Gegenwindschiff

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Ich verkneife mir, ihn zu korrigieren, dass es von Schmidts Bleibe bis zu seiner Beobachtungsstation immerhin sechshundert Meter quer durch Mittweida waren. Aber ich ergänze:

»Herr Kelter – zumindest vor dem Ersten Weltkrieg besaß er auch ein Auto, was es ihm in jeden Fall erlaubte …«

»Was erlaubte ihm das?!«, ruft Kelter und schenkt uns großzügig Wermut nach. »Gelegentliche Fahrten mithilfe von Freunden. Er selbst konnte ja nicht fahren. Und das war in der Tat davor. Dann kam der Krieg, und Schmidt wurde interniert. So auch seine Freunde. Als Bürger eines Feindesstaates, nicht wahr? Als er freikam, herrschte Krieg. Das war nicht die Zeit zum Herumfahren. Darauf folgten die Not der Nachkriegszeit und die Inflation. Er verkaufte sein Auto für fünfhundert Milliarden Mark und bekam dafür eine Woche später drei Laib Brot!«

»Hat er Ihnen das persönlich erzählt?«

»Nein, nicht er persönlich. Und auch nicht mir. Aber jemand hatte es meinem Vater erzählt. Nun, dann standen wir jedenfalls vor der Tür zu seiner berühmten Kegelbahn. Ich erinnere mich an die kalten Betonwände und die schmutzige Kellertreppe. Vater klopfte mehrmals und rüttelte an der Klinke. Keiner antwortete und die Tür war verschlossen. Ein Nachbar kam die Treppe herunter und äußerte die Vermutung, dass Schmidt bei Bretschneider sein könnte, das heißt im ›Lindengarten‹. Offenbar war das sein Stammlokal. Also gingen Vater und ich dorthin. Es war eine kleine Provinzkneipe. Aber makellos sauber. Die Wirtin wischte mit einem Lappen über den Tresen und musterte uns beiläufig. Nein, Herr Schmidt war an diesem Tag noch nicht bei ihr gewesen. Wenn er sich nicht in der Werkstatt aufhielt, dürfte er bei dem Aussichtspunkt sein. Die Wirtin begleitete uns zur Tür und lotste uns zu einem Garten auf der anderen Straßenseite.

›Da, links können Sie seine Röhren und Apparate sehen.‹

Hinter Himbeersträuchern erschienen zwei Holzbuden und dazwischen ein Teleskop, offenbar mit einer Öffnung von 30 Zentimetern und recht solide. Aber es stand nicht wie üblich auf einem normalen Stativ aus Metallröhren, sondern auf einem seltsamen selbstgefertigten Dreibein aus Holz. Die Hütten waren verschlossen und der Furnierstuhl hinter dem Teleskop leer. Wir gingen zurück zum Restaurant. Keine Spur von Schmidt. Wir fragten die Wirtin, ob er vielleicht in diesem vegetarischen Lokal aufzufinden sei. Die Wirtin sagte, dass er sich nachmittags ab fünf nie dort aufhielte. Seine Mittagspause dürfte zwischen eins und zwei sein – an den Tagen, an denen er zu Mittag aß, fügte die Wirtin hinzu. Mein Vater beschloss, noch einmal im Kegelkeller nachzusehen. Wir standen hinter der Kellertür. Vater klopfte lange und rief: ›Herr Schmidt! Hören Sie mich? Hier ist Professor Kelter aus Berlin. Ich würde gerne mit Ihnen sprechen.‹ Aber niemand antwortete. Ich sagte, dass er womöglich trotzdem da drinnen hockte, denn man hatte uns erzählt, dass dergleichen schon vorgekommen sein soll. Vater war sich jedoch sicher, dass er nicht in der Werkstatt sein konnte: ›Wenn er hier wäre, hätte er beim Namen Kelter aufgemacht.‹

Wir beschlossen, ins Hotel zu gehen – es lag in der Nähe des Bahnhofs, in derselben Straße, in der sich Schmidts Lebenspendel bewegte. Wir wollten also ins Hotel gehen und ein verspätetes Mittagessen zu uns nehmen. Doch auf halbem Weg erinnerte ich mich an die Kakerlaken und schlug vor, zurück in den ›Lindengarten‹ zu gehen und dort zu speisen. Vielleicht würde Schmidt währenddessen auftauchen. Wir kehrten um und gingen zu Frau Bretschneider – und stellen Sie sich vor – Schmidt saß bereits da! Somit bestand kein Zweifel mehr: Er hatte sich die ganze Zeit in der Werkstatt aufgehalten, während wir klopften und riefen, doch er machte uns nicht auf.

