Loe raamatut: «Heimkehr»

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Jan Eik

Heimkehr

Kappes 19. Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Jan Eik, geboren 1940 als Helmut Eikermann, lebt als freiberuflicher Autor und Publizist in Berlin. Er schrieb eine Vielzahl von Sachbüchern, Kriminalromanen und -erzählungen sowie Hör- und Fernsehspielen. Bei Jaron erschienen von ihm u. a. «Schaurige Geschichten aus Berlin» (Neuausgabe 2013) sowie zwei humorvolle kleine Bücher zu den Besonderheiten der heimatlichen Sprache («Berliner Jargon», 2009; «DDR-Deutsch», 2010). Vor allem aber verfasste er mehrere Bände für die Krimiserien des Jaron Verlags: für die «Berliner Mauerkrimis» («Am Tag, als Walter Ulbricht starb», mit Horst Bosetzky, 2010), «Es geschah in Berlin» (zuletzt: «Polnischer Tango», 2012), «Es geschah in Preußen» (zuletzt: «Attentat Unter den Linden», mit Uwe Schimunek, 2012) und «Es geschah in Sachsen» («Katzmann und das schweigende Dorf», 2011).

Originalausgabe

1. Auflage 2013

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

© 2013 Jaron Verlag GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

ISBN 9783955520182

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelseite

Impressum

SEPTEMBER 1946

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

OKTOBER 1946

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

NACHBEMERKUNG

Es geschah in Berlin …

SEPTEMBER 1946
EINS

DURCH DIE WIPFEL der Kiefern flimmerte die Morgensonne. Die Luft roch nach Wald und Pilzen. Was für ein Tag! Der erste Tag in seinem neuen Leben. Er atmete tief und fühlte sich wie berauscht. Der fast vergessene Geruch drohte ihn zu überwältigen, so stark erinnerte er ihn an die Kindheit. Es schien ihm, als sei er mit den Eltern zum Baden hierher gefahren. Der Müggelsee lag gar nicht weit entfernt. Das Wasser und die sanften Wellen – ein Genuss aus einem anderen, sehr weit entfernten Leben. Wie lange war er nicht geschwommen? Würde er trotz seiner Verletzungen noch das gleiche Vergnügen daran haben?

Er war versucht, seinem Begleiter zuzurufen, er wolle erst mal zum See. Das war natürlich Unsinn. Sie hatten ein Ziel, das zu erreichen ihm schwer genug fiel. Der andere war ihm immer ein paar Schritte voraus. Bei aller Mühe gelang es ihm kaum, dessen Tempo mitzuhalten. Dieser überraschend aufgetauchte Cousin war in besserer körperlicher Verfassung als er.

Er riss sich zusammen und schlurfte weiter. Märkische Heide, märkischer Sand, summte es in seinem Kopf. Das stumpfsinnige Lied und den Sand hatte er während der gnadenlosen Ausbildung zur Genüge kennengelernt – und hassen gelernt. Mit knapp 20 hatten sie ihn zum Kommiss geholt und geschunden. Im nächsten Monat wurde er 27 Jahre alt. Ein Viertel seines bisherigen Lebens war er gezwungen gewesen, die Uniform zu tragen, deren schäbige Reste seinen ausgemergelten Körper umschlotterten.

Das war jetzt alles gleichgültig. Er war frei. Solange seine Kraft reichte, konnte er gehen, wohin er wollte. Dabei zog es ihn nirgendwohin. Er war zu Hause angekommen, wie immer dieses Zuhause in der zerbombten Stadt auch aussah. In halb Europa war er während dieses gottverfluchten Krieges gewesen. Er hatte sich in Norwegen zwei Finger erfroren und im italienischen Apennin einen Hitzschlag erlitten, bis ihn der Schrecken aller Schrecken ereilte: die Ostfront. In seinen Träumen heulte die Stalinorgel, rasselten die Panzer auf ihn zu. Wie lange würde es dauern, bis er das alles vergessen konnte?

Hinter ihm lagen zwei Jahre Gefangenschaft. Nachdem die Russen ihn nach den Kämpfen in Ostpreußen schwer verwundet aufgesammelt und zu seinem Glück in einem Lazarett abgeliefert hatten, wäre er dort beinahe von den Läusen aufgefressen worden. Er erwies sich als zäh, und seine Wunden verheilten, so dass man ihn in ein Gefangenenlager schickte, wo er den Hunger kennenlernte. Bis vor zwei Wochen hatte er die Tage in der Ungewissheit verbracht, ob er nicht doch noch mit einem der nach Osten gehenden Transporte verschwinden würde wie Tausende andere. Dann war der Zug gen Westen gerollt. Sie hatten ihn tatsächlich entlassen.

