Das andere Volk Gottes

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1.2 Die Studie „Was Menschen in der Kirche hält“
1.2.1 Vorbemerkung: Anlage und Forschungsinteresse

Anders als die bis hierher vorgestellte Untersuchung „Die unbekannte Mehrheit“, im Ergebnis doch mit nennenswerten Schnittmengen, arbeitet die österreichische Studie „Was Menschen in der Kirche hält“. Als zunächst vergleichbar zeigt sich das Hinhören auf die Menschen verschiedener Altersgruppen, aus denen je einige typische Fälle ausgewählt werden. Als Schwerpunkt ihrer Untersuchung weist die Autorin Elisabeth Anker jedoch in erster Linie Motive gegenwärtiger Kirchenzugehörigkeit aus:

„Ausgehend von der Hypothese, dass gesellschaftliche Einflussgrößen wie die Pluralisierung von Orientierungs- und Wertsystemen, die Individualisierung der Lebensvollzüge und in deren Folge die Ent-Institutionalisierung die Menschen mehr oder weniger prägen, steht als Annahme im Vordergrund, dass Kirchenzugehörigkeit nicht mehr etwas „Selbstverständliches“ im Leben der Menschen ist, sondern dass sie durchaus mehr und mehr zum Ergebnis einer persönlichen Entscheidung geworden ist. Ziel der Studie ist in diesem Zusammenhang eine Annäherung an diese Frage der „Entscheidung“. Zugleich sind Motive und Beweggründe, die für diese Entscheidung handlungsleitend sind, zu entdecken. So ist mein Erkenntnisinteresse, individuelle Entscheidungs- und Motivstrukturen auf eine möglichst unmittelbare Weise direkt von den Forschungssubjekten zu erfahren.“69

Die Grundausrichtung dieser Studie unterscheidet sich folglich von der Erhebung „Die unbekannte Mehrheit“: Deutlich thematisiert die Hypothese eine bewusste Entscheidung zur Kirchenzugehörigkeit als spezifischen Focus ihres Forschungsinteresses. Allerdings haben sich im Rahmen der Ergebnisse weitere Erkenntnisse zu Motiven und Beweggründen dieser Zugehörigkeit ergeben, die für unseren Fragezusammenhang interessant sind. Da es sich bei der Methode der Studie ebenfalls um einen rein qualitativ-empirischen Zugang handelt, kann auch in diesem Punkt Vergleichbarkeit bzw. Kompatibilität festgestellt werden. So sollen also nun Ergebnisse dieser Studie nur insofern dargestellt werden, als sie den Themenzusammenhang dieser Arbeit in Fragen nach einem eigenen Typus von Kirchlichkeit zu biographischen Anlässen und heiligen Zeiten betreffen. Zuvor ist es allerdings unerlässlich, Grundlegendes zur Anlage der Studie vorauszuschicken.

Insgesamt erstreckte sich das Forschungsprojekt über drei Jahre (1999-2002). Die eigentlichen Interviews wurden von Juni bis August 1999 mit zehn GesprächspartnerInnen aus den österreichischen Bundesländern Salzburg und Tirol durchgeführt, so dass bei allen Befragten von einem ländlich-katholisch geprägten Hintergrund ausgegangen wurde. Zugleich achtete die Autorin darauf, bezüglich der Ausgewogenheit von Schichtungsmerkmalen ihrer IP eine breite Streuung zu erreichen. Dabei wurden als Personen im Alter zwischen 16 und 79 Jahren Frauen und Männer aus unterschiedlichen Berufsfeldern und mit uneinheitlichem Bildungshintergrund befragt. In ihrer Weise der Kirchenzugehörigkeit stimmten die Studienteilnehmer insofern überein, als sie alle getauft und nicht aus der Kirche ausgetreten waren. Die Kontaktaufnahme erfolgte aus oben genannten Gründen der Streuung verschiedener GesprächspartnerInnen nicht über kirchliche Einrichtungen bzw. Pfarrgemeinden. Insgesamt wurden die 10 Gespräche als Leitfadeninterviews geführt, die man, jeweils mit einem Tonbandgerät aufgezeichnet, später transkribierte. Zusätzlich wurde zu jedem der Interviews ein Protokoll angefertigt, das über sein Zustandekommen, die Rahmenbedingungen der Forschungsinteraktion, erste Annahmen über das Interview und den bzw. die GesprächspartnerIn sowie schließlich evaluativ über die Kommunikationssituation Auskunft erteilt.

