Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto

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Die letzten Tage in Tamang

Ob es Tag oder Nacht war, spielte in Tamang keine Rolle. Räume und Gänge waren stets vom diffusen Leuchten des sonderbaren Geflechts an den Decken in ein geisterhaftes Licht getaucht. Hier war es das zusätzliche Flackern der auf den Dochten der Öllampen hüpfenden Flammen, die überdimensionale Schatten an die Wände der Bibliothek warfen.

Regale, die bis knapp unter die hohe Felsendecke reichten, zogen sich in scheinbar endlosen Reihen vom Eingangsbereich bis an die rückwärtige Wand. Es roch nach heißem Wachs, Pergament, Staub und dem Schweiß jener, die in der Bibliothek seit vielen Glas die kommende Reise vorbereiteten.

Dort, wo sich die Regalreihen mit all dem skrupulös geordneten Wissensschatz zur Tür hin öffneten, hing eine schwere Leuchte an vier Eisenketten von der Decke und hüllte die kleine, emsig arbeitende Runde unter sich in einen satten Lichtkegel. Um den Tisch aus schwarzem Ahorn wurde protokolliert, debattiert und organisiert. In wenigen Tagen sollte eine Flotte von tausend Schiffen aus der unterirdischen Hafenanlage Tamangs auslaufen, um mit den etwa vierzigtausend Seelen ihrer Besatzung dem Großen Abgrund entgegen zu segeln. Einhundert Kriegsschiffe und einhundert Allzweckschiffe der Güldenmaid-Bauweise, einhundert Mannschaftstransporter, sechshundertfünfzig Versorgungstransporter und fünfzig vallandische Drachen warteten in den unterirdischen Becken des Hafens darauf, über das Randmeer geschickt zu werden. Einunddreißigtausend Piraten, viertausend Krieger, tausend Zauberkundige, fünfhundert Priester, fünfhundert Heiler und Bader, tausend Handwerker, fünfhundert Gelehrte, eintausend Männer und Frauen, die für die Versorgung der Flotte und ihrer Besatzung zuständig waren, und fünfhundert Assassinen würden unter dem Kommando der neuen Helden der Allianz einer ungewissen Zukunft entgegensegeln – allesamt aus den unterschiedlichsten Völkern und Rassen Amaleas.

Bereits seit fünf Tagen arbeiteten Telos, Siralen, Chara, Lucretia und einige Berater fieberhaft an den letzten Vorbereitungen dieser gigantischen Expedition. Zuerst galt es, die Anzahl der Schiffe und Besatzungen festzulegen, worüber sie nach endlosen hitzigen Debatten noch am ersten Tag Einigkeit erzielten. Aufgrund der nicht abschätzbaren Dauer dieser Irrfahrt, der unbekannten Ziele und der zu erwartenden Kontakte mit gänzlich fremden, möglicherweise feindlich gesinnten Wesen, kam man überein, eine ganze verdammte Armada von Schiffen zu benötigen. Vor allem auch, um eine möglichst große Fläche abzudecken, weil niemand wusste, wo genau sie das erhoffte Land suchen sollten, und weil sie für die Überfahrt der angestrebten Zahl an Verbündeten jede Menge Transporter benötigten – sowohl für die Leute als auch für deren Versorgung. Außerdem mussten etwaige Verluste verschmerz- und verkraftbar bleiben, und kein gesunkenes Schiff durfte die Mission als Ganzes gefährden. Die Mitglieder der Flotte hatten nichts Genaues über diese Mission erfahren. Sie wussten weder, dass sie Amalea verlassen, noch völlig unbekanntes Gebiet erschließen würden. Der Einzige, dem sie die groben Pläne verraten mussten, war der zukünftige Admiral der Flotte.

Überraschenderweise hatte es trotz der Geheimhaltung eine wahre Flut an Freiwilligen gegeben, allen voran Piraten, was noch am ehesten zu erwarten gewesen war. Die Aussicht auf Kampf, Glorie und die eine oder andere Seeschlacht war verlockend für jemanden, der sein Leben dem Raub- und Entdeckungszug gewidmet hatte. Außerdem lag die Vermutung nahe, dass diese Expedition bereits seit Monden, vielleicht seit Jahren geplant und vorbereitet worden war. Was die vielen Freiwilligen anbelangte, die nicht zu den Freibeutern zählten, stellte sich nichts desto trotz die Frage: Wie freiwillig war deren Bereitschaft tatsächlich, auf eine Reise mit unbekanntem Ziel zu gehen?