Er sog die Waldluft ein, als hätte er seit Jahren keine frische Luft geatmet. Seit gestern sah die Welt ganz anders aus. Was für ein friedliches Bild! Er hatte überlebt – nach all den Jahren in fremder, oft genug feindlicher Verlorenheit, wo einen das Unglück in der nächsten Minute ereilen konnte. Anfangs hatte es Zeiten gegeben, in denen es gar nicht schlecht aussah. In Holland beispielsweise. Am Ende jedoch, als niemand mehr wusste, ob der Ort, den man brennend verließ, sich noch in Russland oder in Polen befand, bevor das Grauen auf Ostpreußen übergriff, drohten nur noch Zerstörung und der alltäglich gewordene Tod.

Jetzt war beinahe alles gut. Die Begrüßung hatte er sich etwas herzlicher vorgestellt. Ein kühles «Willkommen» eben. Kein Wunder nach alldem, was hinter jedem lag. Alles würde sich einrenken, dessen war er sicher. Allein der Anfang schien wunderbar: Sie waren auf dem Weg, einen Festbraten zur Feier seiner Heimkehr zu beschaffen. Es gab noch glückliche Fügungen. Er war gerade zur rechten Zeit erschienen. Der Förster, ein guter Bekannter, hatte ein Wildschwein geschossen!

Nach seinen Erfahrungen mit den Russen erstaunte ihn, dass es in deren Besatzungsbereich Deutsche gab, die Waffen besaßen.

«Russischer Sektor» hieß das hier in Berlin. Ringsum erstreckte sich die «Zone». Er musste das neue Kauderwelsch lernen, doch es gab Wichtigeres. Zuerst einmal kamen das Essen, die Lebensmittelkarten, von denen jeder sprach. Obwohl ihm Klamotten beinahe ebenso wichtig erschienen. Er brauchte bloß an sich herunterzublicken. Die Schuhe bestanden nur aus Fetzen. Die vom Cousin großzügig angebotenen Stoffschuhe hatten sich als zu klein erwiesen.

Er durfte nicht ungeduldig werden. Eines nach dem anderen. Vor allem musste er sich nach Arbeit umsehen, so schwach er sich auch fühlte.

Sein Begleiter blieb stehen.

«Ist was?», fragte er.

Der Cousin schüttelte den Kopf. Mit prüfendem Blick maß er ein vier Finger dickes Eichenstämmchen, rüttelte daran und bog es weit nach allen Seiten. Das junge Holz brach nicht. Wortlos buddelte der Cousin ein klobiges Taschenmesser aus seinem Rucksack, klappte die breite Klinge heraus und begann, dicht über der Wurzel eine tiefe Kerbe in den Stamm zu hacken.

«Wozu brauchst du den?», fragte er.

Der andere blickte nicht auf. «Wir werden viel Feuerung brauchen diesen Winter», sagte er. «Auf dem Rückweg nehmen wir Kleinholz mit.»

Er sah sich um. Halbwüchsiges Gebüsch säumte den Pfad. Die Bäume waren bis weit hinauf zu den ersten Ästen kahl. Nirgends lag Reisig auf dem weichen Waldboden.

«Die Leute holen alles weg für den Winter», erklärte der andere. Mit seinem eleganten Schuhwerk trat er fest gegen die junge Eiche, doch die fiel nicht. Er schnitzte die Kerbe mittels kräftiger Hiebe noch etwas tiefer. Schließlich gelang es ihnen gemeinsam, den gut mannshohen Stamm umzulegen. Der andere kappte die Krone und ein paar Zweige und ließ sie achtlos liegen.

Sie gingen weiter. Der Cousin schnitzte mit seinem Messer an dem Eichenknüttel herum und blieb allmählich ein wenig zurück.

Auch er verlangsamte seine Schritte. Er spürte die Schwäche in allen Gliedern. Und den Hunger. Das war ein gewohntes Gefühl, doch er fühlte sich leicht ums Herz. Eine alberne Floskel, gewiss. Aber er hätte es nicht anders ausdrücken können. Dabei ging ihm diese verfluchte Märkische Heide nicht aus dem Sinn. Seit sie aus dem Bus gestiegen waren, dröhnte das blöde Lied in seinem Kopf, als gäbe es kein anderes. Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt beispielsweise. So was war jetzt Mode. Und amerikanische Musik mit jaulenden Saxophonen und einem Rhythmus, der in die Beine ging, aber nicht zum Marschieren anregte.

