Loe raamatut: «Das Unmögliche ist etwas weiter oben»
Impressum
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel “L'impossibile è un po' più su”
Autor: Jacopo Larcher
Libri Illustrati Rizzoli
© 2019 Mondadori Electa S.p.A., Milano
© 2020 Mondadori Libri S.p.A.
© der deutschsprachigen Ausgabe:
egoth verlag GmbH
Untere Weißgerberstr. 63, A-1030 Wien
ISBN: 978-3-903183-43-8
ISBN E-Book: 978-3-903183-84-1
Übersetzung aus dem Italienischen: Anna Maria Söllner
Lektorat: Dr. Rosemarie Konrad
Grafische Gestaltung und Satz: Dipl. Ing. (FH) Ing. Clemens Toscani
Coverbild: © Jacopo Larcher
Bilder: Archiv Jacopo Larcher, Klaus Dell´Orto, Francois Lebeau, Scott Noy, Richard
Felderer/Courtesy The North Face, Elias Holzknecht/Courtesy The North Face,
DamianoLevati/Storyteller-Labs/Courtesy The North Face
Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Rechteinhabers.
1. Auflage im September 2020
JACOPO LARCHER
Das
Unmögliche
ist etwas
weiter oben
Übersetzt von Maria Anna Söllner
Inhalt
Prolog
1Die Schlüssel zur Kletterhalle
2Das Training
3On the Road
4Die Sicht der anderen
5Zeit für Veränderung
6Schwierige Linien, unmögliche Linien …
7Außen heiß, innen kühl
8Die erste Nacht im Yosemite Valley
9Ich packe meinen Rucksack …
10Des Nachts siehst du …
11Leicht werden
12Poesie des Minivans
13Über die Arbeit und andere Freiheiten
14Tribe
Meine Begehungen
Glossar
”Die einzige Konstante im Leben ist der Wandel.
Buddha
Wenn uns etwas Seltsames passiert, etwas, das anders als gewöhnlich oder sogar außergewöhnlich ist, ist es ganz einfach und geradezu natürlich, davon zu erzählen. Wir erinnern uns an die Details, wir „übersetzen“ unsere Eindrücke in Worte. Doch das, was wir tagtäglich erleben, kann derart zur Gewohnheit werden, dass wir fast nicht mehr darüber reden, dass wir seine Bedeutung beinahe nicht mehr klar erfassen können, sosehr halten wir es für selbstverständlich. Wir halten es beinahe für banal. Und doch besteht genau daraus unser Leben, darin sind im Grunde die wichtigsten Elemente des Lebens enthalten.
Klettern ist mein Leben. Und wenn ich von meiner Form des Kletterns spreche, wird das Gespräch manchmal etwas technisch, was schwierig sein kann; andere Male vereinfache ich jedoch zu sehr, mache es zu kurz: „Das war eine schwierige Passage“, sage ich. „Ich dachte, ich würde es nicht schaffen, doch dann …“ Und damit ende ich, vielleicht auch aus Schüchternheit.
„Schade“, machte mich einmal jemand aufmerksam, „denn auf ‚schwierige Passagen‘ stoßen wir alle im Leben, und es könnte nützlich sein zu hören, wie andere sie bewältigt haben. Du hast gesagt, dass du dachtest, es nicht zu schaffen, doch dann … Was ‚doch dann‘? Was hast du gemacht, was hast du gefühlt? Haben dir frühere Erfahrungen geholfen oder eine plötzliche Eingebung, Hartnäckigkeit oder Weisheit, die Muskeln oder das Herz?“
Genau das ist es: Ich möchte meine Erfahrungen so beschreiben, dass es für alle verständlich ist, ich möchte mich auch an diejenigen richten, die vom Klettern wenig oder gar keine Ahnung haben. Denn manchmal habe ich tatsächlich gedacht, es nicht mehr zu schaffen. Und dann habe ich insistiert, dazugelernt, mich verändert: Ich bin meinem Weg gefolgt.