Niemand wusste genau, wie sich die Allianz organisierte, wann genau Al’Jebal damit begonnen hatte, Tamang und sein geheimes Bündnis aufzubauen. Wer von den Mitgliedern war unterworfen und wer war aus eigenem Willen beigetreten? Gab es ursprünglich Gefangene, deren Nachkommen in die Allianz geboren wurden? Es war naheliegend, dass es Mitglieder gab, die diese unterirdische Stadt nie verlassen hatten. Manche bewegten sich mit einer Selbstverständlichkeit durch die Gänge Tamangs, als wäre dies ihre erste und einzige Heimat.

Chara hatte sich an Formation und Struktur der Flotte versucht, wobei sie schnell zu dem Schluss gekommen war, sie in zehn autarke Einzelflotten zu je hundert Schiffen zu gliedern. Was nichts anderes hieß, als dass man neben einem Admiral auch neun Vizeadmiräle ernennen musste. Bevor sie sich aber dieser Aufgabe widmen konnten, kam ein noch viel diffizilerer Teil der Planung: Die Festlegung der Kommandokette innerhalb der Armada. Rasch war allen klar, dass aufgrund der Vielzahl der sich im Flottenverband befindlichen Rassen, Nationen und Gruppierungen nicht für jede einzelne Abteilung ein Sprecher ins Kommando einziehen konnte. Das würde die Größe desselben schlicht sprengen und die Sache enorm verkomplizieren – je mehr Befehlshaber, desto wahrscheinlicher eine Uneinigkeit zwischen ihnen, was bei einem demokratischen Reglement innerhalb des Stabs zwangsläufig Verzögerungen in den Entscheidungsfindungen nach sich zog. Folglich: Weniger Kommandanten und ein schärferes Diktat in der Befehlsausgabe.

Sie einigten sich darauf, dass die wesentlichen Fraktionen im Kommando vertreten sein mussten: die Landstreitkräfte, die Seefahrer, die Zauberkundigen und die Interne Sicherheit. Letztere fiel unter den Zuständigkeitsbereich der Assassinen. Alle anderen Abteilungen schob man besagten Fraktionen zu oder besser gesagt unter. Die Heiler und Priester kamen zu den Zauberkundigen, die Versorger zu den Landstreitkräften, die Gelehrten … nun ja, da war man sich nicht ganz einig. Also wurde dieses Thema erst mal beiseitegelegt. Der Aufschub rief erneut die Bestimmung des Admirals und der Vizeadmiräle auf den Plan, und man ließ sich von Admiral Herkul Polonius Schroeder eine Liste mit Empfehlungen aushändigen.

Die Lösung des Problems war einfach. Es musste eine Anhörung her. Also setzte man einen Termin fest, an dem die von Schroeder abgesegneten Bewerber der Reihe nach antreten durften.

Es war am Nachmittag des fünften Tages, als Chara, Telos, Lucretia und Siralen die ersten von ihnen zur Anhörung erwarteten.

„Wie viele sind es?“, fragte Chara Siralen. Telos rollte seine Namensliste der obersten Priester zusammen, band sie an seinem Gürtel fest und stand auf.

„Für die Anhörung der Kapitäne wird meine Anwesenheit wohl nicht nötig sein“, bemerkte er und strich sich in aller Ruhe seine Toga glatt. „Ich werde mich jetzt zurückziehen.“

„Wie viele?“, wiederholte Chara ihre Frage, während Lucretia Telos mit einem finsteren Blick strafte. Die Magierin war nicht die Einzige am Tisch, der es nicht gefiel, dass Telos kein Interesse zeigte, sich mit ihnen das Kommando über die Expedition zu teilen.

Siralen legte ihre Feder zur Seite. „Euch ist hoffentlich bewusst, dass Ihr mit der Einschränkung Eurer Befehlsgewalt auf die Priesterschaft auch an Stimmgewalt im Stab einbüßen werdet“, wandte sie sich an Telos, anstatt Charas Frage zu beantworten.