Im Lager hatten nur die russischen Wachmannschaften gesungen, schwermütige Melodien oder Soldatenlieder, die ganz anders klangen als die deutschen Landserhymnen. Den Deutschen war das Singen vergangen. Jeder wartete nur, wohin die ihn schicken würden – nach Hause oder nach Sibirien. Ein Drittes gab es nicht. Wohin der Transport wirklich ging, erfuhr man erst, wenn man die Papiere in der Hand hielt und in den Waggon kletterte.

Von den Kämpfen um Berlin hatten sie im Lager nichts erfahren. Dort machten die Gerüchte von der uneinnehmbaren Alpenfestung und dem Einsatz lange geheim gehaltener Wunderwaffen die Runde. Erst die dreitägige Siegesfeier der Russen und die grimmige Ansprache des nicht ganz nüchternen Kommandanten machten auch dem letzten Endsieggläubigen den Ausgang des Krieges klar. Nun sah er, dass auch hier gekämpft worden war. Verstreut lagen Stahlhelme, Gasmaskenbehälter und allerlei militärisches Zubehör herum. Schützenlöcher säumten den Pfad, der sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte.

Neben einem der Löcher blieb er stehen. Im gelben Sand lagen der verbeulte Deckel eines Kochgeschirrs und ein Uniformfetzen. Gerade wollte er sich zu seinem Begleiter umwenden, als ihn ein heftiger Schlag gegen den Hals in die Knie zwang. Er stolperte, fiel vornüber, versuchte sich mit den Händen abzustützen. Doch vor ihm war nur die Grube, in die er endgültig stürzte, als ihn ein neuer Hieb ins Genick traf, kräftiger sogar als der erste. Und noch einer. Um ihn herum versank der Wald in Dunkelheit und Schmerz.

ZWEI

HERMANN KAPPE hatte Glück gehabt. Wenn man es Glück nennen wollte, die Zehenspitzen auf einem rostigen Straßenbahntrittbrett untergebracht zu haben und sich wenigstens mit der linken Hand an einer Stange festzuklammern. Während die Finger zu erlahmen drohten, bemühte er sich vergeblich, seine Nase vom Rucksack des Vordermanns fernzuhalten, dem ein ekelhafter Geruch entströmte. Was mochte der Kerl darin transportieren? Jedenfalls nichts Essbares, wie Kappe hoffte, allein schon um seinen Magen zu beruhigen, in dem die Reste einer klitschigen Scheibe Brot im Morgenmuckefuck quollen. Eine zweite, gleichermaßen von einem Wasserstreifen durchzogene Stulle graulte sich in der Brotbüchse. Er fühlte das blecherne Ding durch das Leder der schäbigen Aktentasche, die er mit der Rechten umklammerte.

Jeden Morgen ärgerte er sich über diese hochstaplerische Tasche und ihren armseligen Inhalt. Sein Mittagessen, ebendiese Scheibe trocken Brot, hätte statt der leeren Brieftasche bequem in die Innentasche des Jacketts gepasst, und auf die schwachbraune Flüssigkeit in der abgesplitterten Emailleflasche konnte er zugunsten des Berliner Leitungswassers verzichten. Doch alles Reden nutzte nichts. Klara bestand darauf, dass er das Haus wie ein ordentlicher Mensch und Beamter mit einer Aktentasche unter dem Arm verließ. Wie leicht konnte sich über den langen Tag hin eine Gelegenheit ergeben, irgendetwas Nützliches, unter Umständen gar Nahrhaftes aufzutreiben, für das man ein Behältnis benötigte. Etwas «organisieren» nannte Klara das, obwohl sie die Abneigung ihres Gemahls gegen das Wort und erst recht gegen die Tätigkeit nur zu gut kannte.

Kappe, gewesener Kriminalkommissar, dem augenblicklichen Dienstgrad nach Ober-Inspektor, wenn auch kein Beamter mehr und wohl kaum mit der Aussicht, jemals wieder einer zu werden, neigte nach wie vor dazu, sich an die Vorschriften zu halten, und die schlossen nun einmal jegliche Art illegaler Warenbeschaffung aus. «Die eigene Familie dem Hungertod preisgeben» nannte Klara die bei Strafe der sofortigen Entlassung aus dem Polizeidienst vorgeschriebene Konsequenz – an die sich Kappe, selbst wenn er es gewollt hätte, nicht wirklich halten konnte. Im Gegensatz zu vielen seiner Verwandten, Bekannten und Kollegen rauchte er nicht, und er fragte vorsichtshalber nicht danach, wie und in welche Art von Lebensmitteln Klara die spärlichen Tabakwarenrationen verwandelte.

