Loe raamatut: «Nur eine kleine Insel»

Font:

Jamaica Kincaid

Nur eine kleine Insel

Aus dem Englischen von Ilona Lauscher

Kampa

Für Brian und Veronica Dyde,

für meine Brüder Joseph, Dalma und Devon Drew, in Liebe,

und (erneut) für William Shawn, in Dankbarkeit und Liebe

Wenn Sie als Tourist nach Antigua kommen, sehen Sie Folgendes: Wenn Sie per Flugzeug anreisen, landen Sie auf dem V.C. Bird International Airport. Vere Cornwall (V.C.) Bird ist der Premierminister von Antigua. Vielleicht sind Sie die Art von Tourist, die sich fragt, warum ein Premierminister Wert darauf legt, dass ein Flughafen nach ihm benannt wird. Warum sollte denn nicht eine Schule oder ein Krankenhaus oder irgendein großes Denkmal seinen Namen tragen? Sie sind Tourist, und Sie haben bis jetzt weder eine Schule in Antigua gesehen noch das Krankenhaus von Antigua und auch kein Denkmal in Antigua. Wenn sich Ihr Flugzeug im Landeanflug befindet, sagen Sie vielleicht: »Antigua ist aber eine schöne Insel!« Sie kommt Ihnen schöner vor als irgendeine von den anderen Inseln, die Sie gesehen haben, und die waren schon sehr schön, auf ihre Art; sie waren jedoch viel zu grün, und der üppige Pflanzenwuchs verriet Ihnen, dem Touristen, dass es dort ziemlich viele Niederschläge gab. Regen ist aber genau das, was Sie jetzt nicht brauchen können, denn Sie denken an die harten und kalten und dunklen und langen Tage, die Sie in Nordamerika (oder noch schlimmer, in Europa) damit verbracht haben, durch Ihre Arbeit das Geld zu verdienen, das Ihnen den Aufenthalt hier (in Antigua) ermöglicht, wo die Sonne immer scheint und wo das Klima so herrlich heiß und trocken ist während der vier bis maximal zehn Tage, die Sie hier zu verbringen gedenken. Da Sie nun mal im Urlaub sind und da Sie ein Tourist sind, dürfen Sie sich niemals Gedanken machen, wie es denn für jemanden aussieht, der tagein, tagaus in einem Land leben muss, das ständig unter Dürre leidet und deshalb mit jedem Tropfen Wasser sehr sparsam umgehen muss – und dies in unmittelbarer Nähe eines Meeres und eines Ozeans, nämlich der Karibik auf der einen Seite und des Atlantiks auf der anderen.

