränderlich – feindselig ist, während ich . . .
– Maschurina findet, – unterbrach ihn Ostrodumow – und nicht sie allein findet es – daß auf Sie kein Verlaß ist, weil Sie in allen Dingen nur die lächerliche Seite sehen.
Paklin drehte sich scharf auf den Absätzen um.
– Da ist er, der beständige Fehler der Leute, die mich beurtheilen, verehrtester Pimen! Erstens: ich lache nicht immer; zweitens aber – das kann nicht im Geringsten störend sein und man kann sich auf mich recht wohl verlassen, was auch durch das schmeichelhafte Vertrauen bewiesen wird, das mir grade in Euren Reihen mehr als ein Mal zu Theil geworden ist! Ich bin ein ehrenhafter Mensch, verehrtester Pimen!
Ostrodumow brummte etwas durch die Zähne, Paklin schüttelte den Kopf und wiederholte, bereits ohne jedes Lächeln:
– Nein! ich lache nicht immer! Ich bin kein vergnügter Mensch! Sehen Sie mich einmal an!
Ostrodumow lenkte seine Blicke auf den Sprechenden. – Wenn Paklin schwieg, wenn er nicht lachte, nahm sein Gesicht in der That einen fast wehmüthigen, verzagten Ausdruck an; es wurde wieder heiter und sogar boshaft, sobald er nur den Mund öffnete. Ostrodumow sagte jedoch nichts.
Paklin wandte sich wieder Maschurina zu.
– Nun, wie steht’s um das Studium? Machen Sie Fortschritte in ihrer wahrhaft menschenliebenden Kunst? Ist es doch ein schweres Stück, denke ich – dem unerfahrenen Bürger bei seinem ersten Eintritt in Gottes Welt behilflich zu sein?
– Nein, es ist gar keine Mühe dabei, wenn er nicht viel größer ist als Sie, – antwortete Maschurina, die eben ihr Examen als Geburtshelferin bestanden, mit selbstzufriedenem Lächeln. Sie war vor anderthalb Jahren, nachdem sie ihre dem Adel angehörende, wenig begüterte Familie verlassen, mit sechs Rubeln in der Tasche aus dem südlichen Rußland in Petersburg angekommen; hier war sie in eine Entbindungsanstalt eingetreten und hatte sich durch unermüdlichen Fleiß das erwünschte Attestat erworben. Sie war Mädchen . . . und ein sehr keusches Mädchen. Dabei ist nichts Wunderbares! denkt vielleicht mancher Skeptiker, sich dessen erinnernd, was über ihr Aeußeres gesagt worden ist. Es ist aber dennoch etwas Wunderbares und Seltenes! erlauben wir uns zu bemerken.
Als er ihre schlagfertige Antwort vernommen, fing Paklin wieder zu lachen an.
– Sie sind ein prächtiges Frauenzimmer, meine Liebe! – rief er aus. – Bin ganz gehörig abgeblitzt! Geschieht mir recht! Warum bin ich ein solcher Zwerg geblieben! Aber wo steckt denn eigentlich der Hausherr?
Nicht ohne Absicht war es geschehen, daß Paklin das Gespräch abzulenken versuchte. Es war ihm unmöglich, sich mit seinem zwerghaften Wuchs, seiner ganzen unansehnlichen Gestalt zu versöhnen. Er empfand das um so tiefer, da er die Frauen leidenschaftlich verehrte. Was hätte er Alles hingeben mögen, um ihnen zu gefallen! Das Bewußtsein seines kläglichen Aeußeren zehrte viel mehr an ihm, als seine niedrige Herkunft, seine wenig beneidenswerthe Stellung in der Gesellschaft. Sein Vater war ein einfacher Kleinbürger, ein Winkeladvocat und Assairist gewesen, der sich mittelst allerlei Unredlichkeiten bis zum Range eines Titular-Raths heraufgedient hatte. Als Verwalter verschiedener Güter und Häuser hatte er wohl manchen Kopeken erübrigt, darauf aber am Abend seines Lebens stark zu trinken angefangen und nach seinem Tode nichts hinterlassen. Der junge Paklin (er hieß Ssila Ssamssonytsch – was in seinen Augen gleichsam ein Hohn war1), hatte seine Erziehung in der Kommerzschule erhalten, wo er trefflich deutsch sprechen lernte. Später trat er dann nach