Loe raamatut: «Jack London – Gesammelte Werke», lehekülg 74
13
Drei Tage lang verrichtete ich neben meiner eigenen Arbeit auch die von Thomas Mugridge, und ich schmeichle mir, dass ich sie gut tat. Ich weiß, dass sie Wolf Larsens Beifall fand, während die Matrosen in der kurzen Zeit meines Regiments vor Zufriedenheit strahlten. »Der erste saubere Bissen, seit ich an Bord bin«, sagte Harrison zu mir, als er mir die Töpfe und Pfannen von der Back wieder an die Kombüsentür brachte. »Tommys Essen schmeckt immer nach ranzigem Fett, und ich wette, er hat, seit wir Frisco verließen, das Hemd nicht gewechselt.«
»Ich weiß, dass er es nicht getan hat«, sagte ich.
»Und ich wette, er schläft sogar damit«, fügte Harrison hinzu.
»Die Wette verlierst du nicht«, stimmte ich ihm lebhaft bei.
»Er hat das Hemd in der ganzen Zeit noch nicht ein einziges Mal vom Leibe gehabt.«
Aber drei Tage waren alles, was Wolf Larsen dem Koch zugestand, um sich von den Wirkungen der erhaltenen Prügel zu erholen. Am vierten wurde er, noch lahm und wund und kaum imstande, die Augen zu öffnen, beim Kragen gepackt und aus seiner Koje zur Arbeit geschleppt. Er jammerte und weinte, aber Wolf Larsen hatte kein Mitleid.
»Und sieh zu, dass du uns keinen solchen Fraß mehr auftischst«, schärfte er ihm zum Schluss ein. »Kein Fett und keinen Dreck, vergiss das nicht, und hin und wieder ein reines Hemd, oder du wirst gekielholt. Verstanden?«
Thomas Mugridge kroch über den Fußboden der Kombüse, und ein kurzer Stoß der ›Ghost‹ brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Bei dem Versuch, es wieder zu erlangen, fasste er nach der eisernen Stange um den Herd, die die Töpfe am Herunterrutschen hindern sollte, griff aber daneben, und seine Hand landete mit ihrer ganzen Fläche auf der heißen Herdplatte. Es zischte, der Geruch von verbranntem Fleisch verbreitete sich, und er stieß ein Schmerzensgeheul aus.
»O Gott, o Gott, was hab’ ich getan?« wimmerte er, indem er sich auf den Kohlenkasten setzte und vor Schmerz hin und her rückte. »Warum muss ich so schwer geprüft werden, ich, der keiner Fliege je etwas zuleide getan hat?«
Die Tränen rannen über seine geschwollenen, verfärbten Wangen, und sein Gesicht war vor Schmerz verzogen. Ein wilder Ausdruck fuhr darüber hin.
»Oh, wie ich ihn hasse! Wie ich ihn hasse!« knirschte er. »Wen?« fragte ich, aber der arme Wicht weinte wieder über sein Missgeschick. Es war weniger schwer zu erraten, wen er hasste, als wen er nicht hasste. Denn immer mehr sah ich in ihm einen boshaften Teufel, der die ganze Welt hasste. Und manchmal dachte ich, dass er sogar sich selber hasste, so schrecklich und unnatürlich war das Leben mit ihm umgesprungen. In solchen Augenblicken konnte Mitleid in mir aufsteigen, und ich schämte mich, dass ich mich je über seine Niederlage und seine Schmerzen gefreut hatte. Das Leben hatte ihm einen gemeinen Streich gespielt, als es ihn zu dem machte, der er war, und seither spielte es ihm einen gemeinen Streich nach dem anderen. Welche Möglichkeiten hatte er gehabt, anders zu werden, als er geworden war? Und als ob er meine unausgesprochenen Gedanken beantworten wollte, wimmerte er:
»Ich hab’ nie Glück gehabt, nie auch nur das kleinste bisschen Glück! Wer war da, um mich in die Schule zu schicken, mir ein Stück Brot in den hungrigen Schnabel zu stecken oder die blutige Nase zu wischen, als ich noch ein kleiner Junge war? Wer hat je was für mich getan, he? Wer, frage ich?«
»Mach’ dir nichts daraus, Tommy«, sagte ich und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Fass Mut. Am Ende wird noch alles gut. Du hast noch ein langes Leben vor dir und kannst aus dir machen, was du willst.«
»Das ist Lüge! Verdammte Lüge!« schrie er mir ins Gesicht und schleuderte meine Hand fort. »Es ist Lüge, und das weißt du. Ich bin aus Resten und Abfall gemacht. Für dich ist es nicht schwer, Hump. Du bist als feiner Herr geboren. Du hast nie erfahren, was es heißt, sich hungrig in Schlaf zu weinen, während dein Magen knurrt, als ob eine Ratte darin säße. Es kann nicht gut werden. Und wenn ich morgen Präsident der Vereinigten Staaten würde, wie könnte das den Hunger stillen, den ich früher gelitten habe?