Wir erkannten ihn sofort an der fehlenden rechten Hand, und Vater ging zu seinem Tisch, um sich vorzustellen.«

»Herr Kelter – wie war Ihr erster Eindruck von Schmidt?«

»Nun, er wirkte jünger, als er war. Er war damals immerhin schon über fünfundvierzig Jahre alt, aber ich hätte ihn auf unter vierzig geschätzt. Weil er so dünn war und in gewisser Weise durchsichtig. Wie ein, sagen wir, Tuberkulosekranker. Obwohl er meines Wissens nicht an dieser Krankheit litt. Und sein Gesicht, würde ich sagen, war das Gesicht des Menschen, der er war – ein störrisches Landei, das sich als Intellektueller gerierte. Blass, ausgeprägte Wangenknochen. Ein skeptischer, vielleicht sogar einfühlsamer Mund. Ein kleiner rötlicher Schnauzer. Kurz geschorenes, kastanienfarbenes Haar. Eine spitze, dreieckige Nase. Graue, vergleichsweise tiefliegende und doch irgendwie hervorstechende Augen mit einem starren Blick. Dünne Brauen. Aber die Brauen eines Menschen, mit dem zu diskutieren nicht angenehm ist.«

»Herr Kelter – ich muss sagen, Sie sind ein wahrer Gedächtnisfotograf. All das auf Grundlage von ein, zwei Begegnungen …«

»Nun, wissen Sie, ich habe sein Foto oft genug sehen. Im Büro meines Vaters hingen all die Fraunhofers, Abbes, und wie sie heißen, in einer Reihe an der Wand. Und später auch Schmidt. Aber was ich noch sagen wollte: Dass er sich angeblich nicht um sein Äußeres scherte, ist nicht ganz korrekt. Zumindest meinem Eindruck nach. Und auch dem Foto nach. Obwohl man sich für ein Foto gewöhnlich herausputzt. Aber ich glaube nicht, dass Schmidt sich besonders herausgeputzt hätte. Denn ich spreche aus meinen Erinnerungen. Ich würde wetten, dass er direkt von der Arbeit zu Bretschneider gekommen ist. Sein Anzug war natürlich weder neu noch fein. Das stimmt. Ein billiger grauer Anzug von der Stange. Ein wenig verstaubt, offensichtlich vom Glasschleifen, und stark verknittert. In manchen Erinnerungen war von seiner Bügelfalte die Rede, soll heißen, von deren Nichtvorhandensein. Die Hosen schlackerten ihm stets um die Beine. Aber das war zumindest in Mittweida nicht so wild. Vielleicht deshalb, weil es da eine Frau in seiner Nähe gab. Aber was ich sagen wollte: Seine Kleidung hatte, wenn man so will, zwei Elemente proletarischer Eleganz, die einem unmittelbar ins Auge stachen. Er trug eine billige gestrickte Krawatte zu einem blütenweißen Hemd mit einem steifen Kragen. Und seine Schuhe waren trotz des scheußlichen Aprilwetters tipptopp poliert.«

Herr Kelter hebt mit der rechten Hand sein Glas und führt sich den Strohhalm in den Mund. Dann fällt ihm noch ein Detail ein, offenbar hat ihn der Titel des Gedächtnisfotografen angespornt. Er hebt den Zeigefinger seiner Linken und nimmt den Strohhalm aus dem Mund:

»Und nebenbei: Er hatte eine Kragenweite von neununddreißig, würde ich sagen, aber das weiße Hemd, von dem ich sprach, hatte einundvierzig oder sogar zweiundvierzig. Hahaha.«

»Herr Kelter – erinnern Sie sich an seine Hand? Sie gaben ihm doch die Hand?«

»Ja. Hören Sie, das war ziemlich hakelig. Wie jeder Handschlag zwischen links und rechts.«

»Und weiter? Sie haben sicher besonders auf den Handdruck geachtet. Schließlich hatte er ja eine außergewöhnliche Hand – für jemanden mit Ihrem Fachwissen?«

»Ach, hören Sie, ich sage Ihnen gleich, dass ich nichts davon halte, Schmidt zu mythologisieren. Auch jetzt nicht, wo andere dies tun. Und noch weniger habe ich davon gehalten zu der Zeit, als der Mythos noch gar nicht existierte. Und ich selbst ein junger Mann war im, wie soll ich sagen, denkbar unmythologischsten Alter. Weshalb mir nichts Besonderes auffiel. Eine gewöhnliche, eher zierliche und nervöse Hand. Soweit ich mich erinnere. Ja … Womöglich hatte ich den Eindruck, dass seine Hand sensibel und ausgesprochen dünnhäutig war. Aber das wäre nur mehr als verständlich gewesen.«

