Loe raamatut: «Achtsam durch den Tag»
Jan Chozen Bays
Achtsam
durch den Tag
53 federleichte Übungen zur Schulung der Achtsamkeit
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Stephan Schuhmacher
Titel der Originalausgabe How to Train a Wild Elephant & Other Adventures in Mindfulness Erschienen bei Shambhala Publications, Inc., Boston, MA, USA www.shambhala.com © 2011 by Jan Chozen Bays Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Stephan Schuhmacher
7. Auflage 2018
© 2011 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Oberstdorf
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Guter Punkt GmbH & Co. KG, München
Bildquelle Cover: Servikos/shutterstock
Satz und Layout: Marx Grafik und ArtWork
Gesetzt aus der Adobe Garamond
ISBN 978-3-86410-024-6
eISBN 978-3-86410-361-2
Inhalt
Einführung
Was ist Achtsamkeit und warum ist sie wichtig?
Die Vorteile der Achtsamkeit
Missverständnisse über Achtsamkeit
Eine Gebrauchsanweisung für dieses Buch
1Die nichtdominante Hand benutzen
2Keine Spuren hinterlassen
3Füllwörter
4Die eigenen Hände wahrnehmen
5Beim Essen nur essen
6Wahre Komplimente
7Auf die Körperhaltung achten
8Dankbarkeit am Ende des Tages
9Auf Klänge lauschen
10Jedes Mal, wenn das Telefon klingelt
11Liebevolle Berührung
12Warten
13Ein Medien-Fasten
14Liebevolle Augen
15Im Geheimen Gutes tun
16Nur drei Atemzüge
17In neue Räume eintreten
18Auf Bäume achten
19Lassen Sie die Hände ruhen
20Ja sagen
21Die Farbe Blau sehen
22Die Fußsohlen
23Leerer Raum
24Ein Bissen nach dem anderen
25Endloses Verlangen
26Das Leiden studieren
27Alberne Gänge
28Wasser
29Nach oben sehen
30Abgrenzen und Verteidigen
31Gerüche bemerken
32Diese Person könnte heute Nacht sterben
33Hitze und Kälte
34Die große Erde unter Ihnen
35Abneigung bemerken
36Übersehen Sie etwas?
37Der Wind
38Zuhören wie ein Schwamm
39Wertschätzung
40Zeichen des Alterns
41Pünktlich sein
42Dinge aufschieben
43Ihre Zunge
44Ungeduld
45Angst
46Achtsames Autofahren
47Tief in die Nahrung hineinsehen
48Licht
49Ihr Magen
50Werden Sie sich Ihrer Mitte bewusst
51Liebende Güte für den Körper
52Lächeln
53Die Dinge besser hinterlassen, als wir sie vorgefunden haben
Sitzmeditation für Anfänger
Literaturempfehlungen
Über die Autorin
Einführung
Oft höre ich Menschen sagen: „Ich würde ja gern Achtsamkeit praktizieren, aber ich habe so viel zu tun, dass ich einfach keine Zeit dafür habe.“
Die meisten Menschen glauben, Achtsamkeit sei etwas, das sie irgendwie in einen schon übervollen Terminplan mit Beruf, Kindererziehung und Hausarbeit hineinquetschen müssten. Doch Achtsamkeit zu einem Teil Ihres Lebens zu machen, hat in Wirklichkeit mehr von einem Spiel wie ‚Verbinden Sie die Punkte‘ oder einem ‚Malen nach Zahlen‘. Erinnern Sie sich an jene Malvorlagen, auf denen jeder Teilbereich mit einer Zahl markiert war, die Ihnen sagte, welche Farbe Sie hier verwenden sollten? Ein hübsches Bild trat langsam hervor, indem Sie zuerst alle braunen, dann alle grünen und alle blauen Felder ausmalten.
Achtsamkeit zu üben, ist etwas ganz Ähnliches. Sie beginnen mit einem kleinen Teilbereich Ihres Lebens – sagen wir mit der Weise, wie Sie ans Telefon gehen. Wann immer es klingelt, halten Sie erst einmal inne, bevor Sie den Anruf annehmen, um drei langsame, tiefe Atemzüge zu nehmen. Sie machen dies etwa eine Woche lang, bis es zu einer Gewohnheit geworden ist. Dann fügen Sie eine weitere Achtsamkeitsübung, wie etwa das aufmerksame Essen, hinzu. Haben Sie diese Form der Präsenz in Ihr Leben integriert, fügen Sie eine weitere hinzu. Allmählich sind Sie dann im Alltag zunehmend präsent und aufmerksam. Die erfreuliche Erfahrung eines erwachten Lebens beginnt sich zu entwickeln.