Sie steigen aus dem Flugzeug. Sie gehen durch den Zoll. Da Sie Tourist sind, ein Nordamerikaner oder Europäer (offen gesagt: ein Weißer) und kein Schwarzer aus Antigua, der aus Europa oder Nordamerika zurückkehrt und seinen Verwandten Pappkartons voller dringend benötigter Billigbekleidung und Lebensmittel mitbringt, gehen Sie rasch und unbekümmert durch den Zoll. Ihr Gepäck wird nicht durchsucht. Nach der Zollabfertigung gelangen Sie hinaus in heiße, saubere Luft; sofort fühlen Sie sich gereinigt, augenblicklich spüren Sie, dass ein Segen auf Ihnen ruht (Sie kommen sich als etwas Besonderes vor), Sie fühlen sich frei. Sie erblicken einen Mann, einen Taxifahrer. Sie bitten ihn, Sie an Ihr Ziel zu bringen. Er nennt einen Preis. Sie denken sofort, der Preis sei in der Landeswährung, denn Sie sind ein Tourist und kennen sich in diesen Dingen (Wechselkurse) aus; Sie fühlen sich sogar noch freier, denn alles scheint so billig zu sein, doch da sagt Ihr Fahrer zum Schluss: »In US-Dollar.« Daraufhin Sie: »Oho! Haben Sie eine amtliche Preisliste dabei mit den Gebühren für die jeweiligen Bestimmungsorte?« Ihr Fahrer unterwirft sich dem Gesetz und zeigt Ihnen das Blatt; er entschuldigt sich für den unglaublichen Fehler, der ihm unterlaufen ist, als er einen Preis aus der Luft griff, der so gewaltig zu seinen Gunsten von der Gebührentabelle abweicht. Dieser Taxifahrer fährt Sie in seinem funkelnagelneuen, in Japan hergestellten Fahrzeug zu Ihrem Hotel. Die betreffende Straße ist sehr schlecht und äußerst reparaturbedürftig. Sie fühlen sich prima, deshalb sagen Sie: »Ach, das ist mal was anderes, auf solchen schlechten Straßen zu fahren. Eine schöne Abwechslung nach den tollen Autobahnen, die ich aus Nordamerika gewöhnt bin!« (Oder, noch schlimmer, aus Europa.) Ihr Fahrer ist rücksichtslos, er ist ein gefährlicher Mensch, der mitten auf der Straße fährt, wenn er glaubt, dass es keinen Gegenverkehr gibt; er überholt andere Autos bergauf in unübersichtlichen Kurven, er fährt mit hundert Sachen auf schmalen, kurvenreichen Straßen, wenn das Verkehrszeichen, ein verrostetes, verbeultes Überbleibsel aus der Kolonialzeit, bloß sechzig Stundenkilometer erlaubt. Das könnte Ihnen Angst einjagen (Sie machen Urlaub, Sie sind Tourist), das könnte aber auch ein Nervenkitzel für Sie sein (Sie machen Urlaub, Sie sind Tourist). Wenn Sie jedoch aus New York stammen und hin und wieder Taxis nehmen, sind Sie mit diesem Fahrstil vertraut: Die meisten Taxifahrer in New York kommen aus Weltgegenden wie dieser hier. Sie schauen aus dem Fenster (man möchte was bekommen für sein Geld) und stellen fest, dass alle Autos weit und breit nagelneu oder fast nagelneu und durchweg japanischer Herkunft sind. Es gibt keine amerikanischen Autos in Antigua, jedenfalls keine neuen; keine, die in den letzten zehn Jahren hergestellt worden sind. Sie schauen sich weiter die Autos an und sagen sich: Komisch, die sehen nagelneu aus, aber sie haben einen schrecklichen Klang, gerade wie ein altes Auto – wie