Diejenigen, die dieses Buch lesen werden, gehen möglicherweise überhaupt nicht klettern, aber vielleicht kommt ihnen der Gedanke: „Wenn er durchgehalten hat, warum sollte ich das nicht auch können?“ Genau davon möchte ich erzählen: dass wir alle unserer Leidenschaft (oder auch mehr als nur einer) folgen können, dass Durchhaltevermögen wichtig ist und man sich verändern kann – es genügt, Lust darauf zu haben, die eigene Komfortzone zu verlassen, das Neue zu suchen, sich weiterzuentwickeln, sich nicht um gesellschaftliche Konventionen zu scheren oder um die Rollen, die die Gesellschaft jedem von uns zugedacht hat.
Du triffst die Wahl. Konsequenz und mentale Öffnung bringst du mit. Der Rest geschieht von selbst, wenn du die Herausforderungen, vor die du dich selbst gestellt hast, in Angriff nimmst, wenn du dich genau dort befindest, wo du ganz bewusst sein willst.
Prolog
Winzige Leiste links (halber Daumen auf dem Griff, die andere Hälfte auf dem Nagel des Zeigefingers – man muss möglichst fest zudrücken), rechten Fuß in den Riss, linken Fuß entlasten (ohne auf den Friend zu treten), Körperspannung aufbauen und Richtung Wand ziehen; Zwischengriff rechts von der Kante (aufgestellte Finger), das Becken nach links drehen, Aufleger rechts (Fingerkuppe des Zeigefingers auf dem Kristall); den rechten Fuß weiter nach links setzen, mit dem linken Fuß hoch ansteigen (Fuß eindrehen: hier ist Präzision erforderlich), den rechten Fuß lösen und sich gegen die Wand pressen, Zange/Zwei-Finger-Loch links (Konzentration auf die rechte Hand und den linken Fuß!), Rettungsgriff links.
Es ist ganz klar, was ich dort oben tun muss. Doch das kommt erst gegen Ende. Nun geht es darum, hier unten, am Boden, zu beginnen. Der erste Teil, der auch der einfachste ist, besteht aus einer senkrechten Felswand. Die ersten beiden Sicherungen, ein grauer und ein 0,3er Offset Nut, befinden sich fünf Meter über dem Boden, fast auf derselben Höhe. Es folgen weitere fünf oder sechs Meter, die nicht schwierig sind, nur etwas technisch (7a, 7b): Hier sollte man besser nicht stürzen, denn es besteht die Gefahr, bis ganz nach unten, auf den Boden, zu fallen. Endlich bin ich am Felsband angekommen, wo ich ein paar verlässlichere Sicherungen setze, zwei bombensichere Friends. Unterhalb des kleinen Granitdachs befindet sich ein Ruhepunkt, an dem ich meine Hände nicht brauche. Ich schaue mich um, während ich sie mit Magnesia einreibe: Ich sehe die Baumwipfel, das enge Tal, dort unten die Straße nach Cadarese. Wie oft bin ich schon an dieser Stelle gewesen?
Seit nunmehr sechs Jahren geht mir diese Linie, diese wunderschöne, elegante, perfekte, unmögliche Linie (nein, sie ist nicht unmöglich!) nicht mehr aus dem Kopf. Ich habe sie gereinigt, gebürstet und studiert. Immer, wenn ich einen freien Moment habe, komme ich hierher, um einen Versuch zu machen. „Einen Moment“, das sagt man so dahin: Denn ich bin fast 500 Kilometer von dem Ort, an dem ich wohne, entfernt – auch wenn die Gegend hier für mich inzwischen zu einem zweiten Zuhause geworden ist.
Hier beginnt der schwierige Teil (das Unmögliche ist etwas weiter oben – doch nein, es ist nicht unmöglich!) mit einem ersten sehr kraftigen Blockierer, der eher pressig ist und mit einem Dyno zu einem abgerundeten Riss enden wird. Es ist anstrengend, doch ich kenne es, ich habe es schon probiert. Das Problem besteht – wenn überhaupt – darin, dass man, wenn man an dieser Stelle stürzt, Gefahr läuft, am Felsen aufzuprallen; und das vielleicht sogar, während man kopfvoran nach unten segelt, falls man mit dem Bein im Seil einfädelt. Auch das habe ich schon ausprobiert … Viel besser ist es, ins Leere zu stürzen, doch das wird, wie bis jetzt fast jedes Mal, erst weiter oben passieren. Auf geht’s, packen wir’s an!