Nach der Transkription eines Interviews erfolgte sogleich ein erster Auswertungsdurchgang, in dessen Folge ein inhaltlicher Überblick über die Themen der einzelnen Interviews festgehalten wurde. So konnte unter anderem auch gleich das spezielle Eigengut jedes Gespräches verdeutlicht und festgehalten werden.

1.2.2 Ergebnisse

Die Ergebnisse dieser weiteren Studie werden nun, entsprechend der oben bereits ausgeführten Einschränkungen, auf unseren Fragezusammenhang hin zugespitzt dargestellt. Die Darstellung nimmt die vorliegende Kategorisierung wie den Wortlaut des Interpretaments der Autorin so weit als möglich auf. So kann, aufgrund der vorliegenden, bereits sehr gebündelten Darstellung, eine noch größere sprachliche Nähe als bei der Studie „Die unbekannte Mehrheit“ hergestellt werden. Ausgehend von einer Unterscheidung Paul Michael Zulehners, die Kirchenzugehörigkeit in zwei Motivgruppen einordnet, bestätigt und übernimmt die Studie diese Kategorisierung von sozialen und religiösen Motiven.70

So unterscheidet die Auswertung der vorliegenden Untersuchung zwischen den Motivgruppen Gemeinschaft und Menschen sowie Religiosität und Glaube und fügt dem noch die Kategorie Rückhalt, Sicherheit, Begleitung hinzu.

Die erste Kategorie: Menschen bleiben in der Kirche, weil sie einer Gemeinschaft angehören wollen. Ihre Motive sind im Einzelnen:

• Aufgenommensein und Dazugehören:

Diese Eigenschaften gelten hier als Leitmotiv, kulminierend in dem Satz einer Befragten: „Zum Leben brauchst Du Gruppe.“71

• Gemeinschaft nach Bedarf:

An dieser Stelle verbindet sich Zugehörigkeit mit Autonomie und zugleich mit einer Selbstbestimmung hinsichtlich der Aktualisierung der Gemeinschaft. Intensität und Frequenz wird nach der je eigenen Situation und Bedürfnislage bestimmt.72

• Konkrete Menschen in der Kirche:

Diese fungieren als Leitfiguren, (Pfarrer, Prediger, Johannes XXIII) „wie eine Nachbarin von früher“, die für eine Erzählerin „eine Zeitlang [sic] wichtig“ gewesen ist.73

Die zweite Kategorie Menschen bleiben aus religiösen Gründen benennt folgende nähere Gründe für eine Kirchenzugehörigkeit:

• „Kirche als Ort des Religiösen und der religiösen Erfahrungsdeutung:

Diese Rückbindung an einen Sinn verbürgenden Grund (Gott, ein höheres Wesen), erfüllt das Bedürfnis nach existentiellem Aufgehobensein. Eine Religiosität in diesem Sinne wird gebraucht und infolgedessen als Mittlerin und Trägerin derselben – wenn die Vermittlung gelingt – auch die Kirche.“74

• „Ort der Intensität und Emotionalität:

So können sich Gläubige auf verschiedene Ausdrucksformen und Erfahrungswege einlassen und sich gleichzeitig – in diesem sensiblen Bereich – aufgehoben fühlen. Zudem ermöglicht die Kirche in dieser Hinsicht auch gemeinsames Tun (Tanzen, Feiern…) mit anderen Menschen, mit denen dieses Bedürfnis und das entsprechende Erleben geteilt werden können.“75

• „Symbolische Ordnung der Zeit:

Feiertage und die großen liturgischen Festkreise samt den dazugehörigen Vorbereitungszeiten verleihen der Lebenszeit Ordnung und emotionale Qualität. Insbesondere steht dabei der gemeinschaftliche und mehr noch familiäre Aspekt im Mittelpunkt. Ebenso strukturieren auch Sakramente als Übergangsrituale das eigene Leben, weil sie auf den Abschluss und Neubeginn von Lebenszyklen hinweisen: Die Erinnerungen an diese Übergänge und ihre rituelle Gestaltung lenken den Blick auf die eigene Lebensgeschichte, vergegenwärtigen die eigene Entwicklung und deuten sie im Kontext des Glaubens.“76

• „Besinnung und Innehalten:

In der Möglichkeit und Freiheit, vorgefundene Vollzüge kirchlicher Praxis für sich persönlich zu nützen und nötigenfalls in ihrer Intention umzudeuten, wird ein Qualitäts- und Zeitgewinn durch Kirchenzugehörigkeit wahrgenommen.“77

• „Prägung und Habitus:

In allen Interviews wird von prägenden Einflüssen der Kirche im Lauf der eigenen Entwicklung berichtet – insbesondere von Gelegenheiten wie Festzeiten, der Teilnahme an Sonntagsgottesdiensten und Sakramenten. […] Prägung ist die Summe der die eigene Entwicklung und Erziehung begleitenden Faktoren – Rituale, Geschichten, Antwort- und Erklärungsmodelle für unübersichtliche Lebenssituationen, Wissen, was in bestimmten Lebenszusammenhängen zu tun und zu denken ist. Damit wird Prägung zur lebenspraktischen Selbstgewissheit, indem sie Komplexität reduziert, und eine selbstverständliche, unhinterfragte Zugehörigkeit konstituiert.“78

• „Ästhetik und Bewahren des Schönen:

‚Schönen‘ Kirchenräumen wird zuerkannt, dass in ihnen ‚Geist und Leben‘ zu spüren ist; eine Eigenschaft, die übrigens auch dem ‚Wald‘ oder ‚magischen Plätzen von früher‘ zugeschrieben wird. Damit erweist sich die Dimension der Ästhetik als unterstützender Faktor für Besinnung und Zur-Ruhe-Kommen, und bietet eine Gelegenheit sich eins zu fühlen mit sich selbst und der Umgebung. Zusätzlich wird im Bereich der ästhetischen Dimension von Kirchenzugehörigkeit auch dem Singen und der Musik Gewicht beigemessen.“79

Die dritte Kategorie: Menschen finden in der Kirche Rückhalt, Sicherheit und Begleitung. Ihre Motive sind allgemein wie folgt einzuordnen:

• „Schwierige Lebenssituationen, Lebenswenden, biographische Übergänge und Entwicklungskrisen sowie die Unsicherheit der Menschen bezüglich der ‚richtigen‘ Orientierung für das eigene Handeln und Entscheiden werden unter anderem durch Zugehörigkeit zur Kirche aufgefangen. Die bestätigende, unterstützende, stabilisierende Funktion, welche der Kirche in den drei genannten Motiven zukommt, gewährleistet Rückhalt, Begleitung und Sicherheit.“80

 

Im Einzelnen ergeben sich dabei folgende inhaltliche Unterscheidungen:

• „Die Kompetenz der Kirche:

[Sie meint,] in persönlichen Problemsituationen und Krisen, Trost und Hilfe anzubieten und den Umgang mit Kontingenzerfahrungen zu erleichtern […]. Der Aspekt des Rückhalts und der Unterstützung in Schwierigkeiten verbindet sich vor allem mit der sozialen Dimension der Kirchenzugehörigkeit: Das Dazugehören zu einer Gemeinschaft verhindert, dass Menschen angesichts kritischer Lebensereignisse völlig allein da stehen […]. Darüber hinaus ist der Aspekt „Rückhalt und Trost“ sowohl mit dem „Glauben“ an sich, der Sicherheit und Gewissheit angesichts möglicher Bedrängnisse verschaffen kann, sowie kirchlich vermittelten Glaubensinhalten […] aber auch mit der Möglichkeit religiöser Sinnzuschreibungen verbunden.“81