allerlei schmerzlichen Widerwärtigkeiten in ein Privatcomptoir, wo er ein Jahresgehalt von 1500 R.S. bezog. Mit diesem Gelde ernährte er sich selbst, eine kranke Tante und eine bucklige Schwester. Zur Zeit unserer Erzählung hatte er eben das siebenundzwanzigste Jahr zurückgelegt. Paklin war mit vielen Studenten und jungen Leuten bekannt, die an seiner cynischen Keckheit, an der heiteren Bitterkeit seiner selbstgefälligen Rede, an seiner einseitigen, jedoch durchaus nicht pedantischen, jedenfalls unzweifelhaften Belesenheit Gefallen fanden. Nur selten geschah es, daß über ihn gespöttelt und gewitzelt wurde. Ein Mal verspätete er sich bei einer »politischen« Zusammenkunft . . . Als er in’s Zimmer trat, begann er sich gleich hastig zu entschuldigen. . . »Hasenfüßig war der arme Paklin« – hörte man in der Ecke Jemand singen – und Alle fingen laut zu lachen an. Auch Paklin lachte endlich auf, obgleich es ihm das Herz abdrückte. »Hat die Wahrheit gesagt, der Spitzbube!« – dachte er bei sich. Mit Neshdanow war er im griechischen Speisehaus, wo er zu Mittag zu essen und zuweilen überaus frei und scharf zu reden pflegte, bekannt geworden. Er versicherte, daß die Hauptursache seiner demokratischen Stimmung die abscheuliche griechische Küche sei, welche seine Leber afficire.
– Ja in der That wo bleibt denn unser Hausherr? – wiederholte Paklin. – Ich bemerke; er ist seit einiger Zeit gleichsam nicht recht bei Laune. Er ist doch nicht gar verliebt, um Gottes Willen!
Maschurina verzog das Gesicht.
– Er ist nach Büchern in die Bibliothek gegangen – zum Verlieben hat er jedoch keine Zeit und es ist auch Niemand dazu da.
– Aber Sie? wäre es fast den Lippen Paklin’s entschlüpft – Ich möchte ihn sehen, – sagte er laut, – weil ich über eine sehr wichtige Sache mit ihm zu sprechen habe.
– Was für eine Sache? – mischte sich Ostrodumow in die Unterhaltung – Unsere Sache?
– Vielleicht auch Ihre . . . d.h. unsere, die allgemeine Sache.
Ostrodumow verstummte. Er konnte ihm im Herzen doch nicht recht Glauben schenken, dachte aber: »Weiß der Teufel! Ein rechter Schleicher!«
– Da kommt er endlich, – rief Maschurina plötzlich – und in ihren kleinen, häßlichen, auf die Vorzimmerthür gerichteten Augen blitzte es auf so warm und zärtlich, so hell und tief. . .
Die Thür öffnete sich – und es trat, die Mühe auf dem Kopf und ein Packet Bücher unter dem Arme, dieses Mal ein junger, ungefähr dreiundzwanzigjähriger Mann in’s Zimmer, – es war Neshdanow.
Zweites Capitel
Beim Anblick der Gäste, die sich in seiner Behausung befanden, blieb er auf der Thürschwelle stehen, ließ die Augen im Kreise umherschweifen, schleuderte die Mütze fort, warf die Bücher zu Boden – und ging auf das Bett zu, auf welches er sich dann schweigend niederließ. Sein hübsches, weißes Gesicht, das in Folge der rothbraunen Farbe des welligen Haares noch weißer erschien, drückte Unzufriedenheit und Erbitterung aus.
Maschurina, die sich ein wenig abgewandt hatte, biß sich auf die Lippen, Ostrodumow brummte: Endlich!
Paklin trat zuerst an Neshdanow heran.
– Was ist Dir, Alexei Dmitrijewitsch, Du Hamlet Rußlands? Hat Dich Jemand gekränkt? Oder ist Dir – ohne Grund – plötzlich so weh geworden?
– Hör’ auf, bitte, Rußlands Mephistopheles – antwortete in gereiztem Tone Neshdanow. – Ich bin jetzt nicht ausgelegt, mich in flachen Witzen mit Dir zu ergehen.
Lachend entgegnete Dieser:
– Deine Ausdrucksweise ist nicht ganz genau: was da flach ist, kann nicht witzig – was witzig ist, kann nicht flach sein.
– Nun gut, gut . . . Du bist ja natürlich der Kluge.