Henkel linke Hand, Ferse rechts vom Friend in den Riss (ohne ihn zu berühren!), drehe die Fußspitze, Schulterleiste rechts, Magnesia, trete links auf Reibung an, gewölbte Zange rechts, weiterer Reibungstritt links, Leiste rechts (presse sie fest zusammen!), zieh die Ferse aus dem Riss und mache einen Trittwechsel, Ferse zum Henkel unterhalb des Felsdachs (zieh so stark, wie du kannst, zieh, zieh!), hebe den linken Daumen an, schere das rechte Bein, um das Gleichgewicht zu halten, pendle mit dem Becken nach rechts, Zange mit rechter Hand auf der Quarzader (presse, so fest du kannst), greife sie gut, indem du den Daumen auf den Kristall legst (das tut weh …), verlagere das Gewicht von der Ferse auf die Fußspitze, setze die linke Hand hoch und drücke ganz fest mit dem Knie gegen die abgerundete Rampe, bringe das Becken nah an die Wand, Untergriff links, bringe den Körper (Spannung aufbauen!) nach oben und suche mit der rechten Hand einen Griff unterhalb des Dachs, Dyno zum abgerundeten Riss, dabei versuche, eine Rotation zu vermeiden (und mit den Fingern nicht gegen die überhängende Wand zu prallen).
In den Riss setze ich die letzten beiden Sicherungen, zwei 0,5er Friends (lila). Während ich mich ausruhe, betrachte ich sie aus dem Augenwinkel gründlich, um sicherzugehen, dass sie gut platziert sind. Nun nimmt die Erschöpfung zu, und ein bisschen auch die Spannung, denn wenn ich jetzt stürze, muss ich von vorne anfangen, die Sicherungen entfernen, die ganze Route bis hierher noch einmal machen, und das gerade in dem Moment, in dem der schöne Teil beginnt. Die Erwartungen steigen, ich darf nicht unkonzentriert werden. Ich visualisiere, antizipiere, nehme wahr, was ich auf der Haut spüren werde, wenn ich zum nächsten Griff weiterziehen werde. Ich weiß genau, wie ich mich abstoßen muss, ich weiß, wo ich die Kraft konzentrieren und wie ich das Becken verlagern muss, wie intensiv der Druck des Fußes, die Atmung und die Reibung der Finger auf der Felsoberfläche sein werden (ich kann sogar das Geräusch der Reibung hören), ich weiß, womit ich rechnen kann und was mich leiden lassen wird …
Ich weiß also, was zu tun ist. Es auch zu tun, ist eine andere Geschichte.
Da bin ich also am entscheidenden Punkt, an der Schlüsselstelle der Route, angelangt, zwei aufeinanderfolgende Züge an sehr kleinen, glatten Griffen; ich muss eine abgerundete Leiste mit rechts halten und den linken Fuß sehr hoch setzen – höher, noch höher –, ohne mit dem Druck nachzulassen, sodass ich mit der linken Hand eine kleine Zange erreichen kann, von der aus man sich zu einem guten Griff schwingt: Wenn ich diese Passage schaffe, wird von da an (wie man so schön sagt) alles wie von selbst laufen.
Letztes Mal habe ich mich zu sehr auf die Hand konzentriert und bin mit dem Fuß abgerutscht … Nun, ich mache mich also lang und suche verzweifelt nach dem Riss …
Nichts. Noch einmal verliere ich am Griff den Halt und stürze, ich schreie vor Wut und Enttäuschung und warte darauf, dass das Seil blockiert. Ich pendle in der Luft und schaue mich um, in der Hoffnung, dass mich keiner gehört hat.
Sechs Jahre für eine Route, die keine 30 Meter lang ist und in wenigen Minuten durchstiegen werden könnte. Etwa 30 Züge vielleicht. Doch dieser letzte Abschnitt ist widerspenstig. Es sind zwei Züge, die ich nicht miteinander verbinden kann. Und heute bin ich schon im vierten Versuch, heute kann ich einfach nicht mehr. Ich kehre zum Boden zurück, schaue noch einmal nach oben: Was mache ich hier eigentlich noch?
Was machst du hier eigentlich noch, Jacopo? Du bist nur ein Sturkopf, mach die Augen auf. Sicher ist die Route nicht unmöglich, „nur“ zu hart für dich. Vergeudete Zeit.