Vor allem Karl-Heinz paffte wie ein Schlot. Allerdings keine deutschen Zigaretten oder Zigarillos auf Markenzuteilung. Karl-Heinz war an Besseres gewöhnt und bevorzugte Lucky Strike. Allein des lieben Friedens wegen hatte Kappe sich daran gewöhnen müssen, die Schwarzmarktaktivitäten seines jüngsten Sprösslings zähneknirschend zu dulden, in denen der Lümmel es zu Klaras stiller Befriedigung binnen kurzer Zeit zu überraschender Meisterschaft gebracht hatte.

«Eines Tages schnappen sie dich, und du gehst ab in den Kahn!», prophezeite Kappe seinem Jüngsten, sooft er ihn sah, und das war in letzter Zeit nicht eben häufig der Fall. Wenn überhaupt, so kehrte Karl-Heinz gewöhnlich erst in den späten Nachtstunden in die elterliche Wohnung zurück, die aus Stube und Küche bestand. Ursprünglich, lange bevor Kappes in die Halbruine gezogen waren, hatte es sich um eine komfortable Dreizimmerwohnung gehandelt. Seit Februar des vergangenen Jahres ruhten die Mauerreste der einstigen Schlafstube zwei Etagen tiefer auf der zertrümmerten Kellerdecke, und hinter der zersplitterten Tür zum zweiten Zimmer bot eine einsturzgefährdete Freiluftecke Platz für zwei Blumenkästen, in denen Klara Tomaten zu züchten versuchte. Das wollte angesichts der Nordlage des ehemaligen Herrenzimmers nicht recht gelingen. Kirschgroß und grasgrün, versprachen die Früchte vorläufig keine Bereicherung des Speiseplans.

Dennoch war Kappe glücklich gewesen, mit Hilfe seines alten Freundes Theodor Trampe wenigstens diese «Ausbauwohnung» ausfindig gemacht zu haben. Klaras stiller Stolz, die Wohnung in der Großen Frankfurter Straße, war bei einem der letzten großen Angriffe im März 1945 durch einen Volltreffer zerstört worden. Glücklicherweise hatte sich Klara zu diesem Zeitpunkt gemeinsam mit der Tochter Margarete, der Enkelin Marlies und großen Teilen des mit ihnen evakuierten Hausrats in Wendisch Rietz befunden, so dass sogar die Bettstellen gerettet wurden. Schon Ende 1943 hatte Kappe die Familie dort vor den Bombenangriffen in Sicherheit gebracht. Er selber überlebte den Angriff als Luftschutzwache in den Gebäuderesten des Polizeipräsidiums und fand vorläufigen Unterschlupf bei seinem Bruder in der Yorckstraße.

Bald hieß es, die Evakuierten, wollten sie ihr Wohnrecht behalten, müssten bis Ende September 1945 nach Berlin zurückkehren. Kappe wandte einige Mühe auf, für sich und Klara in der ihm fremden Gegend rings um die Yorckbrücken eine Behausung zu finden. Statt im russisch besetzten Osten war er unversehens in Schöneberg gelandet, das seit dem Einmarsch der Amerikaner im Juli 1945 zu deren Sektor gehörte. Noch wusste niemand so recht, ob sich das als Vor- oder Nachteil erweisen würde.

Unverhofft war eines Tages Karl-Heinz erstaunlich gesund und munter aufgetaucht. Er war natürlich erst einmal bei Mama und Papa untergekrochen, wo es ihm anscheinend so gut gefiel, dass Kappe ihn im Verdacht hatte, sich keineswegs intensiv um eine eigene Bleibe zu bemühen. Da der Sohn, den es von der Schule weg direkt zur Waffen-SS gezogen hatte, nach anfänglicher Arbeitssuche offenbar nur sporadisch einer ordentlichen, das heißt legalen Tätigkeit nachging, sah es mit den Chancen auf eigenen Wohnraum schlecht aus.

«Ich lasse meinen Sohn doch nicht bei irgendeiner schlampigen Schlummermutter verkommen!», lautete Klaras Kommentar, wenn die Rede auf dieses Thema kam.