„Ich bin ein Priester Agramons. Mein Platz ist bei den Gläubigen und deren Anführern. Meine Aufgabe innerhalb dieser Mission ist es, die Priesterschaften anzuführen und bei Bedarf im Kommando zu vertreten. Ansonsten werde ich meinen Hammer in Agramons Namen gegen all jene ins Feld führen, die uns in der Fremde zu Feinden werden. Mehr kann ich hier nicht tun.“

Chara malte eine Dornenranke in den Winkel ihres Pergamentbogens. „Man kann dem Mann jedenfalls nicht nachsagen, er wüsste nicht, wo seine Grenzen liegen.“ Sie verpasste ihrer Zeichnung den letzten Schliff und lehnte sich zurück. „Ich habe keine Einwände, auch wenn es mir anders lieber wäre.“

Lucretia stieß ein resigniertes Seufzen aus. „Ich hatte gehofft, du als Kriegspriester würdest das Kommando über die Landstreitkräfte übernehmen“, bemerkte sie und strich sich gedankenverloren über die Narbe, die sich über ihren Mund und ihre Wangen zog.

„Tut mir leid, Lucretia, aber dazu fühle ich mich nicht berufen.“ Telos zog die Kette mit Agramons Hammersymbol vom Tisch und befestigte sie an seinem Gürtel. „Mir ist bewusst, dass die Allianz uns ein hohes Maß an Verantwortung übertragen hat, und ich lasse euch nur ungern mit dem Großteil davon allein. Es ist naheliegend, dass vieles nicht so verlaufen wird, wie wir es uns erwarten. Wir werden Fehler machen … und wir werden daraus lernen. Aber egal, was passiert, ich werde Agramons Ruf folgen und dieser warnt mich davor, über meine Pflichten als Priester hinauszugehen.“

Siralen nickte. „Das müssen wir respektieren.“

„Womit geklärt wäre, dass der Großteil der Arbeit an uns hängenbleibt“, erwiderte Lucretia indigniert. „Wie dem auch sei, ich bin zuversichtlich, dass ich mit der Unterstützung meines persönlichen Beraters Magus Primus Major Ahrsa Kasai meine Aufgaben bewältigen werde.“ Sie geriet ins Schwärmen. „Ahrsa ist eine Ikone auf dem Gebiet der Magie. Selbst Magus Secundus Arik Seiks hätte ihm kaum das Wasser …“

„Du schweifst ab.“

Chara war aufgefallen, dass Lucretia seit der Allianzfeier einen neuen Eifer an den Tag legte und ihre vergangenen Erlebnisse in Isahara offenbar verdaut hatte. Doch die stille Kälte, die während des Kriegszuges zwischen ihnen aufgezogen war, sorgte dafür, dass sich weder sie, noch Lucretia besonders wohl in Gesellschaft der jeweils anderen fühlte.

„Vergebung, Chara. Mit Ahrsa Kasais Unterstützung bin ich auf jeden Fall zuversichtlich. Aber ich bin keinesfalls gewillt, das Kommando über die Landstreitkräfte zu übernehmen.“ Damit verschränkte sie die Arme unter ihrem Busen und warf Chara einen herausfordernden Blick zu. Nach Lucretias jüngsten Erfahrungen mit dem Militär war ihre Entscheidung recht nachvollziehbar.

 

Telos schenkte Chara ein verhaltenes Lächeln und verabschiedete sich mit einem „Agramon hämmere eure Feinde!“ Die Tür fiel ins Schloss und die Flammen auf dem Tisch züngelten Richtung Decke.

„Es ist augenscheinlich, dass Al’Jebal uns nicht umsonst mit dieser Aufgabe betraut hat“, bemerkte Siralen. „Wir fragen uns, warum er eine Angelegenheit der Seefahrt nicht den Seefahrern überlässt und ihnen das Kommando der Admiralität überträgt. Doch sind es unsere Erfahrungen, die er für diese Mission für geeignet hält, und er möchte, dass jene Erfahrungen es sind, auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden.“

„Ganz deiner Meinung“, erwiderte Chara und stellte zum dritten Mal die Frage, die man ihr noch immer nicht beantwortet hatte: „Wie viele Piraten kommen denn nun zur Anhörung?“

Siralen zog in aller Seelenruhe die Feder aus ihrem Tintenfass und notierte in gestochener Schrift:

Oberhohepriester Telos Malakin – Oberster der Priesterschaften

Magus Secundus Minor Lucretia L’Incarto – Kommandantin der Zauberkundigen, Heiler und Priester

Damit fanden die ersten beiden Posten des Expeditionskommandos ihre jeweilige Zuteilung.

