Gegenwindschiff

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Hm.

Wir stießen tiefer hinein in diesen siebentausendinseligen Archipel.

Von Manila nach Cebu ist es eine Wegstrecke von achthundert Kilometern. Oder eigentlich Wasserstrecke. 0,000000000085 Lichtjahre. Sobald wir die Bucht von Manila verlassen, uns nach Osten gewandt und die Meerenge zwischen Luzon und Mindoro erreicht hatten, befanden wir uns auf jenem grenzenlosen Binnenmeer zwischen den Inseln, über das unsere achthundert Kilometer lange Fahrt führte. Unser kleines Schiff, ein einst weiß getünchtes, mittlerweile aber ziemlich rostfarbenes Gefährt, mit rund hundert Reisenden an Bord, in der ersten Klasse ein Dutzend Europäer und ein paar philippinische Plantagenbesitzer, unter Deck eine undefinierbare Auswahl der übrigen neunzig Völkerschaften, tuckerte mit uns bei einer Geschwindigkeit von zehn Knoten überaus friedlich auf dem Kurs OSO. Die blaue See funkelte, und der klare Himmel versprach bestes Wetter für die Beobachtung der Sonnenfinsternis. Inseln entfernten sich und kamen näher, Meerengen verschmälerten und weiteten sich, stellenweise so, dass sich die bergigen Küsten beinahe bis zum Horizont zurückzogen. Das Binnenmeer war seinerseits durch Archipele in weitere Meere untergliedert: im Nordwesten, am größten, die Sibuyan-See, im Zentrum die Visayas-See und im Südwesten die Camotes-See, die schon die Meerenge zwischen Cebu und Leyte bildete.

Mich erinnerte die Landschaft, soweit man sie sehen konnte, von allem, was ich gesehen hatte (und das ist weiß Gott nicht sonderlich viel), am ehesten an die Schärenwelt und Fjorde der norwegischen Küste, die ich vor zwei Jahren besucht hatte. Aber doch nur oberflächlich und aus angemessener Entfernung. Von weiter weg drängten sich die großen und verhältnismäßig jungen Vulkangipfel der Binneninseln zu prominent in den Vordergrund, von näher war der tropische Charakter des Bewuchses erkennbar: Palmenhaine, Regenwälder, Mangrovenufer.

Die kegelförmigen Berge der ehemaligen und teilweise noch aktiven Vulkane verleihen diesen Inseln einen eigenen Charakter. Für einen Flachländer wie mich war das ein schöner, aber befremdlicher Charakter, und für einen Mann, der aus einer ziemlich unseismischen Gegend kommt, sogar – und sei es nur im Unterbewusstsein – ein wenig gefährlich. Die Erde soll auf diesen Inseln viele hundert Male im Jahr beben. Im Übrigen hatten wir detaillierte Landkarten bei uns, und auf Karten sind so manche Dinge viel übersichtlicher als in der Natur. Baade und ich falteten oben auf dem Sonnendeck der ersten Klasse unsere Philippinenkarte im Maßstab eins zu anderthalb Millionen auf und verfolgten unsere Reise stückweise von Insel zu Insel. Ich glaube, die ganze Sibuyan-See ist ein ehemaliger hundertzwanzig Kilometer breiter Krater mit einem zweitausend Meter hohen sekundären Kraterkegel in der Mitte, der Insel Sibuyan.

Am ersten April machten wir am Kai der gleichnamigen Hauptstadt der Insel Cebu fest.

Professor Schorr hatte auch hier in unserer Angelegenheit umsichtige Briefe vorausgeschickt. Wiederum empfing uns jemand direkt am Hafen, der stellvertretende Direktor irgendeiner Hamburger Firma (Meyer und Behn oder dergleichen – keine Ahnung, was das für eine Firma ist), ein gewisser Herr Moll. Dieser Moll, ein Herr mit leicht ergrauten Haaren, der ansonsten aber das Äußere von Harry Piel hatte, verfügte über große Erfahrungen hierzulande und war eine beinahe aufdringlich sorgsame Person. Als Erstes brachte er uns zu einem Hotel. Nun, ein Luxushotel im europäischen Sinne war es sicher nicht. Vielleicht gab es so etwas in ganz Cebu nicht, oder aber Meyer und Behn war über unsere finanziellen Möglichkeiten entsprechend korrekt informiert. Denn als Vorstadtabsteige konnte man unser Hotel auch wieder nicht abqualifizieren. Es befand sich in relativer Nähe zum Hafen und erwies sich als ein großes zweigeschossiges bungalowartiges Holzhaus, das in einem Garten mit Palmen und allen möglichen anderen Bäumen stand.