Wie könnte es wohl? frage ich. Ich bin für Leiden und Sorgen geboren. Ich habe mehr durchgemacht als zehn andere zusammen, jawohl! Ich habe mein halbes Leben im Krankenhaus gelegen. Ich hatte Fieber in Aspinwall in Havanna, in New Orleans. Ich wäre fast an Skorbut gestorben und faulte sechs Monate daran in Barbados. Pocken in Honolulu, beide Beine gebrochen in Schanghai, Lungenentzündung in Alaska, drei gebrochene Rippen und eine innere Quetschung in Frisco. Und jetzt bin ich hier. Schau mich an! Schau mich an! Meine Rippen wieder vom Rücken losgeprügelt. Ich werde Blut spucken, ehe die Sonne wieder aufgeht. Wie sollte das anders für mich werden? frage ich. Wer sollte es gutmachen? Gott? Ach, Gott muss mich gehasst haben, als er meinen Heuerkontrakt für die Reise durch seine blühende Welt unterschrieb!«
Dieser Ausbruch wider sein Geschick währte eine Stunde oder noch länger, und dann machte er sich, hinkend und stöhnend, und die Augen von Hass gegen die ganze Welt leuchtend, an die Arbeit.
Seine Diagnose war indessen richtig gewesen, denn er wurde von Anfällen gepackt, in denen er Blut brach und starke Schmerzen hatte. Und er schien recht zu haben: Gott hasste ihn zu sehr, um ihn sterben zu lassen, denn er wurde schließlich wieder gesund und war boshafter als je.
Mehrere Tage vergingen noch, ehe Johnson an Deck kroch und mutlos an seine Arbeit ging. Er war noch krank, und mehr als einmal beobachtete ich, wie schmerzhaft es für ihn war, zu einem Toppsegel hinaufzuklettern, und wie er zusammenfiel, wenn er am Steuerrad stand. Aber das Schlimmste war: Sein Mut schien gebrochen. Er kroch vor Wolf Larsen und lag vor Johansen beinahe auf dem Bauche vor Furcht. Anders Leach. Der ging an Deck umher wie ein Tigerjunges und schleuderte offen seine hasserfüllten Blicke auf Wolf Larsen und Johansen.
»Ich werde schon mit dir fertig werden, du plattfüßiger Schwede!« hörte ich ihn eines Nachts auf Deck zu Johansen sagen.
Der Steuermann verfluchte ihn in der Dunkelheit, und im nächsten Augenblick traf irgendein Wurfgeschoss mit scharfem Stoß die Kombüse. Noch einige Flüche ertönten, ein höhnisches Lachen, dann war alles still. Ich stahl mich hinaus und fand ein schweres Messer, das über einen Zoll tief in dem festen Holze steckte. Einige Minuten später kam der Steuermann, tappte herum und suchte es. Aber ich gab es Leach heimlich am nächsten Tage wieder. Er grinste, als ich es ihm reichte, aber in diesem Grinsen lag mehr wahre Dankbarkeit als in dem ganzen Strom schöner Worte von einem meiner eigenen Klasse.