„Ich schlage vor, die restliche Einteilung des Expeditionskommandos besprechen wir nach der Anhörung der kandidierenden Vizeadmiräle.“ Sie strich sich eine silberne Strähne zurück, die sich mutig aus ihrem strengen Zopf gestohlen hatte und sah dann endlich Chara an. „Es sind zwanzig.“

Chara leckte sich über die Lippen. Sie würde Siralen in Zukunft dazu bewegen müssen, weniger sorgfältig und dafür schneller zu arbeiten. „Ist Alwin Hjellgard darunter?“

Siralen zog eine Liste unter dem Stapel Pergamentblätter hervor und studierte sie eingehend. „Ja“, sagte sie nach einer Weile. „Wobei ich nicht begeistert von dieser Wahl wäre, zumindest nicht für den Posten des Admirals. Ich habe mich auf der Allianzfeier dazu hinreißen lassen, mit ihm zu tanzen. Die Erfahrung war keine besonders erhebende.“

„Was hat er denn gemacht?“, fragte Chara zwanglos.

„Seine Hände waren nicht dort, wo sie hingehören.“

„Hm. Als Kapitän ist er überzeugend. Er weiß, was man aus einem Güldenmaid-Segler herausholen kann und hat seine Mannschaft im Griff.“

Die Tür öffnete sich einen Spalt und eine der beiden Wachen steckte den Kopf herein. „Die ersten Admiralsanwärter sind aingetroffen“, gab er bekannt und Siralen wurde wieder geschäftig.

„Alwin Hjellgard“, kommentierte sie, nachdem ausgerechnet der vallandische Hüne die Bibliothek betreten hatte, von dem die Rede gewesen war.

„Jop“, lautete die knappe Antwort des Piratenkapitäns.

Siralen ließ den Kapitän nicht aus den Augen, als er an den Tisch trat, wo er in eindrucksvoller Männlichkeit vor ihnen aufragte. Sie gab Chara mit einem Nicken zu verstehen, sie möge die gemeinsam vorbereiteten Fragen stellen. Dabei entging ihr nicht, dass Lucretia ein Auge auf den Kapitän hatte. Die Magierin scheute nicht davor zurück, von Hjellgards bärtigem Antlitz zu seiner allerheiligsten Mitte abzugleiten, bevor sie sich auf Chara konzentrierte. Hjellgard löste mit seinem langen, sandfarbenen Haar und geflochtenen Bart bei den Menschenfrauen also Gefallen aus. Daran war im Grunde nichts auszusetzen. Alwin Hjellgard war ein stattlicher Mensch – groß, breit gebaut, von muskelstrotzender Manneskraft … Doch Siralen sah vor allem einen ungehobelten Kerl in ihm, dem Bullen weit ähnlicher als dem ohnehin schon etwas zu instinktgesteuerten Menschenmann. Hjellgard mochte ein guter Kapitän sein, vielleicht war er sogar einer der Intelligenteren seiner Art. Es mangelte ihm aber eindeutig an Kultur und Bildung, die seinen rohen Verstand in eine wohlgestaltete Form hätten bringen können.

Trocken und reichlich knapp stellte er sich Charas Fragen, beantwortete die eine oder andere erfreulich direkt, machte zugleich aber deutlich, dass er am Admiralsposten kein Interesse hatte. Alles, was ihn zu interessieren schien, war es, an der Mission teilzunehmen. Ob als Kapitän oder Vizeadmiral war ihm einerlei, was Chara aber nicht daran hinderte, ihrem Stimmrecht in aller Deutlichkeit Ausdruck zu verleihen, nachdem Hjellgard die Bibliothek verlassen hatte.

„Er wäre ein Kandidat für einen der Vizeadmiralsposten.“

„Wir haben noch keinen der anderen gehört“, wandte Lucretia ein. „Ich schlage vor, wir warten erst ab, bevor wir ein Urteil fällen.“

Chara fügte sich und der Nächste wurde hereingebeten. Es war ein Aschraner namens Yorba El’Muluk. Er war vierzig Jahre alt und machte einen ausgeglichenen Eindruck. Mit Verantwortung schien er umgehen zu können und er hatte auch keine Probleme damit, sich zu disziplinieren. Einziger Nachteil: Er strotzte nicht gerade vor Tatendrang. Er wirkte passiv, introvertiert, wenn auch aufrichtig.

Nachdem er gegangen war, stellten sich ihnen die unterschiedlichsten Landsmänner vor, darunter zwei Küstenstaatler, ein Valiani, weitere Aschraner, ein Tegoner …

Die Unterredungen waren anstrengend und zogen sich hin. Doch sie mussten noch in dieser Nacht zu einem Ergebnis kommen.

Einer der letzten Anwärter hatte gerade die Tür hinter sich geschlossen, da warf ihm Siralen schon die erste Frage entgegen.