Und Zeitverschwendung ist etwas, das ich hasse: Ich sollte aufgeben und zu anderen Dingen übergehen. Wie hat diese sinnlose Geschichte überhaupt begonnen?
”Als Kind habe ich viele Sportarten ausprobiert, doch bei keiner habe ich das gefunden, was mir das Klettern geben konnte, dieses Gefühl von Freiheit, Harmonie und selbst gestellter Herausforderung.
1Die Schlüssel zur Kletterhalle
Vor circa 20 Jahren hat alles seinen Anfang genommen.
Ganz sicher war es ein Samstag, denn das war der Wochentag, der meinem Vater heilig war, der Tag, an dem er mit seiner Gruppe in die Berge ging. Am Sonntag waren wir mit der Familie unterwegs, wir machten Touren, Skifahren im Winter und Wanderungen im Sommer, sehr häufig in den Dolomiten. Doch samstags war Papa dort draußen mit seinen Freunden. Wo und um was zu tun, das wusste ich nicht so genau. Erwachsenenkram jedenfalls. Für mich waren damals die Unterschiede zwischen Skitouren, Klettersteigen, Klettern und Eis recht diffus: Alles klang irgendwie geheimnisvoll und nach Abenteuer. Vielleicht war genau das, dieses unbestimmte und, wer weiß, vielleicht auch gefährliche Etwas, der Grund dafür, dass das Klettern meine Fantasie anregte.
Natürlich mochte ich es, meinem Vater dabei zuzuschauen, wenn er seinen Rucksack packte, und ihm zuzuhören, wenn er bei seiner Rückkehr von seinem Tag berichtete. Doch an jenem bewussten Samstag gegen Ende des Winters – ich war zehn Jahre alt – sagte mein Vater nach dem Abendessen zu mir: „Der CAI (Club Alpino Italiano, der italienische Alpenverein) von Bozen organisiert den ersten Kletterkurs für Kinder.“ Im April sollte der Kurs beginnen. „Ich weiß nicht, ob dich das interessieren würde …“, fügte er hinzu. Ich konnte es kaum glauben. „Natürlich interessiert mich das! Darf ich, darf ich, darf ich?“ Überrascht von dieser Begeisterung stimmten meine Eltern sofort zu. Ich war begeistert, auch wenn der Kurs natürlich in der Kletterhalle und nicht am Felsen stattfinden sollte, doch es war die Gelegenheit, mich dieser Welt, dem Abenteuer, zu nähern.
Nur damit wir uns recht verstehen: Als ich das erste Mal in die kleine Kletterhalle, ins PRAC (Palestra di roccia artificiale coperta), in der Viale Trieste kam, war das für mich alles noch wie ein großes Spiel, wie es in diesem Alter auch ganz richtig ist. Doch dieses neue Spiel, das meine Fantasie so sehr anregte, besaß etwas, das sich von anderen Spielen unterschied, etwas Tiefergehendes und für mich Unerklärliches … etwas von mir. Ich konnte es kaum erwarten, damit zu beginnen.
Als der Moment jedoch endlich kam, musste ich in der ersten Stunde zuschauen, da ich mir ein paar Tage zuvor beim Rollschuhfahren einen Finger gebrochen hatte. Noch etwas Geduld also, ich musste still dasitzen mit meinem dick eingebundenen Finger. Dann durfte auch ich endlich mitmachen. An jenem Tag war ich extrem angespannt, ich erinnere mich an die Angst, dass ich nach so langem Warten enttäuscht sein könnte, und an das Geschrei der anderen Kinder. An die einzelnen Bewegungen kann ich mich jedoch nicht mehr so genau erinnern, nur noch an ein paar Klettergriffe und ihre Farben sowie an meine ersten unbeholfenen, ungenauen Bewegungen. Aber vor allem an dieses Gefühl von Freiheit, als ich nach oben kletterte. Eigentlich vollkommen absurd, dass ich dieses Gefühl hatte, wenn man genau darüber nachdenkt: Denn ich war verschnürt wie ein Paket und wurde vom Trainer buchstäblich nach oben gehievt, und dennoch …
Am Ende der Stunde war ich glücklich: Ich hatte gefunden, wonach ich gesucht hatte. Es war, wie wenn man sehr lange von etwas geträumt oder auf etwas gewartet hat, und es dann, wenn man es endlich bekommt, genau so ist, wie man es sich vorgestellt hatte. Das passiert nicht so oft, oder? Doch, wenn es geschieht, hat es etwas Magisches. Genau.