»Wie verlief Ihre Unterhaltung?«

»Wie gesagt, mein Vater stellte sich vor, und sprach davon, dass wir eigens nach Mittweida gekommen seien, um ihn zu treffen, und bat um Erlaubnis, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Die Erlaubnis bekam er. Nicht mit übermäßigem Respekt, aber dennoch. Er hatte ein halb volles Schnapsglas und einen Aschenbecher mit einer halben Zigarre vor sich. Vater fragte, was er ihm bestellen dürfe. Er spreizte die Finger in der Luft und wies das Angebot zurück. Für ihn – nichts. Übrigens gestikulierte er mit seiner einzigen Hand deutlich mehr, als man in Anbetracht seiner Wortkargheit erwartet hätte. Vater fragte, ob er auch ein vegetarisches Hors-d’œuvre ablehnen würde. Das tat er. Vater fragte, was er trank, und bestellte zum Abendessen eine Flasche Korn. Obwohl er sonst nie Korn trank. Schmidt ließ sich von Vater aus unserer Flasche nachgießen. Und dann begann Vater sein Gespräch mit Schmidt.«

»Aber zuvor noch eines, Herr Kelter, sagen Sie: Was veranlasste Ihren Vater dazu, mit Schmidt Kontakt aufzunehmen?«

»Neugier. In erster Linie. Mein Vater konnte nicht glauben, was man sich über Schmidt erzählte. Dass die außerordentlich präzisen Geräte, die er für Potsdam und anderswo angefertigt hatte, mit den primitivsten Mitteln hergestellt worden waren. Dazu noch von einem einhändigen Mann. Als Werkzeug benutzte er Gerüchten zufolge irgendwelche Kuriositäten aus Holz und Blech, die er sich selbst zusammengebastelt hatte. Außerdem eine alte Drehbank mit Pedalantrieb. Sowie Glasstücke und Lappen aus Sämischleder. Aber die Präzision seiner Arbeit war, hm, fast die gleiche, wie bei unseren brandneuen Bänken von Kärger.«

»So gut? Oder vielleicht noch besser?«

»Hmmmm … Wissen Sie, mal so, mal so.«

»Und worüber haben Sie sich damals unterhalten?«

»Nun, mein Vater war aufgrund seiner Lebenserfahrung in den verschiedensten Annäherungsmethoden zu Hause. Und er verfügte auch über eine gewisse Menschenkenntnis. Aber bei Sonderlingen hatte all das keinen großen Nutzen. Und ich will meinen Vater auch nicht idealisieren. Es kam auch vor, dass er sich bei der Wahl seiner Annäherungsmethode mal vergriff. Sich auf nicht überprüfte Informationen stützte. In der Vorstellung, dass er sich ein gewisses Maß an Improvisation erlauben könnte, da ihm das psychologische Gespür des erfahrenen Redners zu Gebote stand. Im Fall von Schmidt nahm er offenbar an, dass man einen Provinziellen nicht bedrängen, nicht mit der Tür ins Haus fallen dürfe, wie es so schön heißt. Um Vertrauen zu gewinnen, muss man nach alter Manier einen Bogen schlagen, also fing er damit an, dass wir, die Familie Kelter, auch in gewisser Weise Deutschbalten seien. Haha. Hoffentlich konnte ich schon mit zwanzig eine unbewegte Miene aufsetzen. Damit Schmidt meine Überraschung nicht bemerkte. Denn alle Kelters stammten aus Brandenburg und mit den Balten hatten wir nicht mehr gemeinsam, als dass eine von Vaters Tanten mit einem kurländischen Forstmeister verheiratet war und ihr Leben in Mitau verbrachte. Vater konnte das Thema unserer baltischen Wurzeln nicht weiter ausführen, denn Schmidt blies ihm Zigarrenrauch ins Gesicht – ohne Absicht, versteht sich – und sagte:

 

›Die Deutschbalten sind bei uns in Estland ein recht unbeliebtes Völkchen.‹

Vater sagte: ›Äußerst bedauerlich. Ich kann mir vorstellen, dass sensiblere Menschen es inmitten dieser Intoleranz von Zeit zu Zeit schwer haben. Demnach würde ich es vollkommen verstehen, wenn Sie sagen, dass die Intoleranz vor Ort der Grund für Ihren Umzug nach Deutschland war.‹

Daraufhin nahm Schmidt die Zigarre aus dem Mund und sagte: ›Hören Sie, ich bin kein Deutschbalte! Ich bin stattdessen einer der … Intoleranten, wenn Sie wollen.‹ Somit konnte Vater nichts anderes sagen als Ach so – mit langem O, ganz nach seiner Art – und sich in Gelächter retten. Ich war nach unserem Malheur ein wenig beschämt und fuhr dazwischen: ›Herr Schmidt kommt meines Wissens von der Insel Nargen bei Reval, nicht wahr?‹