– Du aber bist in aufgeregter Stimmung, – sagte Paklin, die Silben nachdrücklich dehnend. – Ist denn wirklich etwas geschehen?
– Nichts Besonderes ist geschehen; – es ist nur das geschehen, daß man in dieser widerwärtigen Stadt, in St. Petersburg, die Nase nicht auf die Straße hinausstecken kann, ohne auf Flachheit, Dummheit, himmelschreiende Ungerechtigkeit, Blödsinn zu stoßen! Es ist geradezu unmöglich hier zu leben.
– Daher hast Du also in den Zeitungen angezeigt, daß Du eine Stelle suchst und auch nach Auswärts zu gehen bereit bist – brummte wieder Ostrodumow.
– Und werde natürlich mit dem größten Vergnügen von hier fortreisen! Wenn sich nur zuerst ein Narr findet – der mir eine Stelle anbietet!
– Erst muß man hier jedoch seine Pflicht thun – bemerkte Maschurina bedeutungsvoll, indem sie zur Seite zu blicken fortfuhr.
– Das heißt? – fragte, sich plötzlich zu ihr wendend, Neshdanow. Maschurina preßte die Lippen aneinander.
– Ostrodumow wird’s Ihnen mittheilen.
Neshdanow wandte sich zu Ostrodumow.
Dieser murmelte etwas zwischen den Zähnen und hüstelte, als wolle er sagen: »kannst warten.«
– Nein, ohne Scherz, – mischte sich Paklin hinein: – hast Du wirklich etwas Unangenehmes erfahren?
Neshdanow schnellte aus dem Bette empor, als hätte ihn etwas in die Höhe geschleudert.
– Was soll denn noch Unangenehmeres geschehen? – schrie er mit plötzlich klangvoll vibrirender Stimme.
– Halb Rußland stirbt vor Hunger, die »Moskauer Zeitung« triumphirt, der Klassicismus wird überall eingeführt, Studenten-Kassen verbietet man, überall Spionage, Verfolgung, Denunciationen, Lüge und Falschheit – nirgends ein Fleckchen, wo man hintreten könnte . . . ihm ist es aber noch immer zu wenig, es soll noch Unangenehmeres geschehen, er denkt, daß ich scherze . . . Bassanow ist arretirt, – fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu: – man sagte mir’s in der Bibliothek.
Ostrodumow und Maschurina richteten Beide gleichzeitig die Köpfe in die Höhe.
– Lieber Freund, Alexei Dmitrijewitsch – begann Paklin, – Du bist aufgeregt – ich begreife es . . . Aber hast Du denn vergessen, zu welcher Zeit und in welchem Lande wir leben? – Es muß sich ja bei uns der Ertrinkende selbst den Strohhalm anfertigen, an den er sich anzuklammern gedenkt! – Ist’s denn jetzt an der Zeit, den Difficilen zu spielen?! Man muß, Freund, dem Teufel in’s Auge zu sehen verstehen, nicht aber sich kindisch ereifern . . .
– Ach, bitte, bitte! – fiel ihm Neshdanow, gleichsam ärgerlich klagend in die Rede und verzog das Gesicht, wie von innerem Schmerz durchzuckt. – Du bist natürlich ein energischer Mann – Du fürchtest Nichts und Niemanden . . .
– Ich und Niemanden fürchten?! – wollte Paklin erwidern . . .
– Wir den Bassanow nur verrathen haben mag? – fuhr Neshdanow fort, – ich begreife es nicht!
– Natürlich – ein Freund. – Das verstehen sie prächtig – diese Freunde. Da heißt es: Auf der Hut sein! Ich zum Beispiel, habe einen Freund gehabt – es war ein vortrefflicher Mensch, wie es schien; wie ist er um mich, um meinen Ruf besorgt gewesen! Eines Tages kommt er zu mir . . . – »Denken Sie sich,« ruft er: »was man für dumme Gerüchte verbreitet: man versichert, daß Sie Ihren Onkel vergiftet, daß man Sie als Gast in ein Haus eingeführt und daß Sie der Frau vom Hause den Rücken zugekehrt hätten und auch den ganzen Abend in dieser Stellung geblieben seien! Sie aber hat ob dieser Kränkung bittere, bittere Thränen geweint! – Ein solcher Unsinn! solcher Blödsinn! Nur ein Narr kann das glauben!« – Und was geschah? Ein Jahr daraus überwarf ich mich mit eben diesem Freunde. . . . Und da schreibt er mir in seinem Abschiedsbriefe: »Sie, der Sie Ihren Onkel umgebracht, – Sie, der Sie sich nicht entblödet haben, eine ehrenwerthe Dame zu beleidigen, indem Sie ihr den Rücken zugekehrt!« . . . 2c. 2c. – So sind, die Freunde!