Die Übungen in diesem Buch verweisen auf viele unterschiedliche Bereiche in Ihrem Leben, die Sie mit den warmen Farben einer offenherzigen Achtsamkeit ausfüllen können. Ich bin Meditationslehrerin und lebe in einem Zen-Kloster in Oregon. Ich bin aber auch Kinderärztin, Ehefrau, Mutter und Großmutter, und deshalb weiß ich sehr wohl, wie anstrengend und herausfordernd der Alltag sein kann. Viele dieser Übungen habe ich als Hilfe entwickelt, um inmitten des Ablaufs eines geschäftigen Lebens wacher, glücklicher und entspannter zu werden. Jetzt biete ich diese Sammlung all jenen an, die gern präsenter sein und die kleinen Momente des Lebens stärker genießen möchten. Um wieder Friede und Gleichgewicht in Ihr Leben zu bringen, müssen Sie nicht einen Monat lang in ein Kloster oder in eine Meditationsklausur gehen. Sie stehen Ihnen schon jetzt offen. Die tägliche Achtsamkeitsübung wird Ihnen helfen, Erfüllung und Befriedigung in ebendem Leben zu finden, das Sie jetzt führen.
Was ist Achtsamkeit und warum ist sie wichtig?
Unter Forschern, Psychologen, Ärzten, Erziehern, aber auch in der allgemeinen Öffentlichkeit hat das Interesse an Achtsamkeit während der letzten Jahre enorm zugenommen. Es gibt inzwischen eine Menge wissenschaftlicher Forschungsergebnisse, die die Vorteile der Achtsamkeit für die körperliche und geistige Gesundheit belegen. Doch was genau meinen wir mit „Achtsamkeit“?
Hier ist die Definition, die ich gern verwende:
Achtsamkeit bedeutet, dem, was um Sie herum und in Ihnen geschieht – in Ihrem Körper, Herzen und Geist –, bewusst die volle Aufmerksamkeit zu schenken. Achtsamkeit ist Aufmerksamkeit ohne Kritik und ohne Urteil.
Manchmal sind wir achtsam und manchmal nicht. Ein gutes Beispiel ist das Achten auf Ihre Hände am Steuer eines Autos. Erinnern Sie sich an Ihre erste Fahrstunde und daran, wie der Wagen damals in Schlangenlinien vorankam, während Ihre Hände das Steuer ungeschickt hin und her drehten, korrigierten und überkorrigierten. Sie waren hellwach und ganz und gar auf die Mechanik des Autofahrens konzentriert. Nach einer Weile lernten Ihre Hände dann, richtig zu steuern und automatisch feine Korrekturen vorzunehmen. Sie vermochten den Wagen flüssig voranrollen zu lassen, ohne noch bewusst auf Ihre Hände zu achten. Sie konnten gleichzeitig lenken, reden, essen und Radio hören.
Dies ist ein Beispiel für eine Erfahrung, die wir alle bereits gemacht haben – die des Fahrens, während wir auf Autopilot geschaltet haben. Sie suchen nach den Schlüsseln, öffnen die Autotür, setzen vorsichtig aus der Auffahrt zurück und … fahren in die Parkgarage am Arbeitsplatz. Aber Moment mal! Was passierte mit den dreißig Kilometern und vierzig Minuten, die zwischen Ihrem Haus und dem Arbeitsplatz liegen? Waren die Ampeln rot oder grün? Ihr Geist hat in irgendeinem angenehmen oder auch betrüblichen Bereich Ferien gemacht, während Ihr Körper Ihr Gefährt geschickt durch den fließenden Verkehr und Wartezeiten an roten Ampeln manövriert hat, bis Sie plötzlich an Ihrem Bestimmungsort wieder aufgewacht sind.