Als einziger von der ganzen Besatzung lebte ich mit allen auf gutem Fuße und stand in aller Gunst. Die Jäger duldeten mich möglicherweise nur, obgleich mich keiner von ihnen hasste. Smoke und Henderson, die als Genesende in Hängematten unter einem über Deck gespannten Sonnensegel lagen, versicherten mir jedoch, ich sei besser als eine Krankenschwester, und sie würden an mich denken, wenn sie am Ende der Reise ihre Löhnung ausbezahlt erhielten. (Als ob ich ihres Geldes bedurft hätte! Ich, der ich den ganzen Schoner mit allem, was an Bord war, hätte kaufen und zwanzigfach bezahlen können!) Aber mir war die Aufgabe zugefallen, ihre Wunden zu pflegen und sie durchzubringen, und ich tat mein Bestes.
Wolf Larsen hatte wieder einen zweitägigen Anfall von Kopfschmerzen. Er musste schrecklich leiden, denn er rief mich zu sich und gehorchte meinen Anweisungen wie ein krankes Kind. Aber ich konnte nichts tun, um ihm Erleichterung zu schaffen. Auf meine Ermahnung rauchte und trank er jedoch nicht. Wieso ein so prachtvolles Tier wie er überhaupt Kopfschmerzen haben konnte, war mir rätselhaft.
»Es ist Gottes Hand, sage ich dir.« Das war Louis’ Auffassung. »Es ist eine Heimsuchung zur Strafe für seine schwarzen Taten, und es wird noch ganz anders kommen, oder – –«
»Oder – –«, forschte ich.
»Oder Gott schläft und versäumt seine Pflicht – obwohl ich das wohl eigentlich nicht sagen dürfte.«
Wenn ich sagte, dass ich mit allen auf gutem Fuße stand, so war das ein Irrtum. Thomas Mugridge fährt nicht nur fort, mich zu hassen, er hat sogar einen neuen Grund für seinen Hass entdeckt. Es dauerte ziemlich lange, bis ich ihn erkannte, aber schließlich wusste ich ihn: Ich war unter einem glücklicheren Stern als ›feiner Herr‹ geboren, wie er sagte.
»Und immer noch kein Toter wieder?« neckte ich Louis, als Smoke und Henderson Seite an Seite in freundschaftlicher Unterhaltung ihren ersten Gang an Deck machten.
Louis betrachtete mich mit einem prüfenden Blick seiner verschmitzten grauen Augen und schüttelte unheilverkündend den Kopf. »Das kommt schon noch, sag’ ich dir, und man wird ein Liedchen davon singen können, wenn’s erst losgeht. Ich spüre es die ganze Zeit, und jetzt fühle ich es so deutlich, wie ich die Takelung in dunkler Nacht fühle. Es ist nahe, ganz nahe.«
»Wer wird der erste?« fragte ich.
»Nicht der dicke alte Louis, das verspreche ich dir«, lachte er. »Denn es steckt mir in den Knochen, dass ich nächstes Jahr um diese Zeit bestimmt in die alten Augen meiner Mutter schauen werde. Nach den fünf Söhnen, die sie bereits der See geschenkt hat, hat sie sich trübe gestarrt.«
»Was wollte er von dir?« fragte Thomas Mugridge mich gleich darauf.
»Er erzählte mir, dass er nach Hause will, um seine Mutter wiederzusehen«, antwortete ich diplomatisch. »Ich hab’ nie eine gehabt«, meinte der Cockney und blickte mit matten, hoffnungslosen Augen in die meinen.