Machte Kappe sich im Morgengrauen auf den stets mit neuen Überraschungen aufwartenden Weg zum Dienst, dann ruhte der Sprössling, gluckenhaft von Klara behütet, auf der Chaiselongue in der Küche und träumte in Morpheus Armen von seinen Ami-Zigaretten oder wer weiß was. Jedenfalls nie vom Krieg, wie er glaubhaft versicherte: «Das ist vorbei. Daran verschwendet man doch keinen Gedanken!»

Von seinen Erlebnissen bei der Waffen-SS, zu der er sich siebzehnjährig freiwillig gemeldet hatte, sprach er nie. Er erwähnte nur hin und wieder beiläufig irgendwelche Kameraden, die er «rein zufällig» getroffen habe und die vermutlich dem gleichen Gewerbe nachgingen wie er. Skrupellos genug waren sie alle. Daran hatte die kurze amerikanische Internierung nichts geändert. In den davorliegenden zwölf Jahren hatte jeder gelernt, ausschließlich an seinen Nächsten zu denken – denn jeder war sich selbst der Nächste. Das hatte Karl-Heinz zutiefst verinnerlicht. Das Schicksal seines älteren Bruders Hartmut, von dem Hermann Kappe ebenso inständig wie Klara hoffte, dass er sich seit Stalingrad tatsächlich in russischer Gefangenschaft befand und eines Tages vor der Tür stehen würde, schien dem Jüngeren gleichgültig.

Die Straßenbahn hielt ruckend. Jemand wollte aussteigen. Der Rucksackträger musste sich notgedrungen zur Seite wenden und schlug Kappe das vor undefinierbarem Schmutz starrende Behältnis heftig gegen die rechte Gesichtshälfte. Kappe, gewöhnlich nicht zu Wutausbrüchen neigend, kam nicht umhin, sich mit einem kräftigen Kniestoß zu revanchieren, der ihn fast den Platz auf dem Trittbrett gekostet hätte. Die Fahrerei jeden Morgen stellte eine Zumutung dar, aber irgendwie musste er seine Dienststelle im nördlichen Stadtzentrum erreichen.

Im Verlauf der letzten Monate hatte Kappe die verschiedensten Möglichkeiten und Verkehrsmittel erprobt. Seine ständig geschwollenen Füße in den notdürftig selbst besohlten Schuhen ließen ihm keine Wahl. Alle Wege und Umwege hatten sich als gleichermaßen mühevoll erwiesen. Dabei kam das Verkehrsnetz allmählich wieder in Schwung. Pappvernagelte Straßenbahnen schepperten durch die Straßen. Seit der S-Bahn-Tunnel leer gepumpt worden war, fuhren die Nord-Süd-Bahn und neuerdings die Wannseebahn wieder. Im Straßenbahnnetz und bei der U- und Hochbahn klafften noch Lücken und gab es eingleisige Strecken. Der Hochbahnhof Nollendorfplatz glich einer Schrotthalde, und am Gleisdreieck war man dabei, den Viadukt in Richtung Hallesches Tor anzuheben und zu reparieren. Für die wenigen Buslinien mangelte es an Reifen und Benzin.

Nur wenige Tage nach dem Einmarsch der Russen, den Hermann Kappe im Keller unter dem Tabakladen seines Bruders er- und überlebt hatte, ohne dabei wesentlich mehr als seine goldene Taschenuhr einzubüßen, war er quer durch die Mondlandschaft der einstigen Innenstadt in Richtung Alex aufgebrochen. Er hatte bebend den Landwehrkanal auf einem schwankenden Steg überschritten, kaum weniger abenteuerlich die Spree gekreuzt und war tatsächlich bis in die Dircksenstraße vorgedrungen, wo einzig der Ziegelbau des Gefängnisses noch etwas von der einstigen Pracht des zerbombten Polizeipräsidiums verriet. In dem Gebäuderest sammelten sich nach und nach einige ehemalige Polizeibeamte, mit Argwohn und gehöriger Skepsis dem entgegensehend, was sie erwartete.

Der von den Russen ernannte Polizeipräsident hieß Oberst Markgraf und benahm sich auch so. Er machte mit den Kripo-Leuten nicht viel Federlesens, befragte sie in scharfem Ton nach Partei- und SS-Zugehörigkeit und verwies Kappe an den frischernannten Personalchef. Ehemalige SS-Leute wurden den Russen übergeben.