Ist das etwas Schlechtes? Es ist nicht schlecht in dem Sinne, dass Sie sich deshalb schämen oder schuldig fühlen sollten. Wenn Sie in der Lage sind, seit Jahren auf Autopilot zur Arbeit zu fahren, ohne einen Unfall zu bauen, dann ist das eine reife Leistung! Wir könnten jedoch sagen, dass es traurig ist. Verbringen wir nämlich viel Zeit, in der unser Körper eine Sache tut, während unser Geist woanders Ferien macht, so bedeutet dies, dass wir für einen guten Teil unseres Lebens nicht präsent sind. Und sind wir nicht präsent, dann haben wir dauernd ein vages Gefühl des Unbefriedigtseins. Dieses Gefühl der Unzufriedenheit, einer Kluft zwischen uns selbst und allen anderen Dingen und Menschen, ist eines der Grundprobleme des menschlichen Lebens. Es führt zu jenen Momenten, in denen uns ein Gefühl tiefen Zweifels und abgrundtiefer Einsamkeit durchfährt.
Der Buddha nannte dies die „Erste Wahrheit“: die Tatsache, dass jeder Mensch irgendwann diese Not erfährt. Natürlich gibt es in unserem Leben auch viele glückliche Momente, doch wenn unsere Freunde nach Hause gegangen sind, wenn wir einsam oder müde sind oder wenn wir uns enttäuscht, traurig oder betrogen fühlen, dann tauchen die Unzufriedenheit und das Unglücklichsein wieder auf.
Wir alle versuchen es mit rezeptfreien Heilmitteln – mit Essen, Drogen, Sex, Überarbeitung, Alkohol, Kino, Einkaufen, Spielen –, um das Leiden des gewöhnlichen Lebens als Menschenwesen zu lindern. Alle diese Heilmittel funktionieren für eine Weile, aber die meisten von ihnen haben Nebenwirkungen – wie etwa Schulden, einen Filmriss, Inhaftierung oder den Verlust von jemandem, den wir lieben –, und damit vergrößern sie auf lange Sicht unser Leiden nur noch.
Die Packungsbeilage dieser rezeptfreien Heilmittel besagt: „Nur zur vorübergehenden Linderung von Symptomen geeignet. Wenn die Symptome anhalten, suchen Sie einen Arzt auf.“ Im Laufe vieler Jahre habe ich ein verlässliches Heilmittel zur Linderung des immer wieder auftretenden Unbehagens und Unglücklichseins gefunden. Ich habe es mir selbst und vielen anderen Menschen verschrieben – mit ausgezeichneten Ergebnissen. Es ist die regelmäßige Übung von Achtsamkeit.
Viele der Unzufriedenheiten mit dem Leben werden verschwinden und viele einfache Freuden werden auftauchen, wenn wir lernen, für die Dinge, so wie sie sind, präsent zu sein.
Sie haben bereits Augenblicke der achtsamen Aufmerksamkeit erlebt. Jeder Mensch kann sich wenigstens an eine Gelegenheit erinnern, bei der er vollkommen wach war und alles klar und lebendig wurde. Wir nennen diese Momente Gipfelerfahrungen. Es kann dazu kommen, wenn wir etwas ungewöhnlich Schönes oder Beeindruckendes erfahren, wie etwa die Geburt eines Kindes oder den Tod eines geliebten Menschen. Es kann auch geschehen, wenn unser Auto ins Schleudern gerät. Die Zeit verlangsamt sich, während wir beobachten, ob es zu einem Unfall kommt oder nicht. Aber es muss gar nichts Dramatisches sein. Es kann während eines gewöhnlichen Spaziergangs dazu kommen, wenn wir um eine Ecke gehen und plötzlich alles für einen Augenblick leuchtet.
Was wir Gipfelerfahrungen nennen, sind Zeiten, zu denen wir vollkommen wach sind. Unser Leben und unsere Aufmerksamkeit sind nicht voneinander getrennt, sie sind eins. In diesen Momenten schließt sich die Kluft zwischen uns und allem anderen und das Leiden verschwindet. Wir fühlen uns zufrieden. Tatsächlich sind wir jenseits von Zufriedenheit und Unzufriedenheit. Wir sind gegenwärtig. Wir sind Gegenwart. Wir erhalten eine vielversprechende Kostprobe von dem, was die Buddhisten das erleuchtete Leben nennen.