14
Endlich ist mir ein Licht aufgegangen, dass ich die Frauen nie richtig eingeschätzt habe. Obwohl ich nicht in besonderem Maße erotisch veranlagt bin, hatte ich doch nie in einer völlig frauenleeren Atmosphäre gelebt. Mutter und Schwestern waren immer um mich gewesen, und ich hatte ihnen stets zu entrinnen gesucht, denn sie quälten mich bis zur Verzweiflung mit ihrer Sorge um meine Gesundheit und ihren periodischen Einfällen in mein Zimmer, die mein »geordnetes« Durcheinander, auf das ich nicht wenig stolz war, in ein noch größeres, wenn auch dem Auge wohl gefälliges Durcheinander von Unordnung verwandelten. Ich konnte nie etwas wiederfinden, wenn sie mich verlassen hatten. Aber ach, wie willkommen wäre mir jetzt ihre Gegenwart, das Rascheln ihrer Kleider gewesen, das ich so von Herzen verabscheut hatte! Ich bin sicher, dass ich mich, wenn ich je wieder nach Hause kommen sollte, nie wieder über sie ärgern werde. Mögen sie morgens, mittags und abends an mir herumdoktern, Staub wischen und fegen: ich werde nur von meinem Sessel aus still zusehen und dankbar sein, dass ich Mutter und Schwestern habe.
So vieles wundert mich. Wo sind die Mütter dieser zwanzig zusammengewürfelten Männer auf der ›Ghost‹? Es erscheint mir unnatürlich und ungesund, dass sich Männer völlig getrennt von Frauen herdenweise allein durch die Welt treiben sollen. Roheit und Wildheit sind die unvermeidlichen Folgen. Hätten diese Männer um mich Frauen, Schwestern und Töchter, sie würden imstande sein, Sanftmut, Zärtlichkeit und Mitgefühl zu bekunden. Tatsächlich ist nicht einer von ihnen verheiratet. Jahr auf Jahr ist nicht einer von ihnen mit einer guten Frau in Berührung gekommen, hat unter ihrem Einfluss gestanden oder die Erlösung gefunden, die ein solches Geschöpf unweigerlich ausstrahlt. Ihr Leben ist aus dem Gleichgewicht. Ihre Männlichkeit, die schon an sich die eines wilden Tieres ist, hat sich überentwickelt. Die andere, geistige Seite ihres Wesens ist eingeschrumpft – verzehrt.
Es ist eine Gesellschaft von Einsiedlern, die sich scharf aneinander reiben und davon mit jedem Tage hartherziger werden. Mir erscheint es manchmal unglaublich, dass sie Mütter gehabt haben sollen. Es ist fast, als gehörten sie einer Gattung von Halbtieren, Halbmenschen an, einer besonderen, geschlechtslosen Rasse; sie mögen von der Sonne wie Schildkröteneier ausgebrütet oder sonst auf irgendeine Weise zum Leben erweckt sein. Sie müssen ihr ganzes Leben lang in Brutalität und Niedertracht wüten und am Ende ebenso jämmerlich sterben, wie sie gelebt haben.
Diese Gedanken beschäftigten mich, und so sprach ich vergangene Nacht mit Johansen. Es waren die ersten überflüssigen Worte, mit denen er mich seit Beginn der Reise beehrte. Mit 18 Jahren hatte er Schweden verlassen, jetzt ist er 38, und die ganze Zeit war er nicht ein einziges Mal zu Hause. Vor einigen Jahren traf er in einem Seemannsheim in Chile einen Landsmann, und von ihm erfuhr er, dass seine Mutter noch lebte.
»Sie muss jetzt schon eine alte Frau sein«, sagte er, indem er nachdenklich ins Kompaßhaus starrte und dann einen scharfen Blick auf Harrison warf, der einen Strich aus dem Kurs gekommen war.
»Wann haben Sie ihr zuletzt geschrieben?«
Er rechnete laut: »Einundachtzig, nein – – zweiundachtzig, nicht? Nein – – dreiundachtzig – ja, dreiundachtzig. Vor zehn Jahren. Aus einem kleinen Hafen in Madagaskar. Ich fuhr auf einem Handelsschiff. Sehen Sie«, fuhr er fort, als ob er sich über den halben Erdkreis hinweg an seine vernachlässigte Mutter wandte, »jedes Jahr wollte ich heimfahren. Was hatte es da für einen Sinn, zu schreiben? Es dauerte ja nur noch ein Jahr. Und jedes Jahr kam etwas dazwischen, und ich kam nicht nach Hause. Aber jetzt bin ich Steuermann, und wenn ich meine Schulden in Frisco – vielleicht 500 Dollar – abbezahlt habe, dann fahre ich auf einem Segler um Kap Horn nach Liverpool. Damit verdiene ich dann genug für die Überfahrt nach Hause. Dann braucht sie nicht mehr zu arbeiten.« »Arbeitet sie denn jetzt? Wie alt ist sie denn?«
»Um die siebzig«, erwiderte er. Und dann rühmte er sich: »Bei mir zu Hause arbeiten wir von der Geburt bis zum Tode. Daher werden wir so alt. Ich werde hundert.«
Ich werde diese Unterhaltung nie vergessen. Es waren die letzten Worte, die ich ihn sprechen hörte. Vielleicht waren es die letzten, die er überhaupt sprach.