Wir nahmen in dem halbleeren Hotelrestaurant zu dritt unser Abendessen ein und besprachen ungeachtet unserer Müdigkeit die Arbeiten für den nächsten Tag. Herr Moll versprach, sich um ein Auto zu kümmern und damit um zehn (ich wollte um acht Uhr, aber Baade wünschte sich zehn Uhr) vor dem Haus zu warten. Wir wollten über die Uferstraße Richtung Norden fahren und den Observierungsort auswählen. Tatsächlich hatten die Herren aus Manila bereits die beiden günstigsten Punkte der Totalitätszone ausgewählt, zwei Dörfer oder, wie man’s nimmt, Flecken fünfzig Kilometer nördlich von Cebu, und uns blieb die Entscheidung vorbehalten, welcher von beiden uns besser passte: Catmon oder Sogod. Catmon oder Sogod – zunächst wussten wir von ihnen nichts außer den soeben gehörten Namen. Auf Basis des Namens hätte ich Ersteres vorgezogen – wenn es zulässig ist, auf solch alberner Grundlage eine Auswahl zu treffen. Denn Catmon klang meiner Meinung nach würzig, und später fiel mir ein, dass ich das möglicherweise wegen der klanglichen Nähe zu Kardamom, das auf Naissaar Kardemon genannt wurde, dachte. Während sich dagegen hinter dem Namen von Sogod etwas Soßiges und Sumpfiges zu verbergen schien. Blödsinn natürlich, wie er aber hin und wieder auch durch die hellsten Köpfe schießt.

Nach der morgendlichen Landungshektik und dem Auf- und Abladen am Tag, an dem es konstant dreiunddreißig oder vierunddreißig Grad waren, und nach der Tamburinmusik während des Abendessens und unserem müden, aber hastigen Gespräch spürte ich, dass ich mühsam einschlafen und eine unruhige Nacht haben würde. Bevor wir uns von der Tafel erhoben, nahm ich, wie Onkel Frans sagte, als Schlafmütze noch einen ordentlichen Schluck »Johnnie Walker«, von dem uns Herr Moll eine Flasche bestellt hatte, aber ich wusste, dass das nicht viel helfen würde.

Mein Zimmer war eine niedrige Schachtel mit weiß getünchten Wänden. Zwei quadratische Fenster mit einer Jalousie aus Bambusstäben als Sonnenschutz, ein paar Korbstühle, ein Schreibtisch aus rotem Holz, der recht abgenutzt aussah, obwohl er kaum für etwas anderes als zum Berechnen der Ergebnisse beim Whistspiel oder der Erlöse aus dem Kopraverkauf oder zur Addition von Reiswein- und Nuttenpreisen benutzt worden sein wird. Wenn nämlich, wie Herr Moll erzählte, die Koprabarone oder Plantagenaufseher in die Stadt fahren, um Erledigungen zu machen und zu feiern. Nun ja. Die Barone stiegen höchstwahrscheinlich in nobleren Hotels ab, aber die Aufseher eben in so einem. Schließlich gab es in meinem Zimmer noch ein Bett für anderthalb Personen mit einem niedrigen, geschnitzten Kopfende und ganz ohne Füße.

Ich zog mir das Jackett mit den durchgeschwitzten Achselhöhlen aus, und mir fiel mit lächerlicher Verspätung ein (wie das bei solchen Dingen häufig der Fall ist), dass ich es lieber heute Morgen gar nicht angezogen hätte, dann hätte ich den lieben langen Tag halb so viel geschwitzt, aber ich bin einfach nicht darauf gekommen.

Ich zog mich splitternackt aus. Ich riss mir sogar jene schwarze Trikotsocke (ich kann schlecht Handschuh sagen, nicht wahr?) herunter, die ich auf meinem rechten Armstumpf trage, damit er nicht so ins Auge sticht. (Johanna, erinnerst du dich noch, wie wir diese Socke unter uns nannten? Sicherlich tust du das: Er war in unserer Intimsprache mein Präservativ. Du wolltest nicht glauben, dass sie nur zwischen uns diesen Namen hatte. Du machtest ein Gesicht, als wäre es dir nicht wichtig, aber in Wirklichkeit war es dir wichtig. Und glauben können hättest du es auch, denn es entsprach der Wahrheit.)