• „Die Begleitung in Lebenswenden:

Rituale, die Lebenswenden als belastende Übergänge begleiten, werden als hilfreich und unterstützend angesehen, daher ist die Möglichkeit, die Sakramente in Anspruch zu nehmen, ein deutliches Bleibe- und Zugehörigkeitsmotiv. Menschliche Grundsituationen und Gestimmtheiten im Lauf einer Biographie (Geburt eines Kindes, Heirat, Krankheit, Sterben, Tod) sind durch Passageriten (aber auch z.B. durch Gottesdienste an hohen Festtagen) aufgehoben und gedeutet. Das erleichtert die Auseinandersetzung mit und von Krisen; Sakramente verschaffen Bestätigung, Sicherheit und Segen bzw. auch die Möglichkeit einer direkten Verbindung zu Gott.“82

Zusammenfassend lassen sich also auf den Themenzusammenhang unserer Untersuchung hin folgende Ergebnisse der angeführten Studie festhalten:

Menschen bleiben in der Kirche, weil sie im günstigsten Fall für eine Religiosität bürgt, die ein existentielles Aufgehobensein in Rückbindung an ein höheres Wesen garantiert. Dabei verleihen die durch den Rhythmus des Kirchenjahres vorgegebenen Festtage Ordnung und emotionale Qualität; in den Sakramenten zu den Lebenswenden bestehen überdies die Möglichkeiten von Abschluss und Neubeginn und von Deutung der Lebensgeschichte im Horizont des Glaubens. Damit werden auch hier die Fragen nach Identität und Biographie sichtbar. Und wiederum kann man sie berufungstheologisch deuten.

Die kirchlich bestimmten Rituale werden so insgesamt als Begleiter von Lebenswenden als unterstützend angesehen, indem sie genauso wie Gottesdienste zu hohen Festtagen ein Aufgehobensein im Sinne von Trost, Hilfe, Sicherheit und Segen konkretisieren. Nicht unwichtig erscheint es den Befragten, in Form eines Qualitäts- und Zeitgewinns sich an vorgegebene Rituale und Handlungen anzulehnen. Diese Weise der Teilnahme am kirchlichen Leben wird in der Regel als komplexitätsreduzierende Prägung begrüßt, da sich in ihr die Rituale, Geschichten, Antwort- und Erklärungsmodelle bewährt haben und dadurch eine unhinterfragbare und selbstverständliche Zugehörigkeit konstituieren. An dieser Stelle lassen sich Anklänge an die Studie „Die unbekannte Mehrheit“ mithören; zugleich hilft die kompakte Darstellung der Autorin, die wesentlichen Punkte komprimiert wahrzunehmen und sie infolgedessen einzuordnen.

Neben diesen spezielleren Ergebnissen aus den Interviews zur Kasual- und Festtagspraxis, lassen sich aus den Aussagen der Befragten zum Thema Kirche für unseren Fragezusammenhang wichtige Einstellungen und Bilder wiedergeben. Dass die Kirche von den hier befragten IP – ähnlich wie bei der obigen Studie „Die unbekannte Mehrheit“ – in ihrer Funktion als primär okkasionell betrachtet wird, zeigt sich am deutlichsten in den Metaphern des Vereins oder Supermarktes, die eine IP nennt.83

So stellt die Autorin weiterhin fest:

„Als ein deutliches und augenfälliges Ergebnis der Studie ist festzuhalten, dass die Kirchenmitglieder selbst – entsprechend der Problematik einer theologischen Rezeption – das Kirchenbild des Zweiten Vatikanischen Konzils als Bild einer gemeinsamen, ‚gleichen‘ Pilgerschaft von Menschen, die Subjekte ihres Glaubens sind, zu weiten Teilen nicht übernommen haben.“84