Als ich die Kajüte betrat, war es mir stickig zum Schlafen. Es war eine stille Nacht. Wir befanden uns außerhalb des Bereiches des Passats, und die ›Ghost‹ kam kaum einen Knoten in der Stunde vorwärts. So nahm ich denn eine Decke und ein Kissen unter den Arm und stieg wieder an Deck.
Als ich zwischen Harrison und dem oben auf dem Kajütendach angebrachten Kompaßhaus hindurchschritt, bemerkte ich, dass wir volle drei Strich vom Kurse abgewichen waren. Da ich glaubte, dass der Rudergast schliefe, und ich ihm einen Verweis ersparen wollte, sprach ich ihn an. Aber er schlief nicht. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er vor sich hin. Er schien verwirrt und außerstande zu sein, mir zu antworten. »Was ist denn?« fragte ich. »Bist du krank?«
Er schüttelte den Kopf, und als ob er erwachte, schöpfte er mit einem tiefen Seufzer Atem.
»Du tätest besser, den Kurs zu halten«, schalt ich.
Er griff in die Speichen des Rades, und ich sah, wie sich die Kompaßkarte langsam nach NNW drehte und nach einigen leichten Schwingungen zur Ruhe kam.
Ich nahm mein Bettzeug wieder auf und wollte gerade weitergehen, als eine Bewegung mein Auge fesselte und nach der Reling zurückzwang. Eine sehnige, triefende Hand packte sie. Neben ihr tauchte eine zweite Hand aus der Finsternis auf. Wie verzaubert stand ich da. Was für einen Gast aus der dunklen Tiefe sollte ich sehen? Was für ein Wesen es aber auch sein mochte, so wurde mir jedenfalls klar, dass es mit Hilfe der Logleine an Bord kletterte. Ich sah einen Kopf mit triefendem Haar, dann erschien ein Körper, und nun erkannte ich Augen und Gesicht Wolf Larsens. Seine rechte Backe war rot von Blut, das aus einer Kopfwunde herabfloss.
Mit einer plötzlichen Anstrengung zog er sich an Bord und stand auf den Füßen. Dann warf er einen schnellen Blick auf den Mann am Rade, als wolle er sich überzeugen, wer er sei, und dass von ihm keine Gefahr drohe. Das Seewasser troff von ihm herab mit einem leisen Rieseln, das mich beunruhigte. Als er auf mich zuschritt, wich ich instinktiv zurück, denn ich sah in seinen Augen etwas, das Tod hieß.
»Gut, Hump«, sagte er mit leiser Stimme. »Wo ist der Steuermann?« Ich schüttelte den Kopf.
»Johansen!« rief er leise. »Johansen!«
»Wo ist er?« fragte er Harrison.
Der junge Mann schien seine Fassung wiedererlangt zu haben, denn er antwortete ganz ruhig: »Ich weiß es nicht, Käptn. Vor kurzem sah ich ihn nach vorn gehen.« »Ich war auch vorn. Aber hast du bemerkt, dass ich nicht denselben Weg, den ich ging, wieder zurückkam? Kannst du dir das erklären?«
»Sie müssen über Bord gewesen sein, Käptn.«
»Soll ich im Zwischendeck nach ihm sehen, Käptn?« fragte ich.