Von jenem Nachmittag an wurde das Klettern Teil meines Lebens. Nachdem der Kurs beendet war, meldete ich mich sofort für den Folgekurs an. Inzwischen ging auch mein Vater dorthin, sodass ich weitere zwei- bis dreimal pro Woche in die Kletterhalle kam, bis ich mich irgendwann für zwei am selben Wochentag stattfindende Kurse anmeldete: Auch wenn man immer wieder dieselben Dinge tat, war es für mich eine Möglichkeit, mehr Zeit mit dem Klettern zu verbringen, das Einzige, was mich inzwischen noch interessierte. Warum? Keine Ahnung. In keiner anderen Sportart habe ich dieses Gefühl von Freiheit, Harmonie und selbst gestellter Herausforderung gefunden, dieses Zum-Gipfel-gelangen-Müssen, bei dem man dem eigenen Instinkt und der eigenen Vorstellungskraft folgt und sich dabei nur auf die eigenen Kräfte verlässt …
Es waren Gefühle, die ich noch nie erlebt hatte, es war für mich so unmittelbar und natürlich, dass ich die Gründe für dieses „Verliebtsein“ nie so genau erforscht habe. Aber ich weiß noch, dass, sobald ich mich in der Wand festhielt, die Welt um mich herum versank.
Nicht, dass ich die Einsamkeit gesucht hätte (schon gar nicht in dieser chaotischen, vollkommen überfüllten Kletterhalle), doch nach einer Art Seifenblase schon: Das Klettern schirmte mich vom Rest der Welt ab.
Ich war sehr schüchtern – und das bin ich immer noch ein bisschen. Ich war als Kind immer introvertiert gewesen und mochte es noch nie, Beziehungen mit zu vielen Menschen zu haben. Vor allem habe ich es immer schon gehasst, meine Handlungen vor anderen rechtfertigen zu müssen. Vielleicht habe ich mich deswegen immer von Mannschaftssportarten ferngehalten – von einer kurzen Fußballphase einmal abgesehen (was für mich allerdings weniger ein Spiel als vielmehr ein Albtraum war, doch offenbar stellt es in unserer Gesellschaft eine unvermeidliche Station im Leben dar …).
Kurz gesagt, es fiel mir schwer, mich mit anderen Kindern auseinanderzusetzen. Es war keine Angst, sondern eher das Gefühl, Abstand zu brauchen: Ich verbrachte gerne viel Zeit allein. Und in der Wand in der Kletterhalle musste ich mit niemandem in Beziehung treten. Sagen wir es einmal so: Anfangs war das Klettern eine Fluchtmöglichkeit für mich. Langfristig, glaube ich, hat es mir jedoch sogar dabei geholfen, meine Schüchternheit zu überwinden: Durch das Klettern bin ich auf Reisen gegangen, habe neue Orte und Leute kennengelernt, Projekte geplant und bin für die Welt und für andere offen geworden; dadurch musste ich sogar in der Öffentlichkeit sprechen – was anfangs ein Schock für mich war.
Damals als kleiner Junge war mir natürlich nicht bewusst, inwiefern das, was ich tat, mein Leben beeinflussen würde. Ich hatte weder Ambitionen noch Erwartungen, ich wollte einfach nur Spaß haben.
Die Kletterhalle in Bozen war schlecht beleuchtet. Die Lampen, Gerüche und Geräusche … daran erinnere ich mich noch ganz genau, obwohl ich schon seit zehn Jahren nicht mehr dort gewesen bin. Diese Orte sahen damals typischerweise ganz anders aus als die glitzernden, sauberen Kletterhallen von heute. Früher waren das enge, nach Gummi, Beton und Fels stinkende Räume (und auch nach Schweiß und Schimmel, seien wir ehrlich), die mit dem Ziel entstanden waren, dass man dort trainieren konnte, um dann hinauszugehen und draußen die Früchte des Trainings anzuwenden. Auch aus diesem Grund achtete man nicht so sehr auf die Ästhetik.