Neben allen anderen Implikationen, die aus dieser Aussage sprechen, lässt sich auf unseren Themenzusammenhang hin feststellen, dass die Kirche an sich aus der Perspektive der IP dementsprechend die Anderen sind. Auffallend ist daher, dass die Katholische Kirche es während der Nachkonzilszeit bis heute offensichtlich nicht geschafft hat, ein Wir-Gefühl zu erzeugen. Man sagt beispielsweise eher „Wir Österreicher haben eine Silbermedaille gewonnen“ als dass man ähnliche Formulierungen in Verbindung der eigenen Kirchenzugehörigkeit gebrauchen würde.85 So auch in dieser Äußerung:

„Wir sind alle Kirche, du, das kenn ich schon seit KJ-Zeiten [Katholische Jugend]. Das versteh ich schon im Kopf. Aber so leicht ist das auch wieder nicht.“86

In diesem Originalton offenbart sich abermals eine Sprechweise, die die Kirche als etwas von der eigenen Person Getrenntes akzentuiert. Kirche wird vielfach mit der Institution verbunden oder mit „offizieller Kirche“, mit den „Oberen“, „Papst und Bischöfen“, denen die Aufgabe zukommt, die Menschen zu führen und ihnen alles zu erklären.87 In diesem Zusammenhang formuliert die Autorin perspektivisch auf unseren Themenbereich hin:

„Es gilt, in der Seelsorge aufzugreifen, was da ist und wahrzunehmen, wo Begegnung und Begleitung not tut. Gerade in existentiellen Krisen und Übergängen brauchen Menschen Rituale, „rites de passages“, die ihnen helfen, symbolisch, zeichenhaft mit einer neuen Situation umzugehen. Seelsorge braucht daher die Fähigkeit, in einer Zeichen- und Symbolsprache zu kommunizieren, welche die Ebene der Sakramente durchaus einschließt, sie aber auch noch übersteigt.“88

Wie wenig regelmäßiger Gottesdienstbesuch aus Sicht der befragten Personen als Indikator für Kirchenmitgliedschaft zu deuten ist, steht für die Autorin als Ergebnis zum Ende der Studie ebenfalls fest:

„Die Ergebnisse aus der Befragung (und der Blick auf die Kirchenbesuchsstatistik) zeigen deutlich, dass die regelmäßige Teilnahme am Gottesdienst keineswegs zum Selbstverständnis und zu den Bedürfnissen der meisten ChristInnen zählt. Und doch fühlen sich viele dieser Menschen der Kirche verbunden und wollen die Möglichkeit „hinzugehen“ nicht missen. Sie wollen nur nicht „müssen“. Daraus wird deutlich, […] Gottesdienste an hohen Feiertagen etwa oder Sakramente wie Taufen, Eheschließungen und Begräbnisse – als besondere pastorale Chance und Aufgabe zu nutzen. Anstatt die Energie darauf zu konzentrieren (und zu vergeuden) Menschen „zwischen den Sakramenten“ an die Kirche binden zu wollen, sollten Gemeindepriester, GemeindeseelsorgerInnen, PastoralassistentInnen […] ihre Kraft und Inspiration darauf konzentrieren, Gastfreundschaft auf Fernstehende hin zu konkretisieren.“89

In dieser Andeutung zeigt sich bereits, dass die Autorin anhand der Ergebnisse ihrer Studie bei einem Großteil der ChristInnen eine zweite Logik von Kirchlichkeit feststellt. Der gemeindliche Umgang mit diesen anders kirchlichen Menschen muss zudem pastoral überprüft werden (vgl. konkrete Vorschläge dazu unter III 4).