„Name?“

„Roella Kalladan“, kam es etwas frostig zurück, und Siralen blickte von ihren Notizen auf. Tatsächlich, es handelte sich bereits um die vierte Frau. Noch dazu eine, die – verstohlen spähte Siralen zu Chara – eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Sandkorn hatte.

Die Kapitänin hatte wie Chara schwarze Haare, nur dass sie lang und glatt waren. Davon abgesehen trug sie, ganz wie Chara, fast ausschließlich schwarze Kleidung. Da war eine auffallende Härte in ihrem schönen Gesicht, aber auch ein Hauch von Stolz … ganz wie bei Chara. Und sie sah aus, als würde sie stets sehr genau wissen, wo sie stand und was sie wollte. Auf ihrem Kopf saß der Dreieckshut eines Kapitäns, den sie auffallend tief in die Stirn gezogen hatte, und, wenn Siralen es richtig erkannte, versteckte sie eine Peitsche unter ihrem Mantel – ganz so wie Chara. Sah man also von ihrer Piratenaufmachung und den weniger ausgeprägten Muskeln ab, war die Fremde das etwas femininere, einen Hauch zartere Pendant der Assassinin. Ob Chara das auch auffiel?

„Schiff?“, nahm Siralen die Protokollierung der Daten wieder auf.

„Meerkatze.“

„Bauweise?“

„Güldenmaid.“

Die Frage war eigentlich überflüssig, da ohnehin nur die Kapitäne eines Güldenmaid-Seglers für die Posten der Vizeadmiräle in Frage kamen, aber Protokoll war Protokoll.

„Kapitän seit?“

„Kapitänin seit 338 nGF.“

„Größter bisheriger Einsatz?“

„Ein Kampfeinsatz während des Anbarisch-Ahanitischen Krieges. Ich hatte damals das Kommando über dreizehn Schiffe.“

Damit kam Siralen zu ihrer letzten Frage: „Wie viele Vizeadmiräle sollten, Eurer Meinung nach, in einer Flotte von tausend Schiffen ins Amt gehoben werden, mit anderen Worten, in wie viele Teilflotten würdet Ihr die Armada gliedern?“

Roella Kalladans finstere Augen zuckten hinüber zu Chara. „Wenn von Frauen kommandiert, reichen zehn Vizeadmiräle. Bei Männern …“ Ihr Mundwinkel hob sich zu einem schiefen Grinsen, womit sie Chara tatsächlich Konkurrenz machte. „… ich würde sagen mindestens zwanzig.“

Siralen stoppte die Feder und fixierte Chara, die sich zurücklehnte und Roella Kalladan interessiert musterte.

„Nette Tätowierung“, bemerkte sie mit einem provokanten Grinsen.

„Ebenso“, kam es prompt zurück.

Erst jetzt fiel Siralen auf, dass es sich bei Roellas Zeichnung ebenfalls um eine Dornenranke handelte, die sich, einer Fessel gleich, um den Hals der Kapitänin schlang. Nur die beiden Rosen fehlten.

„Danke“, gab sich Chara höflich, kramte eine Pfeife hervor und schlug Eisen und Zunder aneinander.

„Die nächste Frage habt Ihr im Grunde schon beantwortet“, nahm sie vorweg und brachte das Kraut im Pfeifenkopf zum Glühen. „Ihr habt also keine Probleme damit, von Frauen Befehle entgegenzunehmen, aber auf jeden Fall damit, einem Mann zu gehorchen …“

„Frauen sind die besseren Kommandanten“, erwiderte Roella, ohne mit der Wimper zu zucken.

Charas Blick ruhte auf ihrem langhaarigen Ebenbild. Eine Weile schien sie keinen Gedanken daran zu verschwenden, die Befragung wieder aufzunehmen. Ein leises Räuspern seitens Lucretia durchbrach schließlich die Stille.

„Wie sieht es mit Euren Interessen aus? Habt Ihr, abgesehen von der Seefahrt, noch andere?“, fragte die Magierin.

Das Gesicht der Kapitänin blieb unbewegt. „Männer.“

Siralens Augenbraue wanderte eine Stirnzeile höher.

„… Wein und das Spiel“, vollendete Roella nach kurzem Nachdenken.

„Na, wenn das alles ist“, bemerkte Chara, noch bevor jemand Einspruch erheben konnte.

„Ihr seid Euch hoffentlich darüber im Klaren, dass diese Mission kein Spiel ist“, mahnte Siralen die Kapitänin ab.