Diese Momente verblassen unweigerlich und schon sind wir wieder getrennt – und sauer darüber. Wir können das Eintreten von Gipfelerfahrungen oder Erleuchtung nicht erzwingen. Das Werkzeug der Achtsamkeit kann uns jedoch helfen, die Lücken zu schließen, die unser Unglücklichsein verursachen. Achtsamkeit vereinigt unseren Körper, unser Herz und unseren Geist und bringt sie in gesammelter Aufmerksamkeit zusammen. Wenn wir auf diese Weise vereinigt sind, wird die Schranke zwischen „Ich“ und „alles andere“ immer durchlässiger, bis sie in einem einzigen Augenblick verschwindet! Für eine Weile, manchmal nur für einen kurzen Moment, aber gelegentlich auch für ein ganzes Leben, ist alles ganz, ist alles heilig und in Frieden.
Die Vorteile der Achtsamkeit
Die Übung von Achtsamkeit hat viele Vorzüge. Forschungen über das Glücklichsein, die Brown und Ryan an der Universität von Rochester angestellt haben, haben gezeigt, dass „Menschen mit großer Achtsamkeit exemplarisch sind für Menschen, die geistig gesund sind sowie blühen und gedeihen“. Achtsamkeit ist gut gegen alle Erkrankungen Ihres Herzens, Ihres Geistes und sogar Ihres Körpers. Aber glauben Sie mir das nicht nur, weil ich es gesagt habe. Versuchen Sie es für ein Jahr mit den Übungen in diesem Buch und finden Sie heraus, wie sie Ihr Leben verändern.
Hier sind einige der Vorteile der Achtsamkeit, die ich entdeckt habe:
1. Achtsamkeit spart Energie
Zum Glück können wir lernen, Aufgaben fachgerecht zu erledigen. Bedauerlicherweise erlaubt uns diese Fähigkeit jedoch, dabei unbewusst zu werden. Bedauerlich ist dies deshalb, weil wir einen großen Teil unseres Lebens versäumen, sobald wir unbewusst werden. Wenn wir „auschecken“, dann wandert unser Geist gern zu einem von drei Orten: der Vergangenheit, der Zukunft oder dem Land der Phantasie. Diese drei Bereiche besitzen außerhalb unserer Vorstellung keinerlei Realität. Genau hier, wo wir sind, ist der einzige Ort, an dem, und genau jetzt ist die einzige Zeit, zu der sich unser Leben abspielt.
Das Vermögen des menschlichen Geistes, sich an die Vergangenheit zu erinnern, ist eine einzigartige Gabe. Es hilft uns, aus unseren Irrtümern zu lernen und eine unvorteilhafte Ausrichtung unseres Lebens zu verändern. Schwenkt unser Geist jedoch zurück in die Vergangenheit, dann beginnt er oft, endlos über zurückliegende Fehler nachzugrübeln. „Hätte ich nur dieses gesagt …, dann hätte sie bestimmt jenes gesagt …“ Unglücklicherweise scheint unser Geist uns für dumm zu halten. Er bringt unsere Fehler der Vergangenheit immer wieder aufs Tapet, wiederholt dabei ständig seine Beschuldigungen und Kritik.
Nie würden wir 250-mal bezahlen, um uns denselben schmerzvollen Film anzusehen, doch wir lassen zu, dass unser Geist eine unangenehme Erinnerung immer und immer wieder abspielt, und wir erfahren dabei jedes Mal dieselbe Scham und dieselbe Bekümmerung. Nie würden wir ein Kind 250-mal an einen kleinen Fehler, den es gemacht hat, erinnern, aber wir lassen zu, dass unser Geist immer weiter die Vergangenheit heraufbeschwört und unser kleines inneres Wesen Scham und Wut aussetzt. Es sieht so aus, als fürchtete unser Geist, noch einmal einem Fehlurteil, der Unwissenheit oder Unachtsamkeit zum Opfer zu fallen. Er scheint uns nicht für klug zu halten – klug genug, um aus einem Fehler zu lernen und ihn nicht zu wiederholen.
Dummerweise bringt ein angsterfüllter Geist mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gerade das hervor, was er am meisten fürchtet. Dem ängstlichen Geist ist nicht klar, dass er nicht für die Gegenwart wach ist, wenn er uns in Tagträume und Bedauern über die Vergangenheit verstrickt. Sind wir nicht fähig, präsent zu sein, dann neigen wir dazu, wenig weise und geschickt zu handeln. Es ist wahrscheinlich, dass wir dann genau das tun, was unser Geist befürchtet.