eine uralte Klapperkiste. Wie kommt das? – Nun, das liegt eventuell daran, dass man für diese nagelneuen Autos, deren Motoren für unverbleites Benzin gebaut worden sind, verbleiten Kraftstoff verwendet. Ob das der Fall ist, sollten Sie aber die betreffenden Fahrer nicht fragen, denn diese haben noch nie im Leben von bleifreiem Benzin gehört. Sie schauen sich ein Auto genauer an und stellen fest, dass es ein japanisches Modell ist, das Sie ungern kaufen würden: Es ist ein sehr teures Modell, ein Wagentyp, der ziemlich unpraktisch ist für jemanden, der so hart arbeiten muss wie Sie und der jeden Pfennig dreimal umdreht, damit er sich den Urlaub leisten kann, den Sie gerade machen. Wie können die sich bloß so ein Auto leisten? Und wohnen die auch in einer dem Wagen entsprechenden Luxusvilla? – Das tun sie nicht. Es wird Sie also überraschen, wenn Sie sehen, dass die Besitzer dieser nagelneuen, mit falschem Benzin betankten Autos normalerweise in Häusern wohnen, deren Niveau weit unter dem des Wagentyps liegt. Sollten Sie dann nach dem Grund fragen, würde man Ihnen sagen, dass die Banken von der Regierung dazu ermuntert werden, Kredite für Autos bereitzustellen und bei der Finanzierung von Häusern Zurückhaltung zu zeigen. Sollten Sie abermals nach dem Grund fragen, würde man Ihnen mitteilen, dass die beiden größten Autovertretungen in Antigua teilweise oder ganz Regierungsmitgliedern gehören. Aber bitte sehr, Sie sind ja im Urlaub, und der Anblick dieser nagelneuen Autos mit Fahrern, die eine ordentliche Führerscheinprüfung hinter sich haben oder auch nicht (es gab einmal einen Skandal um erkaufte Führerscheine), ließe bei Ihnen derartige Gedanken wohl gar nicht erst entstehen. Sie fahren an einem Gebäude vorbei, das in einem Meer von Staub steht, und Sie denken: Toiletten für Passanten. Aber wenn Sie erneut hinschauen, sehen Sie an dem Gebäude die Beschriftung PIGGOTT’S SCHOOL. Sie fahren am Krankenhaus vorbei, dem Holberton-Hospital, und darüber denken Sie unvorsichtigerweise gar nicht nach: Was passiert, wenn bei einem Touristen wie Ihnen, der hier Urlaub macht, das Herz ein paar Schläge aussetzt? Was passiert, wenn Ihnen am Hals ein Blutgefäß platzt? Was geschieht, wenn einer von denen, die jene funkelnagelneuen, mit falschem Benzin betankten Autos fahren, es mal nicht schafft, sicher zu überholen, wenn er bergauf in eine Kurve fährt und Sie in dem Auto sitzen, das aus der Gegenrichtung kommt? Wird es Sie beruhigen zu erfahren, dass das Krankenhaus über Ärzte verfügt, denen kein Einheimischer traut? Dass die Antiguaner über ihre Ärzte immer nur sagen »Sie sollen mir bloß nicht zu nahe kommen!«? Dass die Einheimischen sie nicht als Ärzte bezeichnen, sondern als »die drei Männer« (es gibt ihrer drei)? Dass der Minister für das Gesundheitswesen, wenn es ihm selbst nicht gut geht, das erstbeste Flugzeug nach New York besteigt, um zu einem richtigen Arzt zu gehen? Dass ein jeder Minister nach New York fliegt, wenn er medizinische Betreuung braucht?

Es trifft sich gut, dass Sie Ihre eigenen Bücher mitgebracht haben, denn Sie könnten nicht so einfach in die Bibliothek gehen und welche ausleihen. Antigua hatte einmal eine vorzügliche Bibliothek, doch das Gebäude wurde »beim Erdbeben« beschädigt (jeder redet so darüber: »beim Erdbeben«. Wir Antiguaner, und ich gehöre ja zu ihnen, haben ein feines Gespür für historische Ereignisse; je bedeutungsvoller das Geschehen, desto unbedeutender machen wir es). Das war im Jahr 1974, und kurz darauf wurde an der Vorderfront des Gebäudes ein Schild angebracht:

Dieses Gebäude wurde

beim Erdbeben von 1974 beschädigt.

Reparaturarbeiten beginnen in Kürze.

Das Schild hängt nach über einem Jahrzehnt immer noch dort mit seinem unerfüllten Versprechen der Instandsetzung. Sie könnten es als eine Schrulle dieser Insulaner ansehen, dieser Abkömmlinge von Sklaven: Was für eine merkwürdige, ungewöhnliche Zeitauffassung sie doch haben! REPARATURARBEITEN BEGINNEN IN KÜRZE – und da hängt es noch nach vielen Jahren, aber vielleicht sind in einer zwölf Meilen langen und neun Meilen breiten Welt (das sind die Ausmaße von Antigua) zwölf Jahre und zwölf Minuten und zwölf Tage ein und dasselbe. Die Bibliothek gehört zu jenen prachtvollen alten Gebäuden aus der Kolonialzeit, und das Schild mit der Ankündigung der Reparaturarbeiten ist ein prachtvolles altes Schild aus der Kolonialzeit. Nicht lange nach dem Erdbeben wurde Antigua von Großbritannien unabhängig und somit ein selbstständiger Staat. Die Antiguaner sind so stolz darauf, dass sie jedes Jahr zur Feier des Tages in die Kirche gehen und Gott, einem britischen Gott, dafür danken. Aber Sie sollten nicht an die Verwirrung denken, die all dies in sich birgt, und Sie dürfen schon gar nicht an die beschädigte Bibliothek denken. Sie haben Ihre eigenen Bücher mitgebracht, und unter ihnen befindet sich eines jener neuen Bücher über Wirtschaftsgeschichte, eines von den Werken, die erläutern, wie der Westen (das bedeutet Europa und Nordamerika nach seiner Eroberung und Besiedelung durch die Europäer) reich geworden ist: Der Westen ist nicht durch die freie (frei bedeutet in diesem Fall: umsonst zu haben) und damals über Generationen hinweg unterbewertete Arbeitskraft von Leuten meinesgleichen reich geworden, die Sie in Antigua herumlaufen sehen, sondern durch die Findigkeit kleiner Ladenbesitzer in Sheffield und Yorkshire und Lancashire und wo auch immer. Es wird auch erwähnt, was für eine bedeutende Rolle die Erfindung der Armbanduhr dabei spielte, denn es gab nichts, was edel gesinnte Menschen nicht tun konnten, als sie entdeckt hatten, dass sie die Zeit einfach so an ihrem Handgelenk anbinden konnten. (Das bringt nun doch das Fass zum Überlaufen: Wir mussten nicht nur die entsetzliche Sklaverei ertragen, jetzt wird uns auch noch diese Genugtuung genommen: »Euch Schweinehunde haben wir reich gemacht!