Roella verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. „Ist mir klar. Ich spiele nur in meiner Freizeit.“

„Wie sieht’s mit Meutereien aus?“, setzte Chara paffend fort.

„Meine Jungs meutern nicht.“ Kurz schielte sie zu den beiden tätowierten Leibwachen hinter Charas Stuhl, dann lenkte sie ihr Augenmerk wieder auf die Assassinin. Siralen hatte den Eindruck, Roella verbarg irgendein zündendes Interesse hinter ihrem unnahbaren Auftritt. Die Kapitänin suchte eindeutig die Herausforderung und vermutlich war sie genau deshalb hier.

„Wie steht es mit Euch?“, fragte Chara.

Roella Kalladan wusste sofort, worauf sie hinauswollte. „Einmal … gegen Admiral Schroeder, der unsere Flotte in einer Schlacht gegen die Valiani befehligte. Er machte einen Fehler. Ich musste meutern.“

„Und Eure Schwächen?“

Wieder hob sich ihr Mundwinkel. „Ein hübsches Lächeln. Ich werde schwach bei einem hübschen Lächeln.“

„Ihr scheint hoch hinauszuwollen“, bemerkte Lucretia lauernd und zog ihren Fächer hervor.

„Wer nicht?“

„Wie hoch ist Eurer Meinung nach hoch genug?“

„Solange das Ende der Leiter nicht erreicht ist, gibt es auch ein Höher.“

Offenbar hatten Chara und Lucretia nichts weiter zu sagen, also entließ Siralen die Kapitänin mit den Worten: „Ihr könnt den nächsten reinschicken. Man wird Euch morgen das Ergebnis der Anhörung verkünden.“

„Lucretia hat vermutlich recht“, sagte Siralen, nachdem die Tür zugefallen war. „Roella Kalladan will zu hoch hinaus und könnte der einen oder anderen von uns gefährlich werden.“

Chara pfiff leise durch die Zähne. „Möglich“, gab sie zurück und in ihre schwarzen Augen trat ein seltsames Blitzen. War das ein gutes oder schlechtes Zeichen?

„Tauron Hagegard“, drang es unterdessen mutig, ja geradezu übermütig zum Tisch und alle Köpfe gingen nach oben. „Bin der Letzte, oder? Und der Beste, wenn ich es mal so sagen darf.“

Siralen blickte in ein charismatisches, von der Sonne braungebranntes Gesicht mit braunem, kurzem Vollbart und breitem Grinsen. Der Pirat, der die Bibliothek so dreist betreten hatte, sah so aus, wie er redete. In seiner Mimik fand sich eine Mischung aus Schalk, Frechheit und purer Selbstüberschätzung. Die Daumen lässig in seinen Gürtel gehakt, lächelte er in die Runde und wartete darauf, dass man ihm Fragen stellte. Siralen war sofort klar, dass dieser Mann in erster Linie darauf abzielte, Frauen aufs Kreuz zu legen – im wahrsten Sinne des Wortes. Nur würde ihm diese Neigung, die durchaus auch ein Talent sein mochte, hier keinen Schritt weiterhelfen.

„Ich kenne Euch“, bemerkte Chara, und Lucretia ließ ein leises Schnauben vernehmen.

„Oh ja, wir kennen ihn!“

„Klar kennst du mich, Schätzchen“, warf Tauron ein, wobei er Chara ansah. „Hab dich und deine Kollegen in Herkmar abgesetzt, wenn du dich erinnerst.“

Nok stieß in Charas Rücken ein leises Knurren aus, und Lucretia verdrehte die Augen „Genau deshalb wollte ich damals nicht mit ihm segeln. Du erinnerst dich, meine Liebe?“

„Erinnere mich“, sagte Chara lapidar und ohne den Kapitän aus den Augen zu lassen. „Nur damit das klar ist – du kannst mich nennen, wie du willst, aber unterm Strich bleibt das Ergebnis dasselbe: Ich bin nicht dein Schätzchen.“

Sein Grinsen wurde keinen Deut zahmer. „Hab gehört, du bist niemandes Schätzchen.“

„So kann man es auch sagen.“

Siralen, die sich bis jetzt zur Geduld ermahnt hatte, schickte Chara einen Blick akuter Dringlichkeit, und Chara kam auf ihre Fragen zurück.

 

Tauron Hagegard beantwortete jede davon unerwartet kooperativ und ohne unnötige Zwischenbemerkungen. Er war ein Anbari und von den Anbari war bekannt, dass sie im Besitz der weltweit besten Schiffe waren. Freibeuter stellten nur mehr einen kleinen Teil der Gesamtflotte der ehemaligen Piratenstadt Anbar, die vor allem für den Bau ihrer hervorragenden Kampfsegler bekannt war. Man bezeichnete sie als die schnellsten Schiffe der Meere, wobei ihre Bauweise und ihr Bauort streng geheim waren. Die Güldenmaid-Segler waren ein Nachbau dieser Schiffe, erreichten aber nicht die Qualität des Originals.

Während Tauron sich dem Verhör stellte, beobachtete Siralen ihn aufmerksam. In das warme Licht der Öllampen getaucht, wirkten seine kantigen Züge weicher, sanfter … Sein Mienenspiel erinnerte sie an einen Mann, der nicht über den Jungen in sich hinauswachsen konnte oder wollte. Das war wohl das einzig Schätzenswerte an ihm. Als er von seinen bisherigen Seefahrten erzählte, sich vom Tisch abdrückte und großspurig auf und ab zu gehen begann, stellte sie allerdings fest, dass ihr sein Gang gefiel. Tauron Hagegard bewegte sich mit der Selbstsicherheit und der inneren Ruhe eines erfahrenen Mannes, doch gleichermaßen leger, schlendernd … eben wie ein Frauenheld, der sich nur zu gut darüber im Klaren war, welche Wirkung er auf das andere Geschlecht hatte. Nur eben nicht auf jemanden wie sie, jemanden, der gelernt hatte, dass die Liebe einen in geistige Umnachtung stoßen konnte und obendrein keinerlei Interesse an einem Mann des Menschengeschlechts hatte. Viel eher würde einer wie er zu einer wie Chara passen. Es war allerdings im Bereich des Vorstellbaren, dass Chara noch unempfänglicher für die Liebe war als sie.

„Der Große Abgrund?“, antwortete Tauron gerade auf Charas Frage, ob er denn auch dem Befehl Folge leisten würde, die bekannten Grenzen Amaleas zu überwinden. „Falls du denkst, ich würde einen Rückzieher machen, wenn’s mal gefährlich wird, vergiss es, Schätzchen. Ich werde mir aber genau überlegen, welchen Gefahren ich meine Flotte aussetzen kann und welchen nicht.“

Gute Antwort. Das musste selbst Siralen zugeben. Sie hatte vielmehr erwartet, er würde demonstrativ die Hand auf den Tisch knallen und eine Ode an seine Tapferkeit zum Besten geben.

„Womit hast du so deine Probleme?“, fragte Chara und zischte Nok zu: „Entspann dich, ja?“ Tauron hatte sich Charas Stuhl genähert, was ihre Leibwachen sichtlich nervös machte.

„Mit Grünschnäbeln. Besonders, wenn sie denken, sie könnten mir sagen, wo’s langgeht.“ Er fuhr sich durch sein braunes Haar und warf Siralen einen knappen Blick zu, den sie nicht einordnen konnte.

„Irgendwelche Schwächen?“

Siralen rechnete mit einem klaren Nein, doch erneut musste sie sich eines Besseren belehren lassen.

„Schwächen … na ja, ich will ziemlich viel. Mich reizt der Gedanke daran, eine ganze Flotte zu befehligen, wenn ihr wisst, was ich meine … und ich steh auf Frauen.“ Das ungenierte Grinsen kehrte in sein Gesicht zurück und bekam eine sichtbar schlüpfrige Note. Siralen schüttelte sachte den Kopf und notierte die Aussage Wort für Wort in ihrem Protokoll. „Dann solltet Ihr Euch mit Roella Kalladan zusammentun“, murmelte sie.

„Hab ich“, kam es prompt von Tauron. „War gut. Aber die Frau ist gefährlich.“

„Stärken?“, setzte Chara unbetroffen fort.