Ostrodumow und Maschurina sahen einander an.
– Alexei Dmitrijewitsch! – platzte Ostrodumow in seinem schwerfälligen Baß heraus – er wollte dem unnützen Wortkram offenbar ein Ende machen – es ist aus Moskau ein Brief von Wassili Nikolajewitsch angekommen.
Neshdanow fuhr ein wenig zusammen und senkte den Blick nachdenklich zu Boden.
– Was schreibt er? – fragte er endlich.
– Was . . . Ich muß mit ihr . . . – Ostrodumow wies mit dem Blick auf Maschurina hin – nach Moskau.
– Wie? auch sie ruft man dahin?
– Auch sie.
– Woran liegt es denn, daß Ihr noch hier seid?
– Woran . . . selbstverständlich . . . am Gelde.
Neshdanow erhob sich und trat an’s Fenster.
– Ist viel nöthig?
– Fünfzig Rubel. . . Das ist das Wenigste.
Es entstand eine kleine Pause.
– Ich habe jetzt kein Geld – flüsterte endlich, mit den Fingern auf der Fensterscheibe trommelnd, Neshdanow, – aber . . . ich kann es schaffen. Ich werde es schaffen. Hast Du den Brief?
– Den Brief? Er . . . das heißt natürlich . . .
– Was versteckt Ihr Euch denn immer vor mir?
– rief Paklin aus. – Bin ich Eures Vertrauens denn wirklich unwerth? – Wenn ich auch nicht voll und ganz beizustimmen vermöchte . . . Dem, was Ihr unternehmt – glaubt Ihr denn wirklich, daß ich im Stande wäre, Euch zu verrathen oder etwas auszuplaudern?
– Ohne Absicht . . . vielleicht! – hörte man Ostrodumow’s tiefe Stimme.
– Weder mit noch ohne Absicht! – Fräulein Maschurina da sieht mich an und lächelt . . . ich sage Euch aber . . .
– Ich denke nicht daran zu lächeln – entgegnete grimmigen Tones Maschurina.
– Ich sage Euch aber, meine Herren, – fuhr Paklin fort, – daß Euch das instinktive Gefühl, welches die echten Freunde von den falschen unterscheiden lehrt, abgeht! Wenn der Mensch lacht, so meint Ihr auch gleich, daß jeder Ernst ihm fern ist . . .
– Ist’s vielleicht nicht der Fall? – fuhr Maschurina; zum zweiten Mal auf ihn los.
– Sie zum Beispiel – nahm Paklin mit erhöhter Kraft, ohne Maschurina einer Antwort zu würdigen, seine Rede auf, – Sie brauchen Geld . . . Neshdanow hat aber setzt kein Geld . . . So kann ich es geben.
Neshdanow trat rasch vom Fenster zurück.
– Nein nein wozu denn? Ich werde es schaffen . . . ich werde einen Theil meiner Pension vorausnehmen . . . Ich erinnere mich, sie sind mir schuldig geblieben. Aber hör’, Ostrodumow: zeig’ mir den Brief.
Ostrodumow blieb zuerst eine kurze Zeit regungslos auf seinem Platze; nachdem er sich darauf nach allen Seiten umgesehen, stand er auf, bückte sich mit dem ganzen Oberkörper zur Erde, streifte das Beinkleid in die Höhe und holte aus dem Stiefelschaft ein sorgfältig zusammengefaltetes Stück blauen Papiers hervor; nachdem er es herausgezogen, blies er darauf – wozu? wissen wir nicht zu sagen – und reichte es Neshdanow hin.