Wolf Larsen schüttelte den Kopf. »Sie würden ihn nicht finden, Hump. Aber gehen Sie meinetwegen. Kommen Sie. Lassen Sie Ihr Bettzeug liegen.«
Ich folgte ihm. Nichts regte sich mittschiffs.
»Die verdammten Jäger!« bemerkte er. »Zu dick und faul, um vier Stunden Wache durchzuhalten.«
Auf der Back fanden wir jedoch drei schlafende Matrosen.
Er drehte sie auf den Rücken und blickte ihnen ins Gesicht. Sie bildeten die Deckwache, die Wache selbst pflegte man bei gutem Wetter schlafen zu lassen mit Ausnahme des Offiziers, des Rudergastes und des Mannes im Ausguck.
»Wer hat den Ausguck?« fragte der Kapitän.
»Ich, Käptn«, antwortete Holoyak, einer der Vollmatrosen, mit einem leichten Zittern in der Stimme. »Ich bin diese Minute eingeschlafen, Käptn. Es tut mir leid, Käptn. Es soll nicht wieder vorkommen.«
»Hast du irgend etwas an Deck gehört?«
»Nein, Käptn, ich – –«
Aber Wolf Larsen hatte sich mit einem unzufriedenen Knurren abgewandt, und der Matrose rieb sich die Augen, erstaunt, so leichten Kaufs davongekommen zu sein.
»Still jetzt!« ermahnte mich Wolf Larsen flüsternd, indem er sich bückte und sich anschickte, durch die Luke hinunterzusteigen.
Ich folgte ihm bebenden Herzens. Was geschehen sollte, wusste ich ebensowenig wie, was geschehen war. Aber Blut war geflossen, und Wolf Larsen war nicht selbst auf den Einfall gekommen, mit einem Loch im Kopf über Bord zu klettern. Außerdem fehlte Johansen.
Es war das erstemal, dass ich in die Back hinunterstieg, und ich werde nicht sobald den Eindruck vergessen, den ich empfing, als ich den Fuß auf die Treppe gesetzt hatte. Direkt in den Schiffsraum eingebaut, hatte die Back die Form eines Dreiecks, an dessen Schenkeln die zwölf Kojen in zwei Reihen übereinander angebracht waren. Sie war nicht größer als eine kleine Bodenkammer, und doch mussten zwölf Mann darin essen, schlafen und atmen. Mein Schlafzimmer daheim war nicht groß, aber es hätte gut ein Dutzend derartiger Vorderkastelle, ja, wenn man die Höhe berücksichtigte, das Doppelte fassen können.
Es roch schal und säuerlich, und im Lichte der trüben, hin und her schwingenden Schiffslampe sah ich, dass aller verfügbare Platz bis ins kleinste Eckchen ausgefüllt war mit Seestiefeln, Ölzeug und sauberen und schmutzigen Kleidungsstücken aller Art. Mit jedem Rollen des Schiffes schwang das alles hin und zurück und brachte ein scheuerndes Geräusch hervor, als ob ein Baum sich gegen ein Dach oder eine Wand rieb. Irgendwo stieß ein Stiefel regelmäßig mit lautem Krachen gegen die Wand. Und obgleich es eine ruhige Nacht war, ertönte doch unausgesetzt ein Chor von knarrendem Holz, knirschenden Spanten und unergründlichen Geräuschen unter den Dielen.
Die Schläfer ließen sich nicht stören. Es waren ihrer acht – die beiden unten befindlichen Wachen – die Luft war dick vor Wärme und stinkendem Atem, und das Ohr erfüllte der Lärm ihres Schnarchens, Seufzens und Grunzens, Überbleibsel ihres Tiermenschentums. Aber schliefen sie? Alle? Oder hatten sie geschlafen? Das wollte Wolf Larsen offenbar feststellen; er wollte den finden, der sich nur schlafend stellte oder erst vor kurzem eingeschlafen war. Und er begann die Untersuchung in einer Art, die mich an eine Erzählung des Boccaccio erinnerte.