„Ich entscheide schnell, wenn’s drauf ankommt, und meine Entscheidungen sind in der Regel richtig. Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Ich hatte da mal einen ziemlich handfesten Streit mit Schroeder … also, Admiral Herkul Polonius Schroeder. Davon abgesehen halte ich ihn für ein verdammtes Genie.“ Er zwinkerte Siralen zu. „Nur für’s Protokoll.“

Mit einem entspannten Zug am Pfeifenholm lehnte sich Chara zurück und erklärte: „Das war’s erst mal, jedenfalls von meiner Seite.“

Tauron drehte am Griff seines Säbels, als wäre das irgendein besonderes Ritual. „Ah, was ich noch sagen wollte … deine Rede auf der Allianzfeier, die war schon … ganz gut … irgendwie. Ist aber nicht bei jedem gut angekommen. Die meisten von uns stehen auf Titel und so. Ruhm und Ehre … na, du weißt schon. Hat nicht allen gefallen, dass du nichts von solchen Auszeichnungen hältst.“

Damit präsentierte er ihnen ein letztes breites Lächeln, verabschiedete sich mit einem „War mir ein Vergnügen“, drehte sich um und stiefelte aus der Bibliothek.

Chara lehnte sich zurück und streifte sich die Hosenbeine glatt. „Auf die Gefahr hin, dass ich mit dieser Meinung allein da stehe, ich halte Hagegard, mal abgesehen von seiner Aufschneiderei, für einen interessanten Kandidaten. Er sagt geradeheraus, was er denkt, fackelt nicht lange rum und wird dementsprechend schnell entscheiden, was, wie, wann getan werden muss. Außerdem lässt sich entspannt mit ihm reden.“

„Das mag ja alles richtig sein, aber ich werde mich ganz bestimmt nicht mit diesem Rüpel auseinandersetzen“, gab Lucretia bekannt und es schien ihr damit bitterernst zu sein.

Siralen legte ihre Feder weg. „Leider muss ich mich Lucretia anschließen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Tauron Hagegard weiß, was er tut und womöglich sogar als Admiral überzeugt, aber ich halte es für ausgeschlossen, dass ich mit ihm auch nur ein annähernd hinreichendes Auskommen finde. Was aber kein Grund sein muss, ihn nicht zum Admiral zu wählen.“

„Sondern?“

„Es hängt ganz davon ab, wem von uns die Admiralität unterstellt ist. Schlussendlich muss einer von uns das Flottenoberkommando übernehmen und der, der das Kommando über die Flotte hat, ist jener, der den Admiral im Griff haben muss.“

Ein langer Blick folgte, dessen Botschaft Chara irgendwie nicht erreichen wollte.

„Wenn du Flottenoberkommandantin wirst, Chara, kann Tauron Hagegard Admiral werden. So weit verständlich?“

Charas Augen weiteten sich in plötzlicher Einsicht. „Das ist doch nicht dein Ernst, oder?“, gab sie zurück. „Ich bin nicht einmal in meinen Zehenspitzen das, was man unter einem Seefahrer versteht.“

„Wie auch sonst keiner an diesem Tisch“, sagte Siralen. „Aber wenn wir das Expeditionskommando nicht sinnlos ausbauen wollen, wird einer von uns diese Aufgabe übernehmen müssen.“

Eine Weile war es still in der Bibliothek.

„Also gut“, sagte Chara schließlich. „Ich übernehme das Kommando über die Flotte.“ Sie schlug ihr kleines schwarzes Buch zu und schob sich die Pfeife in den Mundwinkel. „Dann fällt das Kommando über die Landstreitkräfte in deine Verantwortung, Siralen.“

Siralen nickte, und Chara schien zufrieden zu sein. „Ich muss mich jetzt darum kümmern, eine genaue Flottenformation zu erarbeiten.“

„Vergiss nicht, dich diesbezüglich mit dem neuen Admiral abzusprechen“, lächelte Siralen, während sie die Feder wieder auf das Pergament senkte und in gestochener Schrift vermerkte:

Chara Pasiphae-Opoulos – Flottenoberkommandantin, Kommandantin der Internen Sicherheit

„Ich schlage vor, wir ordnen die Gelehrten der Flotte zu. Damit fallen auch sie in deinen Zuständigkeitsbereich, Chara.“

„Von mir aus.“

… Sprecherin der Gelehrten, vollendete Siralen die Zeile und setzte eine Zeile weiter unten neu an:

Siralen Befendiku Issirimen Desin Suren Illju Kogena Senambra – Sprecherin der Elfen, Kommandantin der Landstreitkräfte.

Dann rollte sie ihre Dokumente zusammen und sah auf.

„Die Vizeadmiräle …“, kam sie zum letzten Punkt. „Stimmen wir ab.“

Es dauerte eine Weile, doch schließlich wurden sich Chara, Siralen und Lucretia einig. Unter den Auserwählten befanden sich auch Alwin Hjellgard und Roella Kalladan, für die sich vorallem Chara stark gemacht hatte – für letztere sogar ganz vehement.