Auf die Weise war auch Kappes Schwiegersohn Arno verschwunden, der es in neun Jahren SS-Zugehörigkeit nur bis zum einfachen Sturmmann gebracht hatte und wegen Missachtung der eigenen Uniform als Gefreiter an die Ostfront geraten war, bis es einem einflussreichen Freund gelang, den gelernten Elektriker als Radarspezialisten zu Telefunken abkommandieren zu lassen. Dieser u. k.-Stellung – u. k. stand für unabkömmlich – verdankte Arno vermutlich sein Leben, das nun keinen Pfifferling wert schien, seit ihn die Russen «interniert» hatten – dem vorsichtig agierenden Kappe gelang es nicht herauszufinden, ob in Hohenschönhausen oder in Sachsenhausen, wo die Besatzungsmacht das Konzentrationslager weiter betrieb. Möglicherweise war Arno längst tot oder in Sibirien. Die russischen Lager und die Zustände darin waren zwei der hundert neuen Tabuthemen, an die man besser nicht rührte. Den meisten Leuten fiel das Schweigen nicht schwer – und das Denunzieren erst recht nicht. Sie hatten zwölf Jahre lang Zeit gehabt, sich darin zu üben.

Solche Gedanken, wenn sie nicht von denen ans Essen überlagert wurden, konnte Kappe nicht einmal verdrängen, wenn er wie jetzt einarmig an einer Straßenbahn hing. Immerhin fuhr er und würde zur S-Bahn gelangen, falls ihn der Ekel angesichts des stinkenden Rucksacks vor seinem Riechkolben nicht früher abspringen ließ.

Er hielt stand bis zum S-Bahnhof und fuhr durch den noch immer modrig riechenden Untergrund zum Oranienburger Tor. Die Schmutzmarke im oberen Viertel der Tunnelwand verriet, wie hoch das Wasser in dem bei Kriegsende gefluteten Tunnel gestanden hatte. Es galt als ziemlich sicher, dass die SS die Tunneldecke unter dem Landwehrkanal gesprengt hatte. Über die Zahl der geborgenen Leichen kursierten die abenteuerlichsten Gerüchte, sämtlich übertrieben, wie Kappe ebenfalls wusste. Dennoch war ihm bei den ersten Fahrten einigermaßen mulmig zumute gewesen. Doch woran hatte man sich nicht alles gewöhnt. Er fand es eher bemerkenswert, dass er nach dreieinhalb Jahrzehnten bei der Mordkommission seine Abneigung gegen den Geruch des Todes nicht eingebüßt hatte.

In der Oranienburger Straße kletterte er erleichtert ans Tageslicht. Hier standen noch ein paar weniger zerstörte Häuser zwischen den Ruinen. Seit neuestem bog hier wieder die Straßenbahn aus der Friedrichstraße ein. Das riesige Haus der Technik an der Ecke ragte als schwarze Brandruine auf. An der gelben Fassade des Postfuhramtes kündeten nur die Einschusslöcher von den heftigen Kämpfen in den letzten Tagen des Krieges.

Sein Weg führte Kappe durch die Artillerie- zur Linienstraße, wo man das Polizeipräsidium im Gebäude des ehemaligen Metallarbeiterverbandes einquartiert hatte, von den Nationalsozialisten als Gauleitung der Deutschen Arbeitsfront genutzt. Die Kriminaldirektion nutzte noch immer die einstigen Zellen in der Dircksenstraße, doch Kappe und einen Teil des Referats M hatte es in die Linienstraße verschlagen.

Kappe, von Berufs wegen auf ein einigermaßen funktionierendes Gedächtnis angewiesen, staunte immer wieder. Das Kriegsende lag nicht einmal anderthalb Jahre zurück, und schon war so vieles vergessen. Überall hatte man die Trümmer von den Fahrbahnen geräumt und die Granattrichter behelfsmäßig verfüllt, von den Bürgersteigen war der Schutt hinter aufgestapelte Ziegel und ausgeglühte T-Träger in die Ruinen geschippt worden. In den Erdgeschossen machten sich Läden und Werkstätten breit. Autos der Besatzungsmächte oder solche, die mit dem russischen Kennzeichen , gelber Motorhaube und einem gelben Punkt als «in deutschem Besitz» markiert waren, holperten durch die Straßen.