Dieser nahm das Papier, faltete es auseinander, las dessen Inhalt aufmerksam durch und reichte es dann Maschurina . . . Letztere erhob sich zuerst vom Stuhle, las den Brief und gab ihn darauf an Neshdanow zurück, obgleich Paklin die Hand darnach ausstreckte. Neshdanow zuckte die Achseln und händigte den geheimnißvollen Brief Paklin ein. Paklin durchflog das Papier und legte es, die Lippen bedeutsam aneinanderpressend, langsam auf den Tisch. Da ergriff Ostrodumow dasselbe, rieb ein großes Zündhölzchen an, das starken Schwefelgeruch um sich verbreitete, hob dann den Brief, um ihn gleichsam Allen zu zeigen hoch empor, verbrannte ihn darauf, ohne sogar seiner Finger zu schonen, am Feuer des Zündhölzchens zu Asche und warf diese Asche endlich in den Ofen. Alle saßen während dieses Vorgangs stumm und regungslos, mit zu Boden gesenkten Blicken, da. Ostrodumow’s Gesicht hatte den Ausdruck thätigen Ernstes, böse und finster schien das Antlitz Neshdanow’s; gespannte Aufmerksamkeit sprach aus den Mienen Paklin’s, während Maschurina sich verhielt, als verrichtete sie eine heilige Handlung.
So vergingen ungefähr zwei Minuten. Darauf kam über Alle das Gefühl einer gewissen Verlegenheit. Paklin spürte zuerst die Nothwendigkeit, das Schweigen zu brechen.
– Wie bleibt es also? – begann er. – Nimmt man mein Opfer auf den Altar des Vaterlandes an oder nicht? Gestattet man mir, wenn auch nicht das ganze Geld, so doch wenigstens fünfundzwanzig oder dreißig Rubel darzubringen?
Neshdanow wurde plötzlich feuerroth vor Zorn. Die lange niedergehaltene Erbitterung schien ihren Höhepunkt erreicht zu haben . . . Die feierliche Verbrennung des Briefes hatte sie nicht gemindert, – es war, als hätte sein Zorn nur auf einen Vorwand gewartet, um zum Ausbruch zu kommen.
– Ich habe Dir bereits gesagt, daß es nicht nöthig ist, nicht nöthig . . .nicht nöthig! Ich lasse es nicht zu und werde es nicht annehmen. Ich schaffe das Geld, ich schaffe es gleich. Ich brauche keine Hilfe, von Niemand!
– Nun, Freund, – entgegnete Paklin – ich sehe, wenn Du auch ein Revolutionär bist – so bist Du doch kein Demokrat!
– Sage doch lieber gerade heraus, daß ich ein Aristokrat bin!
– Du bist auch wirklich ein Aristokrat bis zu einem gewissen Grade.
Neshdanow lachte gezwungen auf.
– Das heißt, Du spielst darauf an, daß ich ein uneheliches Kind bin. Deine Mühe ist vergebens, mein Lieber . . . Ich vergesse es auch so nicht.
Paklin schlug die Hände zusammen.
– Alex, ich bitte Dich, was ist Dir! Wie kannst Du meinen Worten eine solche Deutung geben! Ich erkenne Dich heute nicht. Neshdanow machte eine ungeduldige Bewegung mit Kopf und Schultern. – Hat Dich Bassanow’s Verhaftung so aufgeregt? – aber er ist doch selbst stets so unvorsichtig gewesen . . .
– Er hat aus seiner Ueberzeugung kein Hehl gemacht, – warf Maschurina mit finsterer Miene ein: – es steht uns nicht an, ihn zu verurtheilen!
– Ganz recht; er hätte nur auch an die Andern denken sollen, die setzt durch ihn kompromittirt werden können.
– Woher glauben Sie in solcher Weise von ihm sprechen zu dürfen? – ertönte jetzt der Baß Ostrodumow’s: – Bassanow ist ein Mensch von festem Charakter; er wird Niemanden verrathen. Was aber die Vorsicht betrifft . . . wissen Sie? es ist nicht Jedem gegeben, vorsichtig zu sein, Herr Paklin!
Paklin fühlte sich gekränkt und wollte ihm etwas entgegnen, aber Neshdanow hielt ihn zurück.
– Meine Herren! – rief er aus, – thut mir den Gefallen und laßt die Politik auf kurze Zeit bei Seite! Es entstand eine Pause.