Die Fähigkeit des menschlichen Geistes, für die Zukunft vorauszuplanen, ist eine weitere unserer einzigartigen Gaben. Sie stellt uns eine Landkarte und einen Kompass zur Verfügung, nach denen wir steuern können. Dies verringert die Wahrscheinlichkeit, dass wir falsch abbiegen und einen langen Umweg machen werden. Sie vergrößert die Wahrscheinlichkeit, dass wir unser Lebensende zufrieden mit unserem Lebensweg und mit dem, was wir geschafft haben, erreichen.
Unglücklicherweise versucht unser Geist in seiner Sorge um uns, Pläne für eine riesige Zahl von möglichen Zukünften zu machen, von denen die meisten niemals eintreten. Diese ständigen Bocksprünge in die Zukunft sind eine Verschwendung unserer mentalen und emotionalen Energie. Die beste Vorbereitung auf die unbekannte Zukunft besteht darin, einen vernünftigen Plan zu machen und dann auf das zu achten, was eben jetzt geschieht. Dann können wir das, was auf uns zufließt, mit einem klaren, flexiblen Geist und mit offenem Herzen begrüßen. Dann sind wir bereit und fähig, unsere Pläne zu verändern und sie der Realität des Augenblicks anzugleichen.
Der Geist liebt es ebenfalls, Ausflüge in das Reich der Phantasie zu unternehmen, indem er einen inneren Film eines neuen und anderen Ichs kreiert – eines berühmten, schönen, machtvollen, talentierten, erfolgreichen, reichen und geliebten Ichs. Das Vermögen des menschlichen Geistes zu phantasieren ist etwas Wunderbares; es ist die Grundlage all unserer Kreativität. Es macht es uns möglich, uns neue Erfindungen vorzustellen, neue Kunstwerke und Kompositionen zu schaffen, neue wissenschaftliche Hypothesen aufzustellen und Pläne für etwas zu entwerfen, das von einem neuen Haus bis zu neuen Kapiteln unseres Lebens reichen kann. Unglücklicherweise kann das auch zu einer Flucht werden – einer Flucht vor allem, was am gegenwärtigen Augenblick unangenehm ist, einer Flucht aus der Angst vor dem Nichtwissen um das, was gegenwärtig auf uns zukommt, einer Flucht vor der Furcht, dass der nächste Moment (oder die nächste Stunde oder das nächste Jahr) uns Schwierigkeiten oder den Tod bringen könnte. Unablässiges Phantasieren und Tagträumen ist etwas anderes als zielgerichtete Kreativität. Kreativität entsteht daraus, dass der Geist in Neutralität verweilt, sodass er sich klären kann und eine saubere Leinwand entsteht, auf der neue Ideen, Gleichungen, Gedichte, Melodien oder farbenfrohe Pinselstriche entstehen können.
Gestatten wir es dem Geist, in der Gegenwart zu ruhen, voll von dem, was tatsächlich genau jetzt geschieht, und ziehen wir ihn ab von wiederholten fruchtlosen, unsere Energie aufzehrenden Ausflügen in die Vergangenheit, die Zukunft und in Phantasiewelten, dann tun wir etwas sehr Wichtiges. Wir erhalten die Energie des Geistes. Er bleibt frisch und offen, bereit, auf alles zu reagieren, was in ihm auftaucht.
Das mag sich trivial anhören, aber das ist es keineswegs. Gewöhnlich ruht unser Geist nie. Selbst während der Nacht ist er aktiv und erzeugt aus einer Mischung aus unseren Ängsten und den Ereignissen unseres Lebens Träume. Wir wissen, dass unser Körper ohne Verschnaufpausen nicht funktionieren kann, deshalb gönnen wir ihm jede Nacht wenigstens ein paar Stunden, in denen er sich hinlegen und ausruhen kann. Wir vergessen jedoch, dass auch unser Geist Ruhephasen braucht. Er findet sie im gegenwärtigen Moment, in dem er sich niederlassen und sich dem Fluss der Ereignisse überantworten kann.
Die Übung der Achtsamkeit erinnert uns daran, unsere Energie nicht für Reisen in die Vergangenheit und die Zukunft zu vergeuden, sondern immer wieder an ebendiesen Ort zurückzukehren und in dem zu ruhen, was genau jetzt geschieht.