Er nahm die Lampe aus ihrem schwingenden Halter und reichte sie mir. Bei den beiden ersten Kojen steuerbord begann er. In der oberen lag der Kanake Oofty-Oofty, ein ausgezeichneter Seemann. Er lag auf dem Rücken, schlief fest und atmete so sanft wie eine Frau. Den einen Arm hatte er unter seinen Kopf gelegt, während der andere auf der Decke lag. Wolf Larsen fasste mit Daumen und Zeigefinger sein Handgelenk und fühlte ihm den Puls. Da erwachte der Kanake. Et erwachte ebenso leicht wie er schlief, ohne eine einzige Bewegung seines Körpers. Nur die Augen regten sich. Sie öffneten sich plötzlich ganz weit, groß und schwarz und starrten uns, ohne zu zwinkern, an. Wolf Larsen legte ihm zum Zeichen, dass er schweigen sollte, den Finger auf den Mund, und die Augen schlossen sich wieder.
In der unteren Koje lag Louis, dick, warm und verschwitzt, und schlief einen unverstellbaren, schweren Schlaf. Als Wolf Larsen sein Handgelenk fasste, bewegte er sich unbehaglich und krümmte seinen Körper so, dass er einen Augenblick nur auf Schultern und Fersen ruhte. Seine Lippen bewegten sich, und er murmelte folgende rätselhaften Worte:
»Ein Viertel für einen Schilling, aber biete die Lampen für drei Pence das Stück aus. Sonst hängt sie dir der Wirt für sechs Pence auf.«
Dann drehte er sich mit einem schweren Seufzer auf die Seite und sagte:
»Ein Sechspencestück ist ein Tanner, und ein Schilling ist ein Bob, aber was ein Pony ist, weiß ich nicht.«
Befriedigt schritt Wolf Larsen weiter zu den beiden nächsten Kojen an der Steuerbordseite, in denen, wie wir beim Schein der Lampe sahen, oben Leach und unten Johnson lagen.
Als Wolf Larsen sich zur unteren Koje niederbeugte, um Johnson den Puls zu fühlen, sah ich, der ich aufrecht stand und die Lampe hielt, wie Leach verstohlen den Kopf hob und über den Rand der Koje herabblickte, um zu sehen, was vorging. Er musste wohl die Absicht Wolf Larsens durchschaut und erkannt haben, dass eine Entdeckung unumgänglich war, denn im selben Augenblick wurde mir die Lampe aus der Hand geschleudert, und das Vorderkastell war in Finsternis gehüllt. Gleichzeitig musste er auf Wolf Larsen heruntergesprungen sein.
Das erste nun folgende Geräusch war wie das eines Kampfes zwischen einem Stier und einem Wolfe. Ich hörte ein wütendes Gebrüll von Wolf Larsen und ein Knurren von Leach, das verzweifelt und haarsträubend klang. Johnson muss ihm sofort zu Hilfe gekommen sein, sodass sein untertäniges, kriecherisches Wesen in den letzten Tagen nichts als Verstellung gewesen war. Ich war so entsetzt über diesen Kampf im Dunkeln, dass ich mich zitternd gegen die Treppe lehnte und nicht imstande war, hinaufzugehen. Ich hatte wieder das alte Gefühl in der Magengrube, das mich stets beim Anblick von Gewalttätigkeiten überkam. In diesem Falle konnte ich zwar nichts sehen, aber ich hörte das dumpfe Geräusch der Schläge, den klatschenden Ton, der entsteht, wenn Fleisch auf Fleisch prallt. Dann hörte ich den krachenden Zusammenstoß von Körpern, schwere Atemzüge und kurze rasche Schmerzensausbrüche.
Es mussten sich wohl noch andere an der Verschwörung gegen Kapitän und Steuermann beteiligen, denn aus den verschiedenen Geräuschen erkannte ich, dass Leach und Johnson schnell Verstärkung von ihren Kameraden erhalten hatten.
»Ein Messer her!« schrie Leach.
»Zerschlag ihm den Kopf! Zerquetsch ihm das Gehirn!« rief Johnson.