Im Unterschied zur ersten Erhebung „Die unbekannte Mehrheit“ erweitert diese Studie jedoch die Orte bzw. Anlässe der Beteiligung, welche diese andere Kirchenlogik kennt, über die Kasualien auf die hohen Feier- und Festtage hinaus. Dies liegt nahe, da neben den oben die Kasualfeiern betreffenden Punkten die Unterkategorien „Prägung und Habitus“ wie auch „Symbolische Ordnung der Zeit“ explizit die Fest und Feierzeiten während des Jahreslaufes thematisieren. Unter weiteren Unterkategorien wie „Ästhetik und Bewahrung des Schönen“ und „Besinnung und Innehalten“ sind diese Anlässe ebenfalls zu erahnen.

Um diese Linie fortzuschreiben und damit die bislang beschriebene andere Art von Kirchenmitgliedschaftsvollzug fundierter zu verstehen, soll im Folgenden daher das Phänomen des „Weihnachts-Christentums“ als ein über die Kasualteilnahme hinaus beobachtbares Phänomen betrachtet und auf die Frage einer anderen, neuen Logik von Kirchlichkeit hin reflektiert werden.

1.3 Einmal im Jahr religiös: Das „Weihnachts-Christentum“

In seiner im Jahr 2002 veröffentlichten Untersuchung „Weihnachts-Christentum“ sowie während des ein Jahr später erschienen Bandes „Heiligabend-Religion“ weist der junge evangelische Theologe Matthias Morgenroth das Phänomen der Weihnachtsreligiosität als eine spezifische Spielart der Religiosität unserer Tage nach.90 Im Vorwort des ersten Bandes zeigt er bereits, wie sehr dieses Phänomen mit der Motivation zur Kasualiennachfrage verbunden ist:

„Die empirische Sozialforschung zeigt, dass – allen Verfallsmeldungen zum Trotz – Weihnachten auch bei der jüngeren Generation ungebrochen populär ist. Die kirchlichen Festtage, allen voran das Weihnachtsfest, besitzen neben den lebensgeschichtlichen Übergängen eine erhebliche Anziehungskraft für Jugendliche, obwohl sonst noch kaum kirchliche Bindung zu beobachten ist.“91

Unter dem Stichwort „Heiligabend-Religion“ führt Morgenroth dann im gleichnamigen Band aus:

„In diesem Buch geht es um Weihnachten, aber nicht nur. Vielmehr will ich die Weihnachtszeit und ihre Bildwelt zum Anlass nehmen, unsere (post)moderne, freilich untergründige und subversive Religiosität aufzuspüren. Denn an Weihnachten spült es sozusagen an die Oberfläche der Gesellschaft, was unterirdisch das ganze Jahr über an eigenständiger, privater, unkirchlicher (aber nicht unchristlicher!) Spiritualität wächst und gedeiht. Weihnachten ist so etwas wie das Symbol-Sammelbecken gegenwärtigen Glaubens. […] Es ist das christliche Fest der Moderne.“92

Dieses Zitat weist das Weihnachts-Christentum ebenfalls als spezifischen Themenzusammenhang dieser Arbeit aus. Denn eben die Frage nach der Schnittstelle und ihrer möglichen Membranfunktion „eigenständiger, privater, unkirchlicher“, aber nicht unchristlicher Spiritualität kann hieran näherhin verdeutlicht werden.93

Im Folgenden soll nun das „Weihnachts-Christentum“ bzw. die „Heiligabend-Religion“ unter verschiedenen Stichwörtern auf die Thematik dieser Arbeit hin referiert werden. Dazu bieten sich aus den Ausführungen Morgenroths die Themenkreise Familie und Fest an. Da es sich nach Überzeugung des Autors jedoch bei der „Heiligabend-Religion“ und dem „Weihnachts-Christentum“ um ein spezifisches Phänomen gegenwärtiger, postmoderner Religiosität handelt, seien zunächst seine grundsätzlichen Überlegungen den spezielleren vorausgeschickt. Die Sichtweise, die sich darin spiegelt, erscheint überdies für den Zusammenhang dieser Arbeit entscheidend, weil sie den Charakter der neuen Kirchlich- bzw. Christlichkeit, die sich in dem Phänomen eines Kasual- und Feiertagschristentums zeigt, als einen spezifisch postmodernen wahrnehmen und reflektieren möchte.