Ich erfrischte mich in der Duschecke, die hinter einer Bretterwand verborgen war und einen Betonfußboden hatte, mit einem lauen Tropfen Wasser, den der kümmerliche Sprinkler hergab, und klappte die Jalousie vorm Fenster über dem Fußende des Bettes hoch, in der Hoffnung, etwas frische Luft hereinzulassen. Aber die schwarze Hitze draußen war keinen Deut besser als die im Zimmer. Also ließ ich die Jalousie wieder herunter und warf mich aufs Bett.

Ich bin kein sonderlich großer Mann, nur 179 Zentimeter, das weißt du, aber das Bett war überraschend kurz für mich. Um mir die Schädeldecke nicht am Kopfende aufzureiben – mein Scheitelpunkt war ohnehin recht schütter –, stützte ich die Fußsohlen an die Wand unterm Fenster. Der Verputz fühlte sich an den Fußsohlen überraschenderweise angenehm kühl an, und ich wartete auf dem Rücken liegend auf den Schlaf, obwohl ich wusste, dass ich nicht einschlafen würde. Obwohl ich aus Erfahrung ahnte, was kommen würde.

Ich habe das jahrelang, fünfunddreißig Jahre lang, über hundertmal, womöglich zweihundertmal durchgemacht. Insofern ist es gar nicht mehr beängstigend. Das im Voraus spürbare Fallen, dann ein plötzliches Erstarren in halbwachem Zustand, aus Anspannung und Erregung, um anschließend im Halbschlaf, im Viertelschlaf alles noch einmal zu durchleben. Das ist infolge der Wiederholung und weil man weiß, was kommt, ziemlich abstrakt. Wie wenn man eine verblichene, grau gewordene Fotografie mit dem abgebildeten Ereignis selbst vergleicht – aber man muss es sich einfach anschauen. Ein Bild, auf dem zusätzlich zu allem längst Bekannten jedes Mal etwas Neues auftaucht. Gewöhnlich etwas Nebensächliches, Absurdes, Unwahrscheinliches, etwas, was es nie gegeben hat und wovon ich nicht erfassen kann, woher es plötzlich kommt.

Und dann liege ich wieder am Waldrand unter den Wacholderbüschen im Blaubeergestrüpp bäuchlings auf der Erde. In meinem schon grau gewordenen Viertelschlaf gibt es wundersam lebendige, seltsam farbenfrohe Flecke. Ich habe das Gefühl, dass ich mich separat an jedes feuchte grüne Blaubeerblatt und die dunkelrosa Wacholderblüte vor meinem Gesicht erinnere, und dass ich in meinem Nacken den heißen Atem des Klaamann-Jungen spüre, als wir durch die Blüten hindurch den großen rötlichen Findling in der Schneise in einer Entfernung von zwanzig Klaftern beobachten. Die Schneise kommt direkt aus der Mitte der Insel, durchschneidet den Südrand des Mastkiefernwaldes und endet auf der offenen Fläche am Meer westlich des Dorfes. Der Felsbrocken ruht auf der Schneise zwischen zwei Waldmauern. Ich habe ihn speziell ausgewählt, weil seine dem Land zugewandte Seite beinahe völlig glatt ist, so glatt, wie eine derartige Steinoberfläche in der Natur überhaupt sein kann, wenn es sich nicht gerade um einen Kristall handelt. Und weil er in einem Winkel von beinahe exakt fünfundvierzig Grad aus den ausgeblühten Weidenröschenbüschen Richtung Meer ansteigt. Ein Steigungswinkel von fünfundvierzig Grad, soviel weiß ich aus der Ballistik, lässt einen Flugkörper am weitesten fliegen.

 

Wir starren durch das Blaubeergestrüpp unentwegt auf das zehn Zoll lange und einen Zoll dicke schwarze Eisenrohr, das auf der glatten Schrägseite des Findlings in Schneisenrichtung aufs Meer hin ausgerichtet ist. Die Spitze des Rohres habe ich in der Scheune mit dem Lötkolben von Onkel Frans (ich wünsche so sehr, dass mein Experiment gelingt, dass ich Stiefvater Frans sage, beinahe Vater Frans …) zugelötet und zur Verringerung des Luftwiderstandes mit einer konischen Blechhaube versehen. Das Innere des Rohres ist gefüllt mit einer sorgfältig dosierten Mischung aus Schießpulver und Schießbaumwolle. In Fingerhutportionen habe ich mir das Material von den Männern aus dem Dorf zusammengeschnorrt – das Schießpulver aus ihrem Vorrat für die Seehundsbüchsen und die Schießbaumwolle aus ihrem Felssprengstoffvorrat. Die Explosionsgeschwindigkeit von Schießpulver beträgt vierhundert, die von Schießbaumwolle siebentausend Meter pro Sekunde, das weiß ich. Ich weiß ebenfalls, dass das Rohr bei der Explosion birst, wenn die Mischung zu viel Schießbaumwolle enthält. Wenn zu viel Schießpulver in der Mischung ist, fliegt das Rohr nicht weiter als bei den letzten Malen – vierzig, fünfzig, achtzig Klafter. Aber wenn die Mischung richtig ist – und sie muss richtig sein –, wird es diesmal mindestens bis zu den Wallbergen fliegen und vielleicht über sie hinaus bis zum Strandschotter. In dem Fall weiß ich noch nicht recht, ob ich mein Rohr, meine Rakete, dann zu einer neuartigen und perfekteren Leuchtrakete für Schiffbrüchige weiterentwickele oder zu einer nie dagewesenen Waffe gegen feindliche Schiffe, die es wagen, sich Naissaar zu nähern. Wahrscheinlich sowohl als auch, obwohl Gott, falls er existiert …