Im Präsidium wies Kappe dem stramm grüßenden Wachtmeister seine viersprachige Legitimation vor und stiefelte hinauf in den vierten Stock. Das Gebäude, obwohl von Bomben verschont geblieben, glich einer notdürftig aufgeräumten Ruine. Türen hingen schief in den Angeln oder fehlten, die Fenster waren mit Pappe vernagelt. In seinem Büro beleuchtete das trübe Licht einer nackt von der Decke baumelnden Glühbirne das zusammengesuchte Mobiliar. Kappe hatte sich einen ausnehmend schweren Schreibtisch gesichert und in die Nähe des Fensters geschoben. Das wuchtige Stück bot einige Gewähr, es noch am nächsten Morgen vor zufinden. Einen Stuhl hatte er sich schon dreimal neu besorgen müssen. Und das im Berliner Polizeipräsidium!

Heute schien alles in Ordnung. Niemand hatte sein wackliges Sitzmöbel entwendet oder vertauscht, durch die winzige Scheibe im unteren Teil des Fensters fiel ein Strahl der Septembersonne auf die narbige Platte seines schwergewichtigen Antikmöbels. Das Glas, einst das Porträt des finster blickenden Fanatikers mit dem Chaplin-Bärtchen vor Fliegenschiss schützend, hatte Kappe eigenhändig zugeschnitten, nachdem er das Führerbild hinter dem Aktenschrank entdeckt und eilig zerfetzt hatte. Ein Glasschneider gehörte in diesen Zeiten zu den unentbehrlichen Werkzeugen, selbst wenn man Kriminalkommissar von Beruf war.

Kappe öffnete die Aktentasche, platzierte Stullenbüchse und Emailleflasche vor sich auf dem Schreibtisch und schloss dessen rechte Seite mit dem einzigen Schlüssel auf, der sich hatte auftreiben lassen. Kaum hatte er seine Utensilien im oberen Fach verstaut, als die Tür aufgerissen wurde und ein strammer Jüngling mit akkurat gestutzter schwarzer Haartolle hereinstürmte – ein Jüngling jedenfalls aus der Sicht des 58-jährigen Kappe. Udo Schieck war 31, gelernter Fotograf, verflossener mittlerer HJ-Führer und Unteroffizier, den die Russen irgendwo kurz vor dem Ural in einem Antifa-Kursus so gründlich umgeschult hatten, dass Kappe mitunter der Mund offen stand vor Staunen. Dabei war klar, dass man ihm, dem altgedienten Lakaien dreier Systeme, den eilfertigen Konvertiten Schieck keineswegs nur als Kriminaltechniker, sondern zur Kontrolle und Überwachung beigeordnet hatte. Von Kriminalistik verstand der nicht die Bohne, schlug aber allen Ernstes vor, die sich häufenden Mordfälle künftig mit den Methoden des dialektischen Materialismus aufzuklären.

Unter Materialismus konnte Kappe sich etwas vorstellen, was der Dialekt bei den Mordermittlungen sollte, blieb ihm dunkel, und er hütete sich, Schieck danach zu fragen. Der brachte es fertig und ritt eine halbe Stunde auf Marx und Lenin herum, bevor er mit einem langatmigen, von Kappe ohnehin nicht überprüfbaren Zitat des hochgeschätzten Generalissimus Stalin abschloss. Ein paarmal ließ Kappe den konfusen Vortrag schlecht verdauter Schlagworte an sich abperlen, ehe er Schieck bärbeißig zur Ordnung und in den kriminell-kriminalistischen Alltag zurückgerufen hatte: «Wir haben – ganz unabhängig von jeder Weltanschauung – Mord und Totschlag aufzuklären, Verehrtester!» Ihn «Genosse» zu nennen, wie es Schieck hartnäckig forderte, fiel Kappe nicht im Traum ein.

Selbstverständlich war Schieck noch vor Eintritt in die vorerst lichten Reihen der Kriminalpolizei Mitglied der KPD geworden. Begeistert hatte er im April deren Vereinigung mit der SPD gutgeheißen und seitdem nicht aufgehört, Kappe zum Beitritt in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands aufzufordern. Die kürzte sich selbst als SED ab, während der amerikanisch lizenzierte Tagesspiegel, den Kappe seit dem ersten Erscheinen bevorzugte, die Partei hartnäckig als SEP bekrittelte und ebenso hartnäckig am selbständigen Fortbestand der Sozialdemokratie festhielt. Der stand Kappe eingedenk seiner Erfahrungen durchaus nahe, ohne sich zur SPD-Mitgliedschaft zu entschließen. Für seinen Geschmack wurde im Augenblick sowieso viel zu viel von Politik geredet, insbesondere seit der Wahltermin im Oktober feststand.