Ein Teil der Halle bestand aus Dolomia-Steinen, die Bergsteiger vom Sellapass hierhergebracht hatten (zumindest hat man es mir so erzählt, wer weiß, ob es wahr ist; die Vorstellung hat jedoch etwas). Dann gab es dort eine glatte Betonwand, in der diejenigen trainierten, die „technisch“ kletterten, und darüber hatte man eine Kletterwand aus Holz gebaut. Auf einen Blick konnte man die gesamte Entwicklung dieser Disziplin sehen (erinnern wir uns daran, dass die Bozener Kletterhalle die erste ihrer Art in Italien war). Doch wer durch die Metalltür trat, hatte eher den Eindruck, eine alte Fabrikhalle zu betreten: Obwohl die Kletterhalle klein war, konnte man nicht bis ganz hinten sehen, so viel Staub war in der Luft. Es war bestimmt kein besonders gesundes Ambiente, doch ich war damals so auf mein Ziel fokussiert, dass ich das gar nicht wahrnahm, umso weniger, weil alles, was mich umgab, „verschwand“, sobald ich zu klettern begann. Als ich Jahre später wieder dorthin kam, habe ich mich gefragt, wie ich dort drinnen Hunderte von Stunden verbringen konnte, indem ich an dieser winzigen Wand ohne Pause Runde um Runde drehte.
In diesen meinen ersten Jahren, während der Mittelschule bis zum Beginn der weiterführenden Schule, gingen wahrscheinlich nur ein paar meiner Altersgenossen klettern. Die meisten von ihnen hatten keinerlei Vorstellung davon, was ich wirklich machte, sie stellten sich mich wahrscheinlich mit Eispickel oder Handschuhen vor. Und wie es so oft geschieht: Das, was man nicht kennt oder nicht versteht, wird verlacht, man distanziert sich davon (nur selten ist das Andersartige beliebt). Sicher, wenn ich Fußball gespielt hätte, wäre es einfacher gewesen … Vielleicht ist „verlacht“ nicht das richtige Wort: Sagen wir, dass ich nicht besonders ernst genommen wurde. Das Lustige ist, dass in letzter Zeit viele meiner ehemaligen Klassenkameraden mit dem Klettern angefangen haben, da es heute in Mode ist. Heute sind sie also in der Wand – und wer weiß, ob sie sich noch an diese Zeit erinnern.
Ich war so unermüdlich und begeistert, dass mir irgendwann der Leiter der Kletterhalle ganz heimlich die Schlüssel gab: Nun konnte ich kommen und gehen, wann und wie ich wollte.
Wie wahrscheinlich deutlich geworden ist, hatte ich anfangs kein genaues Ziel vor Augen, außer so viel wie möglich zu klettern, da es das war, was mich glücklich machte. Schon nach einem Jahr blieb ich oft jeden Nachmittag fünf oder sechs Stunden in der Kletterhalle unter dem Gelächter von denjenigen, die mich fragten: „Bist du immer noch hier? Bist du nicht müde? Hast du keine Hausaufgaben auf?“ Zugegebenermaßen, doch, ich war todmüde und zu Hause warteten die Hausaufgaben auf mich, aber … ich konnte nicht aufhören!
Dann kam mit der Zeit in mir der Wunsch auf, besser zu werden und mehr Kraft zu entwickeln. Ich verschlang Kletterfilme, blätterte Fachzeitschriften durch und irgendwann hatte ich sogar meine eigenen Vorbilder, wie Peter Mair, den starken und immer lächelnden Bergführer aus dem Pustertal, der ab und zu in der Kletterhalle vorbeikam und mich seine Routen versuchen ließ … All das spornte mich an und ließ mich davon träumen, auch eines Tages diese Dinge vollbringen zu können. Ich hatte also ein Ziel! Gut, dachte ich: Nachdem das Ziel fixiert war, war der einfachste Weg, es zu erreichen, sich an die Geräte zu hängen, also: zu trainieren! Doch wie? Was wusste ich mit elf, zwölf Jahren schon davon, wie man trainiert? Da ich nicht viele Personen kannte, die ich fragen konnte (oder vielmehr: da ich es nach meiner eigenen Vorstellung machen wollte), beschloss ich, dass die beste Art des Trainings darin bestand, mich anzustrengen und noch mehr anzustrengen. Je mehr mich etwas erschöpfte, desto mehr Nutzen würde es mir bringen. Oder?