Aber warum knallt es denn noch nicht? Warum knallt es noch nicht?! Wir ersticken hier noch, der Klaamann-Junge und ich, wenn wir ununterbrochen den Atem anhalten und warten! Oh nein, offenbar ist die Zündschnur ausgegangen! Obwohl es eine schöne Netzschnur aus Hanf war, sorgfältig in Lampenpetroleum getränkt. Aber nach dem morgendlichen Nieselregen sind Sand, Moos und Gras feucht. Offensichtlich ist die Schnur erloschen. Das muss ich kontrollieren. Logisch, dass ich es tue. Schließlich ist es mein Experiment. Den Klaamann-Jungen habe ich nur so mitgenommen. Wenngleich er fünf Jahre älter als ich und folglich schon zwanzig Jahre alt ist. Von Mechanik und Chemie hat er keine Ahnung. Wohingegen ich, wie man sich im Dorf erzählt … Obwohl mein ewiges ich-ich-ich für Gott, wenn es ihn denn gibt, vielleicht … Da hilft nichts. Ich muss aufstehen und nachschauen. Was für eine Gefahr ist dabei? Praktisch überhaupt keine. Wenn die Mischung stimmt. Und wenn man sich dem Rohr zumindest auf dem letzten Abschnitt von der Seite her nähert. Sodass der Gasstrahl, falls die Explosion doch stattfindet, am Ankömmling vorbeifliegt. Bloß kann ich, wenn ich von der Seite komme, die Zündschnur nicht mit den Fingern kontrollieren.

Ich springe auf. Ich laufe zwanzig Meter auf das Rohr zu und schmeiße mich wieder hin. Meine Bewegungen sind vor Aufregung flink und hastig. Aber Angst habe ich nicht. Ich sehe, wie die Zündschnur sich rechts von meiner rechten Hand über das Moos zum Stein schlängelt. Ich ergreife sie mit den Fingern. Sie zerbröselt in meinen Fingern zu schwarzer Asche. Das bedeutet, dass sie näher beim Rohr ausgegangen sein muss. Ich springe erneut auf. Auf einem Erinnerungsniveau sind meine Bewegungen leicht und schnell. Auf einem anderen sind sie voll bleierner Erstarrung. Auf dem anderen bewege ich mich mit ungeheurer Anstrengung auf das Rohr zu, kriechend, so wie man in einem Traum vor einem herannahenden Zug wegkriecht. Oder dem Zug entgegen. Nur damit das geschehen kann, was geschehen muss.

Dann bin ich auf allen vieren beim Findling, im Schatten des Findlings. Ich strecke meinen Arm aus – ich erinnere mich, den linken Arm – und greife nach der Zündschnur, die hinter den braunen Weidenröschenstängeln an der Seite des Steins vor meinem Gesicht nach oben läuft. Die Schnur zerbröselt. Seltsam, denke ich, bis zum Rohr ist doch nur noch ein Meter Schnur. Sie muss also bis zum Ende aufgebrannt und dann erloschen sein. Eine andere Möglichkeit gibt es praktisch nicht. Die zweite Möglichkeit – dass das Feuer auf diesem Meter in diesem Moment noch brannte – ist zu unwahrscheinlich. Das wäre eins zu hundert, eins zu tausend. Auf alle Fälle warte ich noch zwanzig Sekunden. Das ist die Brandgeschwindigkeit von einem Meter Zündschnur. Jetzt beträgt die Wahrscheinlichkeit einer Explosion eins zu zehntausend. (Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie exakt ich das schon bei jenem ersten Mal berechnet hatte und wie viel die späteren Male dazu beigetragen haben. Aber bestimmt dachte ich: Vorsicht – gewiss, aber wenn sie in Ängstlichkeit ausartet, was für ein Erfinder und Erneuerer der Technik soll dann aus dir werden?!) Ich stehe auf. Ich muss den Gefahrenmoment, den winzigen Gefahrenmoment passiert haben. Vor Klaamann, vor mir selbst, vor der Welt. Es gibt keinen Ausweg. Ich nehme das Rohr in die rechte Hand. Interessant, die Zündschnur zerbröselt. Dann hat sie also bis zum Rohr gebrannt? Und ist dann ausgegangen? Unglaublich! Das muss ich mir sofort anschauen …