Kettenraucher Schieck, der das Sprachrohr der Russen, die Tägliche Rundschau, als Lektüre bevorzugte, zündete sich die erste Zigarette an und trug die Neuigkeiten aus der Berliner Zeitung vor, die ebenfalls als russisch orientiert galt. Dass vorgestern am Bahnhof Bernau eine Razzia stattgefunden hatte, um Arbeitskräfte für den Rüdersdorfer Kalkbruch zu rekrutieren, wusste Kappe bereits. Und dass dem britischen Militärkommandanten in Gatow sein Boot geklaut worden war, versetzte die Kollegen vom entsprechenden Dezernat sicherlich in so große Aufregung, wie Schieck sie plötzlich erkennen ließ. Auf Abschnitt 7 der Raucherkarte M gab es sechs Zigarren oder eine Packung Kautabak, für F wie Frauen lediglich sechs Zigaretten. «Allerdings nur im sowjetischen Sektor», wie Schieck triumphierend hervorhob. Das war ein weiterer Dissens zwischen ihnen: Kappe sprach wie alle Welt nur vom «russi schen Sektor» und der entsprechenden Zone, Schieck beharrte auf «sowjetisch», was Kappe achselzuckend akzeptierte.

Gerade stolperte Schieck über eine Meldung, die besagte, der Rundfunk im amerikanischen Sektor Berlin würde heute seinen Sendebetrieb über Mittelwelle 492 Meter gleich 610 Kilohertz beginnen. «Oberbürgermeister Doktor Werner wird über diese Welle um fünfzehn Uhr eine Begrüßungsansprache halten.»

«Ja, und?», erkundigte sich Kappe. «Wollen Sie sich die anhören?»

Schieck, der eher klein geraten war und noch dazu auf einer Art niedrigem Schemel hockte, richtete sich steil auf. «Können Sie mir erklären, wozu die Amerikaner einen eigenen Rundfunk für ihren Sektor brauchen?», fragte er scharf.

Kappe hob die Schultern. «Die Russen haben doch auch ihren eigenen Sender.»

«Das ist der Deutsche Demokratische Rundfunk, der allen fortschrittlichen Kräften offensteht. Außerdem befindet sich der Sender im englischen Sektor!»

«Müsste das nicht ‹britischen› heißen?», korrigierte Kappe sanft, was Schieck zu einer ärgerlichen Handbewegung veranlasste.

«Ach nee», Kappe setzte noch einen drauf, «im britischen Sektor ist ja nur das russische Funkhaus. Die Sendemasten stehen bei den Franzosen in Tegel.» Schieck stammte aus Luckenwalde und wohnte weit außerhalb der Stadt. Seine Schwierigkeiten mit der Berliner Topografie und den Sektorengrenzen waren Kappe schon öfter aufgefallen.

«Jedenfalls hätte der Drahtfunk für die Amis allemal genügt!», stellte Schieck fest.

Kappe beließ es dabei. Um weiteren Auseinandersetzungen zu entgehen, beugte er sich tief hinunter und förderte aus den Untiefen seines Schreibtischs einen Packen Papier hervor, auf den die Bezeichnung Akten schwerlich zutraf. Dennoch handelte es sich um solche. Papier war knapp, da mussten eben die Rückseiten der im Hause aufgefundenen Hinterlassenschaft der nationalsozialistischen Gauleitung oder jede andere Art von einseitig Bedrucktem herhalten. Am besten schrieb es sich mit dem Kopierstift, den Kappe einem klecksenden Federhalter vorzog, auf der Rückseite ehemaliger Wehrmachtslandkarten, die sich einige Ämter des guten Papiers wegen gesichert hatten, um darauf Bescheinigungen zu drucken. Kappes Nachweis der Typhus-Schutzimpfung bot das präzise Kartenbild der Gegend von Villers-Laquenexy in Lothringen. Er hatte es kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen, und dabei war ihm zum Bewusstsein gekommen, dass er in seinem bisherigen Leben nie über die alten Grenzen des Deutschen Reiches hinaus gelangt war, ja eigentlich nur Berlin und einen Teil der Mark Brandenburg kannte. Zum Termin der KdF-Reise nach Madeira, zu der Klara ihn so heftig gedrängt hatte, wurde der vorgesehene Dampfer gerade als Hilfskreuzer im Atlantik versenkt.

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