– Ich habe heute Skoropichin gesehen, – fing Paklin endlich wieder an, – aller Reußen Kritiker und Aesthetiker und Enthusiast. Was für ein unerträgliches Geschöpf! Ewig kocht und zischt es in ihm wie in einer Flasche gemeinen, süßlichen Kwasses . . . beim Laufen hat sie der Kellner statt des Pfropfens mit dem Finger verstopft, im Halse der Flasche ist eine angeschwollene Rosine stecken geblieben – es pfeift und spritzt aus derselben – wenn aber der Schaum heraus ist – so bleiben auf dem Boden nur noch einige Tropfen einer höchst garstigen Flüssigkeit, welche Niemandes Durst zu stillen im Stande sind, sondern nur Bauchgrimmen verursachen können . . . Ein den jungen Leuten höchst schädliches Individuum!
Paklin’s Vergleich, so richtig und treffend er auch war, vermochte trotzdem Niemand von den Anwesenden zum Lachen zu bewegen. Blos Ostrodumow bemerkte, daß um die jungen Leute, welche sich für Aesthetik zu interessiren im Stande seien, zu klagen unnütz wäre, selbst wenn sie durch Skoropichin auch irre geleitet werden sollten.
– Aber ich bitte Sie, hören Sie doch – rief Paklin heftig aus – je weniger er Beifall fand, desto mehr pflegte er in Eifer zu gerathen – das ist freilich keine politische Frage, aber doch jedenfalls eine Frage von großer Bedeutung. Wenn man Skoropichin angehört, so ist jedes ältere künstlerische Werk schon einfach deshalb nichts werth, weil es alt ist . . . Aber in diesem Falle ist die künstlerische Produktion, die Kunst ja nur Sache der Mode – und es verlohnte nicht der Mühe, darüber noch ernstlich zu sprechen! Wenn nichts Hohes, nichts Ewiges in ihr enthalten ist – dann hol’ sie der Teufel! In der Wissenschaft, z. B. in der Mathematik: da werdet Ihr doch nicht behaupten, daß Euler, Laplace, Gauß triviale Größen seien, deren Zeit längst vorüber ist? Ihr seid deren Autorität anzuerkennen bereit – Raphael und Mozart aber sind Narren? und Euer Stolz lehnt sich gegen die Autorität derselben auf? Die Gesetze der Kunst sind schwerer zu ergründen, als die Gesetze der Wissenschaft, – ich gebe es zu; aber nichtsdestoweniger sind sie da – und wer sie nicht sieht, der ist blind; ob freiwillig oder unfreiwillig – das bleibt sich gleich!
Paklin schwieg . . . und Niemand öffnete die Lippen, als ob Alle den Mund voll Wasser genommen hätten – als ob sie sich seiner gewissermaßen schämten. Nur Ostrodumow brummte: – Und doch bedaure ich jene jungen Leute, welche Skoropichin irre leitet, nicht im Geringsten!
»Ah, Gott mit Euch!« dachte Paklin. »Ich gehe lieber fort!«
Er war zu Neshdanow gekommen, um ihm seine Gedanken über die Zustellung des »Polarsterns« (der »Kolokol« existirte damals nicht mehr) mitzutheilen – aber die Unterhaltung hatte eine solche Wendung genommen, daß er es für besser fand, diese Frage gar nicht zu berühren. Paklin hatte bereits seine Mütze in die Hand genommen, als im Vorzimmer plötzlich, ohne daß ein Geräusch irgend welcher Art vorausgegangen wäre, eine merkwürdig angenehme, männliche volle Baritonstimme ertönte, in deren bloßem Klange schon etwas ungewöhnlich Wohlanständiges, Wohlerzogenes, ja sogar ein gewisser Schmelz lag.
– Ist Herr Neshdanow zu Hause?
Alle sahen sich verwundert an.
– Ist Herr Neshdanow zu Hauses – wiederholte der Bariton.
– Ja – antwortete endlich Neshdanow.
Die Thür wurde leicht und bescheiden geöffnet, und es trat, langsam den glatt gebügelten Hut von dem wohlgebildeten, kurzhaarigen Kopfe ziehend, ein hoher, schlanker Mann von würdiger Haltung im Alter von ungefähr vierzig Jahren in’s Zimmer. In einem vortrefflichen Tuch-Paletot mit einem prachtvollen Biberkragen steckend, ungeachtet dessen, daß der April bereits seinem Ende entgegenging, – übte sein Auftreten auf Alle, auf Neshdanow, Paklin, ja sogar auf Maschurina und selbst auf Ostrodumow – durch das ungekünstelte Selbstgefühl seiner Haltung und die freundliche Ruhe seines Grußes große Wirkung aus. Unwillkürlich erhoben sich Alle bei seinem Eintritt.