Vater nutzte den Moment – natürlich wusste er das selbst – und lenkte die Unterhaltung auf die Charakterfestigkeit von Menschen, die von der Küste, insbesondere von einer Insel, stammten. Und so weiter und so fort. Nicht übertrieben ausführlich, sondern überlegt, beinahe wortkarg, sodass sich die Zweckmäßigkeit nur eingeweihten Zuhörern erschloss. Nebenbei war diese Eigenart von Schmidt – seine Nargennarrheit – schon seinerzeit bekannt. Und wissen Sie, das sticht auch bei seinem Mythos ins Auge. Als Sie mich anriefen und erzählten, dass Sie mit mir über Schmidt sprechen wollen, sah ich in unserem Archiv nach (das wir beim Brand der alten Fabrik 1943 glücklicherweise retten konnten) und ging die Unterlagen zu Schmidt durch. Die Insel Nargen, seine Narreninsel, wie ich sagen würde, spukt bis heute in den ganzen Schmidtiana umher. Ja, ja. In dem einseitigen Nachruf, den Professor Schorr nach Schmidts Tod vor fünfzig Jahren für die Zeitschrift »Astronomische Nachrichten« verfasst hat, wird Nargen zweimal erwähnt. In der feierlichen Eröffnungsrede der wissenschaftlichen Konferenz, die anlässlich Schmidts 100. Geburtstages stattfand, erwähnte der Rektor der Universität Hamburg – ich kann mir den neumodischen Kram nicht merken, wie so einer jetzt heißt – Nargen zweimal. Und so weiter. Ganz zu schweigen davon, dass Nargen als Schmidts Geburtsort in den Grabstein aus Granit gemeißelt wurde, den ihm seine Kollegen aufstellen ließen. Ich frage: Weshalb erwähnen Menschen, die im Grunde überhaupt keine Ahnung davon haben, immer wieder diese Insel in Verbindung mit seinem Namen? Meine Antwort: Weil er selbst ununterbrochen davon sprach. Das ist natürlich relativ gemeint, nicht? Denn, verstehen Sie, in Anbetracht seiner Wortkargheit musste einem diese ständige Nargen-Leier ins Auge stechen. Oder besser gesagt ins Ohr. Dieses Steckenpferd – seine Steckeninsel, wenn Sie wollen – hatten mehrere aufmerksame Kollegen meinem Vater gegenüber erwähnt, und Vater nutzte diese Gelegenheit. Er erklärte, dass wir, die Familie Kelter, nämlich auch in gewisser Weise Inselmenschen seien. Woraufhin ich mir dachte: Woher zum Teufel hat er das nun wieder?! Wir haben mit Inseln nichts zu schaffen, außer dass wir ein altes und seit Urzeiten vermietetes Sommerhaus auf dem Kaninchenwerder im Schweriner See besaßen … Aber genau das war es, was Vater im Sinn hatte. Mehr brauchte er nicht! Und ich kann bestätigen: Er sprach vollkommen sachlich und überzeugend davon, wie ihm seine Besuche auf der kleinen Insel bei organisatorischen und wissenschaftlichen Problemen geholfen hatten, wie er dort zu Erquickung und Konzentration gefunden hatte. Er fügte vorsichtig hinzu: ›Unter unseren Fenstern gab es natürlich kein Meeresrauschen wie bei Ihnen, sondern nur das Plätschern des Sees. Dafür aber selbst im tiefen Herbst späte Sommergäste beim Spazieren. Ja, und doch kann ich Ihre Zuneigung für Nargen bestens nachvollziehen. Besonders, wenn ich daran denke, wie sehr das bisschen mehr an Individualismus, das die Insel bietet, meine eigene Fantasie angeregt hat. In der Tat. So muss ich meiner Insel für meine immer noch recht agile Vorstellungskraft danken …‹ Derlei unerwartete Assoziationen waren typisch für meinen Vater. Und umso typischer, je dringender er etwas erreichen wollte. In diesem Fall besonders, da Schmidt – ich befürchtete, er würde die Ausführungen meines Vaters jeden Moment belächeln – der Inselfantasie meines Vaters durch den Zigarrenqualm hindurch lauschte, und das nicht nur ohne zu lachen, sondern sogar recht gewogen.