«) Und deshalb dürfen Sie ja nicht das leicht komische Gefühl, das Sie von Zeit zu Zeit beim Gedanken an Ausbeutung, Unterdrückung und Beherrschung befällt, komplett in Unbehagen und Verdruss ausarten lassen, denn damit könnten Sie sich den Urlaub versauen. Sie sind schließlich nicht verantwortlich für das, was Sie haben; Sie schulden ihnen nichts, Sie haben ihnen sogar einen großen Gefallen getan, dafür können Sie hundert Beispiele anführen. Also, jetzt sind Sie da und schlendern am Regierungssitz vorbei. Jetzt sind Sie da und schlendern am Büro des Premierministers und am Parlamentsgebäude vorbei und an der höher gelegenen Amerikanischen Botschaft, die eine herrliche Aussicht auf den Hafen von St. John’s hat. Wenn Sie nicht wären, gäbe es gar keinen Regierungssitz, kein Premierministerbüro, kein Parlamentsgebäude und keine Botschaft des mächtigen Landes. Nun kommen Sie an einer Villa vorbei, einem außergewöhnlichen, im Farbton alten Kuhmistes gestrichenen Haus, das über so viele Schüsseln und Antennen verfügt, wie man sie nicht einmal an der Amerikanischen Botschaft zu Gesicht bekommt. Die Leute, die in diesem Haus wohnen, gehören zu einer Kaufmannsfamilie, welche vor weniger als zwanzig Jahren aus dem Nahen Osten nach Antigua kam. Anfangs hausierten die Familienmitglieder in Antigua mit Textilien; sie bewahrten sie in Koffern, die sie huckepack umhertrugen. Heute gehört ihnen ein großer Teil der Insel; sie leihen der Regierung regelmäßig Geld, sie bauen riesige (für antiguanische Verhältnisse), hässliche Betonbauten in Antiguas Hauptstadt St. John’s, die die Regierung daraufhin für Unsummen mietet. Ein Mitglied dieser Familie ist der antiguanische Botschafter in Syrien; die Antiguaner hassen sie. Nicht weit von dieser Villa steht noch eine; sie ist das Heim eines Drogenschmugglers. Jeder weiß, dass er Drogen schmuggelt, und sollte er ausgerechnet in dem Moment, in dem Sie dort vorbeifahren, über seine Schwelle treten, dann könnte es sein, dass Ihr Fahrer auf ihn hinweist als den berühmt-berüchtigten bunten Hund, der er ist. Dieser Drogenschmuggler ist nämlich so reich, dass er dem Vernehmen nach Autos im Zehnerpack kauft – zehn von diesem Typ, zehn von jenem. Er soll ein komplett ausgestattetes Haus (eine weitere Villa) in der Nähe von Five Islands gekauft haben, und zwar mit dem Bargeld, das er in einem Koffer bei sich hatte: Dreihundertfünfzigtausend amerikanische Dollar, wobei er zur Überraschung des Hausverkäufers immer noch eine Menge amerikanische Dollar übrig hatte. Oberhalb der Schmugglervilla gibt es noch eine Villa; dorthin führt die gepflegteste Straße von ganz Antigua. Sie übertrifft sogar die Straße, die im Jahr 1985 eigens für den Besuch der Königin hergerichtet wurde (als die Königin kam, erhielten alle Straßen, die sie befahren würde, einen neuen Belag, denn bei ihr sollte der Eindruck entstehen, eine Autofahrt in Antigua sei etwas Schönes). In dieser Villa wohnt eine Frau, die in Antigua von den Menschen, die sich den Schein von Welterfahrung und Raffinesse geben, Evita genannt wird. Sie ist eine berühmt-berüchtigte Frau. Sie ist jung und schön, außerdem die Freundin eines hohen Tiers in der Regierung. Evita ist berühmt-berüchtigt, weil sie dank ihres Verhältnisses mit diesem wichtigen Staatsdiener zur Besitzerin von Boutiquen und Grundstücken wurde, ein Mitspracherecht bei Kabinettssitzungen erhielt und allerlei weitere Privilegien, die einer schönen jungen Frau kraft ihrer Beziehungen zustehen.

Ach, Sie haben ja mittlerweile genug gesehen und wollen ans Ziel kommen – ins Hotel, in Ihr Zimmer. Sie möchten sich gern frisch machen, Sie sehnen sich nach einem schönen Hummergericht und nach landestypischer Küche. Sie nehmen ein Bad, Sie putzen sich die Zähne. Beim Ankleiden schauen Sie aus dem Fenster. Dieses Wasser – haben Sie je so etwas gesehen? Weit draußen, zum Horizont hin, ist das Wasser marineblau. In der Mitte hat das Wasser die Farbe des nordamerikanischen Himmels, und von dort bis zur Küste ist es blass, silbern, klar, so klar, dass Sie den rosaweißen Sandgrund erspähen können. Ach, wie schön! Ist das schön! Noch nie haben Sie so etwas gesehen, Sie sind ganz aufgeregt. Sie atmen flach, Sie atmen tief. Sie erblicken einen hübschen Jüngling, der auf einem Surfbrett übers Wasser gleitet, einem Gotte gleich. Sie sehen eine unglaublich unattraktive, fette Frau, eine pastetenähnliche Fleischmasse, bei ihrem genüsslichen Spaziergang auf dem schönen Sand zusammen mit einem Mann, einem unglaublich unattraktiven, fetten Mann, einer pastetenähnlichen Fleischmasse. Sie sehen, wie sie sich an ihrer Umwelt ergötzen. Noch immer am Fenster stehend, sehen Sie sich schon selbst am Strand liegen, die erstaunliche Sonne genießend (eine so mächtige und doch so herrliche Sonne, wie sie immer am Himmel steht, gleichsam ständig Wache haltend, bereit, jegliche Wolke zu verscheuchen, die es wagen sollte, dunkler zu werden und sodann Regen auf Sie herunterrinnen zu lassen und Ihnen den Urlaub zu verderben; eine Sonne, die immer für Sie persönlich da ist). Sie sehen sich selbst an diesem Strand spazieren gehen; Sie sehen, wie Sie neue Bekanntschaften schließen (leider sind sie nur in sehr beschränktem Maße neu, denn die Menschen gleichen Ihnen wie ein Ei dem anderen). Sie sehen sich, wie Sie köstliche landestypische Speisen genießen. Sie sehen sich selbst, Sie sehen sich selbst … Sie dürfen sich ja nicht fragen, was mit dem Inhalt der Kloschüssel passiert ist, als Sie die Spülung betätigten. Sie dürfen sich nicht fragen, wohin Ihr Badewasser geflossen ist, als Sie den Stöpsel herausgezogen haben. Sie dürfen sich nicht fragen, was passiert ist, als Sie sich die Zähne putzten. Ach, alles könnte sehr wohl in das Wasser gelangen, in dem Sie zu schwimmen gedenken. Der Inhalt Ihrer Kloschüssel könnte unter Umständen sanft Ihre Knöchel streifen, während Sie unbeschwert im Wasser herumwaten, denn in Antigua gibt es eben kein richtiges Abwasserbeseitigungssystem. Aber die Karibik ist sehr groß und der Atlantik sogar noch größer; selbst Sie wären verblüfft, wenn Sie erführen, wie viele schwarze Sklaven dieser Ozean verschlungen hat. Wenn Sie sich niederlassen, um Ihr köstliches Mahl einzunehmen, ist es wohl besser, Sie wissen nicht darüber Bescheid, dass das meiste von dem, was Sie erwartet, aus Miami eingeflogen worden ist. Und wo hatte es sich wohl befunden, ehe es in Miami in ein Flugzeug geschafft wurde? Ein guter Tipp wäre: Es kam ursprünglich von einem Fleckchen wie Antigua, wo es spottbillig angebaut werden kann, um dann nach Miami zu gelangen und retour. Was da alles dahintersteckt, kann ich jetzt nicht erläutern.