Ich höre den Knall nicht. Ich verspüre keinen Schlag und keinen Schmerz. Nur eine schreckliche Blendung. Danach Dunkelheit. Tatsächlich befindet sich das alles auf der anderen Seite einer hundertfachen Bleimauer aus Schlaf. Bis auf eines: der Moment der Gewissheit, von dem sich mein Herz bis heute zusammenzieht und dessen Schmerzstich vom Herz bis in die Eingeweide reicht. Die Gewissheit, die ich sofort, einen Augenblick später erlange, als ich zu Bewusstsein komme und das kreidebleiche Gesicht des Klaamann-Jungen über mir sehe. Ich sehe ihn deutlich, denn mein linkes Auge ist völlig in Ordnung, nur das rechte ist zunächst voller Blut, aber das begreife ich nicht. Ich sehe deutlich die vor Aufregung abstehenden blonden Haare des Klaamann-Jungen und seinen zitternden Unterkiefer. Dann, ich erinnere mich, strecke ich meinen Arm aus, ich kann nicht sagen, ob ich es tue, weil ich ihm auf die Schulter klopfen und ›Macht nichts, Juhan, das geht vorüber‹ sagen will, oder weil ich ›Verzeih, meine Schuld‹ sagen will. Irgendwas in der Art will ich sagen. Dann sehe ich, dass meine rechte Hand nur noch an ein paar blutigen Sehnen und Hautfetzen am Handgelenk hängt. Dem Stumpf, der aus dem kaputten und blutigen Jackenärmel baumelt, fehlen der Daumen und die ersten beiden Finger. Ich weigere mich, das zu begreifen. Und kapiere doch, dass ich meine Hand verloren habe. Unwiederbringlich. Solange ich lebe. Durch diese Gewissheit durchzuckt mich ein Schmerz vom Herz bis in die Eingeweide. Zuckt immer noch. Bis heute. Jedes Mal, wenn ich daran denken muss. Egal auf welchem Erinnerungsniveau. Insbesondere, wenn die beiden einander überschneiden, meine leichte und schnelle Wacherinnerung und jene andere, unbestimmte Erinnerung, die bleischwer vom Schlaf und heftig ist. Immer noch. Mit einem Schmerzstich. Sodass ich davon aufwache. Dieses Mal in der stickigen Luft dieses dunklen Hotelzimmers.

Für einen Moment kam es mir wie eine Befreiung von der schicksalhaften Betonwalze der Erinnerung vor. Aber der Mensch ist ein undankbares Tier: Eine Minute später war sogar diese schwüle Dunkelheit drückend. Sodass ich mit meiner Hand den Nachttisch abtastete und das Licht anmachte.

Johanna, du erinnerst dich, manchmal habe ich mir Dinge ausgedacht. Dinge, die gar nicht geschehen sind. Oder genauer gesagt, die zwar geschehen sind, aber nur teilweise und ein wenig anders. Ich glaube, alle machen das, also auch ich. Ich flunkerte, um mich für dich interessant zu machen. Übrigens hast du dafür eine großartige Erklärung gefunden. Sie war nicht nur taktvoll, sondern vielleicht ganz einfach die richtige. Ein Beispiel? Nun, ich habe dir erzählt, ziemlich am Anfang unserer Bekanntschaft, dass ich vor Mittweida in Göteborg studiert habe, am Chalmers-Institut. In gewisser Hinsicht stimmte das. Später kam ans Licht, dass ich dort nicht drei Semester gewesen war, wie du gedacht hattest – wie ich dich hatte denken lassen –, sondern drei Wochen. Aber du sagtest daraufhin mit einem wunderbaren Lächeln, das ich niemals vergessen werde: ›Ach, Benn, bei dieser grausamen Genauigkeit, die du dir bei deiner Arbeit abverlangst, ist es doch natürlich, dass du anderswo ein bisschen freier sein musst.‹ Aber im Moment fantasiere ich nicht. Ich habe zwar gerade eben in der Holtenklinke meinen dritten Korn genommen, um mich endlich wieder frei zu fühlen, nachdem ich drei Wochen lang mehr oder weniger Tag und Nacht gearbeitet habe. Aber in dieser Sache, die mir damals in dem Hotel in Cebu widerfuhr, fantasiere ich kein bisschen. Wozu auch? Wenn du dich zu mir in einer in Lichtjahren ausdrückbaren Entfernung befindest! Es war wahrhaftig genau so.