Vater schob seinen leer gegessenen Teller Rinderbraten beiseite und goss Schmidt und sich selbst die Schnapsgläser voll. Frau Bretschneider brachte uns Kaffee, Vater erhob das Glas auf Schmidt, sie stießen an, und daraufhin legte Vater die Karten auf den Tisch:

›Aber Herr Schmidt, trotz dieser ausreichend agilen Vorstellungskraft, von der ich eben sprach, bleiben Sie mir ein Rätsel. Ja. Trotz der Tatsache, dass ich ein Spezialist bin, gut, verglichen mit Ihnen eher in theoretischer Hinsicht, oder gerade praktischer, ganz egal, aber ein ernstzunehmender Spezialist, nicht wahr. Trotzdem – oder auch gerade deswegen bleiben Sie mir ein Rätsel.‹

Schmidt zog an seiner Zigarre und schwieg. Vater sprach weiter:

›Sie fragen sich: Inwiefern? Ich werde es Ihnen erklären. Sehen Sie, bei Ihren verschiedenen Arbeiten, die es zu Bekanntheit gebracht haben – nehmen wir als Beispiel die trivialsten, also etwa Korrekturen, die Sie an astronomischen Spiegeln großer Firmen vorgenommen haben – kann ich nicht glauben, dass sie so gemacht wurden, wie man sich hier und da erzählt. Soll heißen, mit den primitivsten Mitteln, die man sich nur vorstellen kann. Mit einer uralten Drehbank und Glasstücken, nicht wahr? Andererseits kann ich auch nicht glauben, dass die entgegengesetzten Geschichten stimmen: Dass Sie sich bislang unbekannte Berechnungs- und Schleifmethoden angeeignet haben sollen. Also, Herr Schmidt, wollen Sie mir nicht verraten, worin Ihr Geheimnis besteht?!‹

Schmidts Mund wurde von den Fingern, die die Zigarre hielten, verdeckt, weswegen ich beim besten Willen nicht ausmachen konnte, ob unter seinem Schnauzer ein Schmunzeln aufblitzte oder nicht. Er überlegte einen Augenblick:

›Was für ein Geheimnis soll das sein? Die Werkzeuge sind alt. Aber die Methode natürlich neu.‹

›Ja?!‹, rief Vater aufrichtig begeistert, ›das klingt ja äußerst geheimnisvoll. Erklären Sie doch, was das heißt! Was für eine neue Methode ist das?‹

Wie gesagt, wir hatten gehört, dass Schmidt angeblich so gut wie niemanden in seine Werkstatt ließ. Fremde schon gar nicht. Aber der Name von Professor Kelter war ihm natürlich nicht fremd. Und Vaters Interesse für seine Methode erschien Schmidt verdammt echt – und das war Herrgottnochmal auch der Grund, weshalb Schmidt auftaute. Nun, das kam nicht ganz unerwartet. Man kann es sich vorstellen: Das aufrichtige Interesse eines namhaften Experten und der geheim gehaltene Sachverstand eines Eremiten treffen bei einem Glas Schnaps aufeinander. Schmidt winkte Frau Bretschneider herbei:

›Schreiben Sie drei Korn auf meine Rechnung.‹

›Aber Herr Schmidt, ich habe Ihnen doch nur einen gebracht‹, korrigierte ihn die Wirtin.

›Zwei habe ich aus der Flasche von Professor Kelter genommen. Streichen Sie die zwei von seiner Rechnung.‹

Vater versuchte zu protestieren, aber Schmidt war bereits aufgestanden: ›Kommen Sie und schauen Sie es sich an.‹

Schmidt ging voran. Vater beglich eilig die Rechnung und schnappte sich die Flasche Korn vom Tresen, als er an der Wirtin vorbeiging, und steckte sie ein. Schmidts Keller lag gleich nebenan. Eine Minute später schloss er in unserer Anwesenheit die Tür des einstigen Kegelkellers auf und machte das Licht an.

Ein langer flacher Raum. Wie zu erwarten war. Die Kegelbahn, gut eineinhalb Meter breit und ein Dutzend Meter lang, wie das so ist, nahm den Großteil des Raums ein. An den schmutzigen Putzwänden hingen Sternenkarten, Drahtrollen, Chronometer, obskure Instrumente, diverse Skizzen von Linsen, Spiegeln und Reflektoren, manche eher schief und schematisch, einige Holz- und Blechpropeller verschiedenster Größe, teils von Booten, teils von Windmaschinen, sowie zwei alte Strohhüte. Die Kegelbahn selbst war in der Mitte durchgesägt worden. Ein Stück von einem Meter Breite war entfernt worden, sodass eine Art Durchgang entstanden war. Das dem Eingang zugewandte Ende der Kegelbahn, Sie verstehen, war mit kleinen Beinen behelfsmäßig um vierzig Zentimeter erhöht worden. Daraus war ein langgezogener Arbeitstisch entstanden, übersät mit Apparaten, Büchern und Zeichnungen. Auf der tieferliegenden Seite der Kegelbahn standen offenbar selbstgebaute Geräte ohne eindeutige Funktion, jedenfalls keine Schleifgeräte, das war klar.