Was Sie hinsichtlich Ihres Touristendaseins schon immer befürchtet haben, stimmt genau: Ein Tourist ist ein hässlicher Mensch. Sie sind nicht die ganze Zeit ein hässlicher Mensch; Sie sind gewöhnlich kein hässlicher Mensch; Sie sind im Alltag kein hässlicher Mensch. Im täglichen Leben sind Sie ein netter Mensch. Im Alltagsleben werden Sie von allen, die Sie lieben sollten, im Großen und Ganzen geliebt. Wenn Sie im Alltagsleben eine geschäftige Straße entlanggehen in der großen, modernen und blühenden Stadt, in der Sie leben und arbeiten, sind Sie entsetzt und verwirrt (ein Klischee, aber nur ein Klischee kann Sie fassen), wie allein Sie sich in dieser Menschenmasse fühlen, wie furchtbar es ist, nicht bemerkt zu werden, wie schrecklich, nicht geliebt zu werden, sogar wenn mehr Menschen um Sie herum sind, als Sie in einem Jahrtausende währenden Leben je kennenlernen könnten. Dann sehen Sie aus dem Augenwinkel, wie jemand Sie anschaut mit allen Anzeichen größten Entzückens, und da merken Sie, dass Sie kein dermaßen widerliches Wesen sind, wie Sie glauben (denn dieser Blick hat es Ihnen soeben mitgeteilt). Deshalb sind Sie gewöhnlich ein netter Mensch, ein attraktiver Mensch, ein Mensch, der die Zuneigung anderer Leute auf sich zu ziehen versteht (von Ihresgleichen), ein Mensch, der sich in seiner eigenen Haut zu Hause fühlt (sozusagen, ich meine, in bestimmter Weise; ich meine, Ihre Gefühle von Entsetzen und Verwirrung sind für Sie natürlich, weil Menschen wie Sie einfach so zu sein scheinen, und daher ist wohl vieles, was Leute wie Sie bewundernswert an sich finden – die Dinge, über die Sie nachdenken, und die Dinge, die Sie Ihrer Meinung nach wirklich ausmachen – in diesen Gefühlen verwurzelt). Ein Mensch auch, der sich im eigenen Haus heimisch fühlt (und in all seinem schönen Hausrat), auch in dem netten Garten (mit all den netten Gartenutensilien), heimisch auf Ihrer Straße, in Ihrer Kirche, in Ihren Gemeindeaktivitäten, in Ihrem Beruf, zu Hause mit Ihrer Familie, Ihren Verwandten, Ihren Freunden – Sie sind ein ganzer Mensch. Doch eines Tages, wenn Sie irgendwo sitzen, allein in dieser Menschenmenge, und dieses furchtbare Gefühl der Heimatlosigkeit Sie befällt, wo Sie doch als gewöhnlicher Mensch nicht unbedingt die Gabe haben, tief in Ihr Inneres hineinzuschauen und sich selbst zurechtzurücken, zumal die gewöhnliche Existenz schon strapaziös genug ist und Sie bis aufs Letzte fordert, da kommen die Worte »Ich muss weg von hier!« zwar nicht tatsächlich über Ihre Lippen, aber Sie machen einen Sprung. Sie sind nicht mehr ein putziges Klümpchen, das dusselig im Fruchtwassersack moderner Welterfahrung sitzt. Nun sind Sie ein Mensch, der das Werk des Todes und der Zerstörung besichtigt und dem dieser Anblick belebend und anregend vorkommt. Und dann sind Sie ein Mensch, der an einem fernen Strand liegt; Ihr zum Schweigen gebrachter Körper liegt stinkend und glänzend im Sand und sieht aus wie etwas, das zuerst vergessen wurde, dann wieder in Erinnerung kam, jedoch nicht für so wichtig gehalten wurde, dass man deswegen umkehren müsste. Und dann sind Sie ein Mensch, der staunt über das harmonische Verhältnis (normalerweise würden Sie es als Rückständigkeit bezeichnen) dieser anderen Leute (und es sind in der Tat andere Leute) zur Natur. Und Sie schauen sich die Sachen an, die diese Leute aus einem Stofffetzen machen können, die sie aus billigem, (was Sie betrifft) vulgär bunten Garn herstellen. Sie sehen, wie sie über einem Loch hocken, das sie im Boden gemacht haben; schon das Loch gibt Grund zum Staunen, und da Sie gerade ein hässlicher Mensch sind, wird dieser hässliche, aber auch freudige Gedanke in Ihnen entstehen: Die Vorfahren von denen da waren nicht so raffiniert wie die Ihrigen und auch nicht so rücksichtslos, sonst befänden Sie sich nämlich in Harmonie mit der Natur und wären auf jene charmante Weise rückständig. Zu etwas Hässlichem werden Sie, wenn Sie Tourist werden, zu hässlichem, leerem, dummem Zeug, zu einem Stück Abfall, das mal hier und mal da innehält, um hier etwas anzuglotzen und dort etwas zu kosten. Es wird Ihnen nie in den Sinn kommen, dass die Bewohner des Ortes, an dem Sie sich gerade aufhalten, Sie nicht ausstehen können, dass sie hinter verschlossenen Türen über Ihre seltsame Art lachen (Sie sehen nicht so aus wie sie). Ihr Erscheinungsbild gefällt ihnen nicht; Sie haben schlechte Manieren (bei ihnen ist es Sitte, mit den Fingern zu essen; bei dem Versuch, es genauso zu machen, sehen Sie blöd aus, und wenn Sie versuchen, so zu essen wie immer, sehen Sie blöd aus). Ihre Art zu sprechen gefällt denen nicht (Sie haben einen Akzent); sie lachen sich schief, wenn sie nachäffen, was Sie vermutlich für ein Bild abgeben bei einem alltäglichen körperlichen Vorgang. Sie mögen Sie nicht. Sie mögen mich nicht! Dieser Gedanke ist Ihnen noch nie in den Sinn gekommen. Dennoch fühlen Sie sich ein bisschen unbehaglich. Dennoch kommen Sie sich ein bisschen dumm vor. Dennoch fühlen Sie sich etwas fehl am Platz. Aber die Banalität Ihres eigenen Lebens haben Sie klar vor Augen: Von ihr wurden Sie dazu getrieben, Ihre Tage und Nächte in der Gesellschaft von Leuten zu verbringen, die Sie verachten und die Sie selbst nicht unbedingt mögen, bei Leuten, die Sie nicht in Ihrer unmittelbaren Nachbarschaft haben möchten. Daher müssen Sie sich bemühen, erst einmal herauszufinden, was denn wirklich dran ist an dem, was man Ihnen erzählt (Ist mattgeschliffenes Flaschenglas in Erdnusssoße wirklich eine Delikatesse in dieser Gegend, oder wird es einfach das bewirken, was Sie von mattgeschliffenem Flaschenglas erwarten? Ist dieser seltene, bunte Fisch mit dem rüsselförmigen Maul wirklich ein Aphrodisiakum, oder wird er Sie in immerwährenden Schlaf versetzen?). Ach, was für eine harte Arbeit das alles ist! Wen wundert es also, dass Sie nach Ihrer Rückkehr erst einmal eine lange Verschnaufpause nötig haben, damit Sie sich erholen können von Ihrem Leben als Tourist?

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