Aber nach dem ersten Gebrüll machte Wolf Larsen keinen Lärm mehr. Grimmig und stumm kämpfte er um sein Leben. Er war arg in der Klemme. Im ersten Augenblick war er zu Boden geworfen, und es war ihm nicht möglich, wieder auf die Beine zu kommen. Ich fühlte, dass er trotz seiner ungeheuren Kraft keine Hoffnung hatte.
Ich erhielt selbst einen deutlichen Begriff von der Gewalt des Kampfes, denn ich wurde von den umherwirbelnden Körpern zu Boden geschleudert und bös gequetscht. Aber es gelang mir, in der Verwirrung in eine leere Unterkoje zu kriechen, wo ich mich in Sicherheit befand.
»Alle her! Wir haben ihn! Wir haben ihn!« konnte ich Leach rufen hören.
»Wen?« fragten die, welche wirklich geschlafen hatten und jetzt, sie wussten nicht wie, geweckt worden waren. »Den blutigen Steuermann«, antwortete Leach listig. Diese Auskunft wurde mit einem Freudengeheul begrüßt, und jetzt waren sieben starke Mann über Wolf Larsen. Ich glaube, Louis beteiligte sich nicht am Kampfe. Die Back glich einem Bienenstock, dessen wütende Insassen durch einen Eindringling aufgescheucht waren.
»Was ist denn los da unten?« hörte ich Latimer durch die Luke herunterrufen. Er war zu vorsichtig, um in diese Hölle der Leidenschaften herabzusteigen, die er in der Finsternis toben hörte.
»Kann denn niemand ein Messer finden? Ein Messer, ein Messer!« flehte Leach in einem Augenblick verhältnismäßiger Ruhe.
Die große Zahl der Angreifer verursachte Verwirrung. Sie hinderten sich gegenseitig, ihre Kräfte zu entfalten, während Wolf Larsen, der nur ein Ziel kannte, dadurch gewann. Dieses Ziel war, sich bis zur Luke durchzuschlagen. Obgleich völlige Finsternis herrschte, konnte ich durch das Geräusch seine Fortschritte verfolgen. Endlich hatte er die Treppe erreicht, und was er jetzt tat, vermochte nur ein Riese zu tun. Zoll für Zoll zog er sich, allein durch die Kraft seiner Arme, aus dem Haufen von Männern heraus, die ihn umklammert hielten, und richtete sich auf, bis er auf den Füßen stand. Und dann arbeitete er sich, Stufe um Stufe, mit Händen und Füßen die Treppe hinauf.
Das allerletzte sah ich. Denn Latimer, der endlich eine Laterne geholt hatte, hielt sie so, dass sie die Treppe hinableuchtete. Wolf Larsen musste beinahe oben sein, wenn ich ihn auch nicht sehen konnte. Allein sichtbar war der Klumpen von Männern, die sich an ihn klammerten. Der Klumpen zappelte wie eine ungeheure Spinne mit vielen Beinen und schwankte hin und her mit dem Rollen des Schiffes. Aber Zoll um Zoll, mit langen Pausen dazwischen, hob sich der Klumpen. Einmal taumelte er und schien herabzustürzen, aber er gewann den verlorenen Halt wieder und kroch weiter. »Wer ist da?« rief Latimer.
Im Schein der Lampe konnte ich sein bestürztes Gesicht herabblicken sehen.
»Larsen«, hörte ich eine gedämpfte Stimme inmitten des Klumpens.
Latimer streckte die freie Hand herab. Ich sah eine andere Hand emporschnellen und die seine packen. Latimer zog, und die nächsten Stufen wurden im Sturm genommen. Dann streckte sich die andere Hand Wolf Larsens empor und umklammerte den Rand der Luke. Der Klumpen pendelte zurück, und die Treppe war frei, während die Männer noch an dem fliehenden Feinde hingen. Sie begannen abzufallen, einige wurden von dem scharfen Lukenrand abgefegt, andere mit den Füßen fortgestoßen. Leach war der letzte, der losließ. Er fiel kopfüber auf seine am Boden krabbelnden Kameraden. Wolf Larsen und die Laterne verschwanden, und wir blieben im Dunkeln zurück.