Vater fragte, aus welchen Gründen sich Schmidt für so einen ungewöhnlichen Raum als Werkstatt entschieden hatte. Schmidt erklärte, dass er viele Vorteile bot: eine günstige Miete, reichlich Quadratmeter, eine mehr oder weniger horizontale Fläche, dort wo die Kegelbahn verlief.

Vater sagte: ›Aber es ist unsagbar kalt.‹

›Aber konstant kalt. Wenn man die Heizkörper ausgestellt lässt. Das ist die wichtigste Voraussetzung für präzises Schleifen‹, sagte Schmidt.

Er marschierte vorneweg ins Innere des Raums und deutete auf das große Wandregal. Darauf lagen in Reihen, allerdings nicht besonders ordentlichen Reihen, Lappen aus Sämischleder und Glasstücke, unterschiedlich in ihrer Form und offenbar auch in ihrer Härte und Qualität.

›Bitte‹, sagte Schmidt, meinem Eindruck nach ein wenig naiv und triumphierend, ›mein Instrumentarium.‹

›Und das ist wirklich alles?!‹, fragte Vater.

›Natürlich noch eine Bank‹, Schmidt deutete auf die pedalbetriebene Drehbank vor dem Regal.

Vater rief: ›Aber das Ding ist ja sicher fünfzig Jahre alt – um nicht zu sagen aus Spinozas Zeiten?!‹

›In der Tat‹, sagte Schmidt, ›gute fünfzig Jahre. Nur habe ich sie selbst justiert.‹

Vater sah sich ungläubig um und blickte zu Schmidt, weil dessen Antwort seiner Meinung nach absurd war. Auch meiner Meinung nach. Weshalb Vater nochmals fragte:

›Und das ist wirklich Ihr ganzes Instrumentarium?‹

›Ja. Natürlich inklusive meines Hauptinstruments‹, sagte Schmidt – wissen Sie, und deutete dabei ein eigenartiges, leicht rüpelhaftes Grinsen an. ›Und das ist nicht viel neuer. Es ist sechsundvierzig Jahre alt …‹

›Um welches Instrument handelt es sich?‹, fragte Vater.

Schmidt sagte: ›Um dieses‹, und streckte seine eine Hand meinem Vater recht unhöflich unter die Nase.

Natürlich nahm mein Vater es ihm nicht übel. Dafür interessierte Schmidt ihn zu sehr, verstehen Sie? Also begann er zu lachen und sagte:

›Gut, gut. Dieses Instrument, selbstverständlich. Aber das hat doch jeder Handwerker, bei manchen ist es natürlich etwas genauer als bei anderen. Die zentrale Frage ist in solchen Fällen doch die nach der Methode. Sie sagten ja selbst, dass Sie eine neue Methode hätten. Erklären Sie, worin diese besteht!‹

Schmidt blickte Vater direkt in die Augen und spitzte die Lippen, und ich konnte nicht beurteilen, wie ernst oder unernst man seine Antwort nehmen konnte. Er formulierte es, wenn ich mich recht erinnere, etwa so:

›Die Methode ist selbstverständlich neu. Oder eben sehr alt. Die älteste. Nur wird sie selten praktiziert.‹

Er schwieg und Vater ließ nicht locker: ›Das ist verdammt interessant. Worum geht es also?‹

›Es geht darum, dass ich das Glas frage.‹

›Fragen? Wie das?‹

›Ich frage das Glas. Ob ich den richtigen Weg eingeschlagen habe oder mich verrenne.‹

›So? Und das Glas antwortet?‹

›Mhm.‹

›Und dann?‹

 

›Dann tue ich das, was es mir sagt.‹

Vater lachte schallend: ›Und welche Sprache benutzen Sie?‹

Schmidt lächelte, sicher, aber ich beobachtete ihn aufmerksam, und mir schien, dass er in gewisser Weise wirklich durcheinander war:

›Hm, darüber habe ich noch nie nachgedacht … Glassprache … Oder vielleicht Estnisch. Ja, gewiss Estnisch‹, sagte er mit fast schon kindlicher Heureka-Freude, wie mir schien.