Ich hatte die Lampe auf dem Nachttisch so gedreht, dass mir das Licht nicht ins Gesicht schien. Es fiel auf das Fenster über meinen Füßen und auf die Wand um das Fenster. Und auf meine bloßen Füße, die sich immer noch am Verputz der Wand abstützten, die Zehen zu beiden Seiten gespreizt. Da sah ich, wie sich auf der Mitte der Fensterbank, in Höhe der ersten Lamelle der Bambusjalousie, direkt auf der Längsachse meines Körpers, etwa zwanzig Zentimeter über meinen Zehen, etwas bewegte. Etwas Schwarzes, das aus diesem merkwürdigen Blickwinkel heraus schwer zu identifizieren war. Bis ich plötzlich begriff: Es war ein Skorpion.

Ich muss zugeben, ich gehöre zu den Menschen, die gegenüber Spinnen und Spinnenartigen einen instinktiven Ekel verspüren. Ich weiß nicht, was für ein Atavismus das ist. Ich habe mir wiederholt Gedanken darüber gemacht, aber keine Zeit gehabt, Literatur darüber zu suchen. Die wird es kaum geben. Ein bisschen habe ich mich dieses Ekels geschämt. Weil er mir weiblich vorkam, da ich ihn hauptsächlich bei Frauen festgestellt habe. Junge Mädchen kreischen vor Schreck, wenn ihnen eine Kreuzspinne über die Hand läuft. Ich kann meinen Ekel natürlich jedes Mal überwinden. Aber er ist unverhüllt vorhanden. Wenn ich plötzlich auf meinem Handrücken beispielsweise nur eine Wespe spazieren sehe, lasse ich sie das ungestört tun, begreife ihren Mut und ihren Vertrauensbeweis und versuche (obwohl das etwas lächerlich klingt), ihr meinerseits mein Vertrauen einzuflößen. Dann genieße ich die imaginäre Beiderseitigkeit des Vertrauens. Aber wenn es eine Spinne oder nur ein Weberknecht ist, muss ich mich für eine Sekunde zusammenreißen, um nicht zusammenzuzucken, es kostet mich eine gewissen Anstrengung, mich zu sachlicher Langsamkeit zu zwingen, bevor ich das Tier von meiner Hand blase. Meine Abscheu verhält sich übrigens proportional im Quadrat zur Größe des Tieres. Der Skorpion auf der Fensterbank war, in der Schrägansicht, wie ich ihn sah, gut und gerne zwölf oder dreizehn Zentimeter lang. Ein derartiges Tier wirkt, als halbes Insekt, das es ist, allein aufgrund seiner Größe pervers. Ich schaute ihn mir eine Sekunde lang sehr genau an. Er hatte seine Vorderhälfte, sozusagen sein Gesicht, mir zugewandt, wenngleich ich auf der schwarzen Fläche dieses Gesichtes aus dieser Entfernung keine Augen ausmachen konnte. Sein Körper war zum größten Teil von seinem linken Vorderbein oder seiner Vorderklaue oder Kralle verdeckt. Überhaupt machte er den Eindruck eines kleinen Schiffsmodells aus Bronze, wie ich es Gott weiß wo einmal gesehen habe. Wie ein zerbrochenes Kriegsschiff aus Odysseus’ Zeiten. Vier oder fünf Paar Beine als Ruder und der hohe, nach vorne gebogene Schwanz wie ein antikes Heck. Dann machte das Schiff mit einer unbegreiflichen Ruderbewegung einen merkwürdigen drei Zentimeter weiten Sprung und hielt am Rande der Fensterbank an. Ich bin kein Fachmann, aber ich war mir ziemlich sicher, dass der Stich eines solchen Schwanzes einen Menschen zwar nicht unbedingt zu töten bräuchte, es aber tun könnte.

Nun, ich überwand meine Schockstarre und traf meine Wahl zwischen möglichst schnellen und möglichst langsamen Bewegungen. Zugunsten der möglichst langsamen. Ich hatte keine Ahnung, wie viel das Tier in einer Entfernung von anderthalb bis zwei Metern sieht und wie es reagiert. Ich weiß ja nichts von der Psyche eines solchen Wesens. Wir kennen den Skorpion weniger als sein Sternbild. Jedenfalls bewegte ich meine Hand ganz langsam zum Nachttisch und nahm, ohne meinen Kopf zu wenden, das aufgeklappte Taschenmesser vom Nachttisch, mit dem ich mir vor einer halben Stunde die Zehennägel geschnitten hatte. Es war ein sehr scharfes Messer mit einem steifen Scharnier. Ein Federmesser, wie man früher sagte. Angefertigt von meinem Urgroßvater Jakob auf Naissaar in seiner eigenen kleinen Werkstatt, und geschenkt hatte es mir mein Vater zu meinem zehnten Geburtstag, kurz vor seinem Tod. Wenn sich einer mit diesem Messer gegen das Tier verteidigen konnte, dann war ich das. Ich weiß nicht, wie gefährlich das Tier für mich war, aber für das Tier war ich in der gegebenen Situation auf jeden Fall der gefährlichste Gegner unter Zehntausenden, womöglich unter Hunderttausenden. Denn ich hatte jahrelang unermüdlich alle möglichen Handfertigkeiten trainiert. Inklusive Geigenspiel. Was ich dennoch aufgab. Wenn ich zur Befestigung des Bogens eine Klammer, die ich mir dazu ausgedacht hatte, am Ende meines Stumpfes festmachte, konnte ich zwar auf dem Niveau eines Bauerntanzfestes spielen, sagen wir den »Roslagen-Walzer« oder »Für des Vaterlandes Freiheit«, aber zu mehr reichte es nicht. Von der Geige hatte ich also widerstrebend Abschied genommen. Aber Zielwerfen mit dem Messer habe ich endlos trainiert. Mit Entfernungen von einem bis zwanzig Schritt. Mit allen erdenklichen Messern. Inklusive Besteck-, Küchen-, Jagd-, Fisch- und Robbenhäutungsmesser, Finnendolche mit einer Klingenlänge von zwei bis fünfzehn Zoll, wie es sie auf der Insel gab, und Taschen- oder Federmesser jeden Gewichts mit allen möglichen Klingen und Griffen. Ich hatte Millionen von Würfen absolviert. Meine Hand wählt bis heute unfehlbar den Schwerpunkt, an dem sie ansetzen muss, und den Schwung, den sie dem jeweiligen Messer auf das jeweilige Signal hin geben muss.

 

Ich hob die Hand ganz langsam ans linke Ohr, drückte das Messer zwischen Daumen und Zeigefinger, zielte – und zögerte. Der Skorpion an der Wand gab ein extrem unbestimmtes Ziel ab. Seine Beine waren ziemlich dünn, sein Körper in der Vorderansicht nur ein Dutzend Millimeter dick, und er befand sich ein Stück weit vor der Jalousie. Wahrscheinlich würde ich ihn treffen, gewiss. Trotz der schlechten Wurfposition. Aber der Schlag wird nicht schwerer sein als sein eigenes kümmerliches Gewicht. Das Messer schleudert das Tier einfach zur Seite und bleibt in der Bambusjalousie stecken. Ich vermag nicht zu sagen, ob ich sofort oder erst später dachte: Der Skorpion fliegt zur Seite und fällt von der Fensterbank oder schafft es sogar hinunterzuspringen, denn er ist ein teuflisch flinkes Tier, und dann landet er auf meinem nackten Fuß und wird vor Schreck unweigerlich seinen Stachel in meinen Spann rammen. Ich zögerte also einen Moment. Und dann geschah das Unglaubliche. Die kaputte Bireme des Odysseus vollzog abermals eine blitzschnelle Bewegung. Ich konnte nicht sehen, wie das vor sich ging, aber plötzlich war er nicht mehr auf der horizontalen Fensterbank, sondern an der Wand, auf dem weißen Putz, direkt in jenem gleichschenkligen Dreieck, dessen Spitze der Mittelpunkt der Fensterbankkante war, während die Endpunkte der Basis von meinen großen Zehen gebildet wurden. Jetzt befand er sich in der idealen Position für einen Treffer: Das Messer würde seinen hinreichend breiten, wenigstens zwanzig Millimeter breiten Vorderleib durchbohren und ihn an die mürbe, verputzte Wand nageln. Vielleicht stellte ich mir eine Sekunde lang vor, als sich die Sehnen meines Handgelenks anspannten, wie der getroffene Skorpion versucht, den eisernen, vom langen Benutzen ganz glatt gewetzten Handgriff von Urgroßvaters Messer abzubeißen. Aber ich zögerte immer noch. Offenbar aus einem anderen Grund. Weil ich begriff, dass an diesem Tier irgendetwas anders war, als es sein sollte, anders als bei den anderen. Es dauerte zwei Sekunden, bevor ich begriff, was es war: Er war nicht symmetrisch, was sie normalerweise sind; und nach einer weiteren Sekunde sah ich, dass das durch seine fehlende rechte Vorderklaue kam. Da bemerkte ich, dass ich immer noch zögerte, und verstand, warum. Weil ein behinderter Mann sich schämte ein behindertes Tier zu töten. Unsere Behinderung (ich verstehe, wie schwachsinnig es klingt, von einem Skorpion und mir selbst als »uns« zu sprechen, zumal ich nicht mal im Sternzeichen des Skorpions geboren, sondern Widder bin), unsere Behinderung verband uns. Ich begriff, dass wir vom Standpunkt des Ideals her beide mangelhaft waren. Wir müssen versuchen zu leben und einander zu verzeihen. Das war ein großartiger Augenblick, einerseits so dämlich (oh nein, ich wage bis heute nicht zu sagen, dämlich), dass er den Verstand verblendete, andererseits so süß, dass er den Verstand überstieg. Ich weiß nicht, was es war. Jedenfalls legte ich das Messer zurück auf den Nachttisch. Leise. Aber wahrscheinlich nicht so leise, wie ich es ergriffen hatte. Und nicht ohne Kopfbewegung. Denn als ich wieder Richtung Skorpion blickte, war er weg.

Hahaha! Der Moment der Erleuchtung war vorüber. Ich stöberte eine Stunde lang im Zimmer herum. Nicht um ihn zu erschlagen, sondern um ihn aus dem Zimmer zu jagen. Ich verschob den Kleiderschrank, rückte das Bett von der Wand und drehte die Matratze um. Er war nirgendwo. Obwohl ich – ich kann einfach nicht umhin, von »uns« zu sprechen –, obwohl ich unter dem Eindruck unserer kürzlichen Begegnung oder des anstrengenden Tages, der ungewohnten Hitze, der Flut an Eindrücken, der Müdigkeit und des Whiskeys für einen Moment glaubte, dass das absolute Vertrauen gegenüber einem Skorpion um denjenigen, der vertraut, eine Blase der Unberührbarkeit bildet, die der Skorpion nicht durchstechen wird (so wie ein absoluter Glaube Berge versetzt), spürte ich gleichzeitig schmunzelnd meine europäische Unfähigkeit sowohl zu so einem absoluten Vertrauen wie auch zum Glauben. Also ließ ich das Bett mitten im Zimmer stehen und das Licht für alle Fälle an und versank allein dank meiner außerordentlichen Müdigkeit in einem tiefen Schlaf bis zum Morgen.

Ansonsten geschah in Cebu nichts Besonderes mehr. Wir klapperten am nächsten Tag die nördlichen Punkte ab und entschieden uns doch nicht für Catmon, sondern für Sogod. Das liegt 56 Kilometer nördlich von Cebu, beinahe direkt an der Küste der Camotes-See, wo ein angenehmer Passat für Abkühlung sorgt, und ist mit Cebu durch eine Landstraße verbunden, über die Herr Moll versicherte, dass sie eine der besten Autostraßen hierzulande sei. Nun ja, vorsichtig fahrend schafften wir unsere Ausrüstung heil dorthin, aber um mein Hinterteil machte ich mir zeitweise ernsthaft Sorgen.

Sogod war, wenn man es aus angemessener Entfernung betrachtet, die reinste Postkartenidylle: Eine alte Kirchenbaracke, katholisch natürlich, im Herzen des Fleckens, Herrenhäuser der Plantagen, das heißt ein paar weiße Bungalows und dergleichen unter Kokospalmen, drum herum gräuliche und bräunliche Hütten mit hohen gelben Strohdächern für das einfache Volk inmitten des vieltönigen Grüns der Mais- und Tabakfelder, zur Rechten das blaue Meer, zur Linken die hügeligen Felder des Binnenlandes, die sich weiter hinten zu Bergen ausweiteten. Aus der Nähe betrachtet war der Flecken ein ziemlich schmuddeliger und verfallener Ort, unglaublich voll mit halbnackten Visayakindern und den Büffeln der Dorfbewohner, Kleinvieh und Hühnern. Einstweilen konnte man sich nur ausmalen, in was für ein Schlammfeld der tropische Regen die lila schimmernde, von Hufspuren übersäte Erde dieser Straßen verwandeln würde.