Vater lachte: ›Das muss ja eine recht spiegelhafte Sprache sein!‹ Er setzte sich auf den Rand der langen Werkbank, als sei er zu Hause und begann damit, Schmidt konkrete Fragen zu stellen: Etwa, ob es der Wahrheit entspreche, dass er, Schmidt, wie man sich erzählte, in der Lage sei, mit seiner Hand zonale Abweichungen von Tausendstel Millimetern auf der Oberfläche eines Parabolspiegels zu fühlen. Schmidt bestätigte, dass dies der Wahrheit entsprach. Vater sagte, verzeihen Sie, Herr Schmidt, aber das glaube ich Ihnen nicht. Schmidt ging zur anderen Seite der Werkbank und zog zwei, drei große Schubladen heraus. Darin lagen konkave Spiegel mit verschiedenen Durchmessern, von fünfzehn bis dreißig Zentimetern:

›Suchen Sie sich einen aus, Professor. Das sind Arbeiten der Glashütte Goerz. Allesamt ungleichmäßig.‹

›Einverstanden‹, sagte Vater, ›ich nehme den in der Mitte. Und was nun?‹

›Nehmen Sie das Eichmaß hier. Sie prüfen mit dem Eichmaß die Abweichungen und schreiben sie auf. Wie bei einer Zielscheibe. Uhrzeit und Punkte. Und die Größe der Abweichung. Wenn wir sie gefunden haben. Ich prüfe sie mit der Hand. Und schreibe meine Ergebnisse selbst auf. Danach vergleichen wir unsere Notizen und kontrollieren die Ergebnisse.‹

Wissen Sie, die beiden haben sich eine Stunde lang mit diesem Spiegel abgemüht. Soll heißen, Vater mühte sich eine Stunde mit dem Eichmaß ab. Und fand natürlich fünf oder sechs kleine Abweichungen.«

Herr Kelter gibt mir und sich Eiswürfel ins Glas. Und ich frage mich: Sammelt er gerade Kraft für ein großes Geständnis oder für ein großes Dementi? Dann kann ich mich nicht mehr zurückhalten:

»Und Schmidt?!«

»Tja. Sehen Sie, es war tatsächlich so. Als Vater fertig war, ging Schmidt zum Tisch und schob mir ein weißes Blatt Papier zu: ›Junger Mann, schreiben Sie auf!‹ Verstehen Sie, er hatte keine freie Hand dafür. Er legte seine Hand auf den Spiegel. So leicht, dass es schien, als hätte er den Spiegel überhaupt nicht berührt. Wissen Sie, wie jemand, der Teller jongliert, ohne die Teller zu berühren. Natürlich berührte er den Spiegel. Aber ganz sachte. Und begann mit drei Fingern, vielleicht auch nur mit dem Mittelfinger, vom Zentrum aus eine Spirale zu zeichnen. Im Uhrzeigersinn. Dabei blickte er nach unten, auf den Spiegel, aber ich hatte den Eindruck, dass seine Augen in Wirklichkeit geschlossen waren. Und dabei murmelte er die Daten, die ich aufschrieb. ›Acht Punkte, elf Uhr bis zwei. Eine Unebenheit von bis zu zwei hundertstel Millimetern …‹ Und so weiter. Insgesamt fand er – so erinnere ich mich – elf Unebenheiten. Dann maßen er und mein Vater die Abweichungen mit dem exaktesten Mikrometer nach. Und verglichen die Tiefen und Höhen der Abweichungen, die sie jeweils gefunden hatten. Nun, es hat ja keinen Sinn, eine wissenschaftliche Tatsache zu leugnen. Sofern man dieses Kuriosum so bezeichnen kann. Schmidts Daten waren exakter als die meines Vaters.«

Ich stelle das Wermutglas auf den Tisch und sage – wobei der Satz mit mehr Begeisterung aus mir herauskommt, als ich vorhatte:

»Aber Herr Kelter, das ist genial!«

»Oh, kein Grund, so ein großes Wort zu benutzen. Von Genialität ist das weit entfernt. Aber auf seine Weise war es fast perfekt. Das schon. Wissen Sie, überträgt man diese Fähigkeiten, die er hatte, sagen wir, auf den Bereich der Musik, kann man sagen: Er hatte einfach ein absolutes Gehör, ein sehr absolutes Gehör. Nicht mehr, nicht weniger. Wissen Sie, ob Beethoven ein absolutes Gehör hatte? Sie wissen es nicht? Ich auch nicht. Denn es spielt keine Rolle. Zudem wissen wir beide, dass er später überhaupt nichts mehr hören konnte. Aber er war trotzdem noch Beethoven, nicht wahr? Also machen Sie aus den Fähigkeiten keine große Angelegenheit. Aber meinem Vater imponierte das natürlich sehr. Sehen Sie, er war ein Selfmademan, der sich seine Bildung erst im reifen Alter angeeignet hatte. Er war ein Praktiker alter Schule. Er hatte im Grunde dort angefangen, wo Schmidt seinerzeit steckte: in einem Einmannarbeitszimmer. Natürlich fing er wegen Schmidts Darbietung nicht an, von einem Bein auf das andere zu hopsen. Aber er sagte: ›Herr Schmidt, ich gebe zu, das ist ziemlich imposant …‹

Sehen Sie, ich sagte eingangs, dass mein Vater kein Gefühlsmensch gewesen sei. Sondern vor allem ein Geschäftsmann. Und im Allgemeinen traf das natürlich auch zu. Aber in seltenen Fällen machte er eine Ausnahme. Oder ein primitiver Gefühlsfunken in ihm machte eine Ausnahme, um genau zu sein. Nun, zum Beispiel schickte er jedes Jahr zu Weihnachten eine gewisse Summe an die Grundschule, die er als Junge besucht hatte. Und manchmal ließ er sich für wohltätige Zwecke erweichen, wenn ihn etwas an seine Kindheit als Waise oder an seine karge Jugend erinnerte. Und Schmidt schien eben solch ein Fall zu sein, der ihm seine eigenen Anfänge vor Augen führte. Schmidt war mit seiner souveränen Starrsinnigkeit natürlich anders als mein Vater – aber trotzdem gab es auch da gewisse Gemeinsamkeiten. Und verglichen mit meinem Vater war er ein relativ junger Mann, immerhin zwanzig Jahre jünger. Also war es möglich, dass Vater ihm gegenüber eine protektive Haltung entwickelt hatte. Außerdem waren Schmidts kümmerliche Lebensbedingungen augenscheinlich. Aber ebenso augenscheinlich war seine manuelle Begabung. Und zu allem Überfluss musste man seine Behinderung in die Gleichung miteinbeziehen. Für meinen Vater, mit seinem starken und etwas rücksichtslosen Charakter, gab sie Schmidt etwas, so stelle ich es mir vor, zugleich Abstoßendes und Faszinierendes wie ein verkrüppelter Vogel oder dergleichen. Jedenfalls hörte ich an der Stimme meines Vaters – als er Schmidts Darbietung als imposant bezeichnete –, dass er im Hinblick auf ihn ein wenig, nun, ich würde sagen, gerührt war.

Aber Schmidt selbst blickte sodann auf seine Taschenuhr aus Großvaters Tagen und sagte (ohne es für nötig zu halten, sich bei uns zu entschuldigen), dass er nun leider in Eile sei. Dass er aufgrund irgendeiner Verabredung um acht Uhr zu Hause sein müsse. Vater bedankte sich höflich bei ihm – für die außerordentlich interessante Gelegenheit, einen Blick auf seine Arbeit zu werfen, wie er sagte –, und wir traten gemeinsam auf die Straße. Wir gingen in die gleiche Richtung, er zu sich nach Hause und wir etwas weiter zu unserem Hotel in der gleichen Straße.

Vater ging vor Schmidt, und ich konnte ihr Gespräch wohl nicht richtig verstehen. Ich meine, dass Vater sich nach ein paar Details zu Schmidts Uranostat erkundigte. Schmidt erklärte etwas, Vater fragte nach, präzisierte seinerseits etwas, Schmidt rief: ›Nein, nein, nein …‹ und im selben Moment standen wir am Tor zu seinem Mietshaus. Schmidt sagte: ›Warten Sie, ich erkläre es Ihnen …‹, blickte sich ratlos um, und sprach:

›Nun kommen Sie schon mit hoch!‹

Wir stiegen die bekannte Treppe nach oben bis zur bekannten Tür. Als Schmidt die Tür aufschloss, und wir in dem nach Naphthalin riechenden Flur standen, ging eine Zimmertür auf, und die bekannte Frau mit den toupierten Haaren trat hervor. Zu Ihrer Freude, Herr Schriftsteller, fand ich in unserem Archiv ihren Namen. Mein Vater hatte vor unserer Visite in Mittweida von Schmidt irgendeinen Brief bekommen. Der zufälligerweise erhalten blieb. Zusammen mit dem Umschlag. Darauf steht c/o Knechtel. Schriftsteller denken ja bisweilen, dass neben all der Fantasterei derlei polizeiliche Details für sie von Bedeutung seien. Also bitte sehr: Frau Knechtel, Wilhelmstraße 6. Frau Knechtel trat hervor, soll heißen, in den Flur und teilte mit, dass Fräulein Johanna nach Herrn Schmidt gesucht habe und versprach, später zurückzukehren. Schmidt fragte: