Rätsel

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Sex und das Rätsel in mir – auf dem Heuboden – Bolsover d. Ä. und das Geschlecht

Manchmal habe ich mich gefragt, ob andere in derselben Zwangslage waren, und einmal habe ich bei einem besonders guten Schulfreund vorsichtig versucht, die Sprache darauf zu bringen. Mir war der Gedanke gekommen, dass womöglich meine Verfassung etwas vollkommen Normales war und jeder Junge sich wünschte, ein Mädchen zu werden. Das schien doch nur logisch, wenn Frauen sämtlich so großartige und bewundernswerte Wesen waren, wie Geschichte, Religion und Benimmregeln uns gemeinschaftlich versicherten. Allerdings verlor ich diese Illusion schnell wieder, denn mein Freund bog meine Frage mit Gusto in einen schmutzigen Witz um, und ich zog sie eilig zurück, kichernd und verlegen.

Dass mein Dilemma tatsächlich von meinen Geschlechtsorganen herrührte, kam mir damals nicht in den Sinn und scheint mir auch heute noch unwahrscheinlich. Bald war ich alt genug für die Public School, und dort in Lancing lernte ich sehr genau die Fakten der menschlichen Reproduktion; sie schienen mir arg prosaisch. Das finde ich bis heute. Da wunderte es mich überhaupt nicht, dass Maria mit der Schönheit einer jungfräulichen Geburt gesegnet worden war, denn nichts konnte für meine Begriffe unpoetischer sein als die Mechanik des Geschlechtsverkehrs, etwas, das jedes Lebewesen ohne Weiteres tun kann, ja, das sehr leicht sogar künstlich funktioniert. Dass meine unausgegorenen Sehnsüchte, geboren aus Wind und Sonnenschein, aus Musik und Tagträumen – dass mein Rätsel einfach eine Frage von Penis oder Vagina sein sollte, von Hoden und Gebärmutter, scheint mir bis heute eine abwegige Vorstellung, denn es ging doch nicht um meinen Fortpflanzungsapparat, sondern um mein Ich.

Wenn es damals irgendwo auf der Welt eine Institution gab, die mich hätte überzeugen können, dass ein Männerleben dem weiblichen vorzuziehen war, dann war es bestimmt nicht Lancing College. Inzwischen hatte der Zweite Weltkrieg begonnen, und die Schule residierte nicht mehr in ihren prachtvollen Gebäuden in Sussex, sondern in einer Ansammlung von Landhäusern in Shropshire. Ich vermute, sie hatte dadurch viel von ihrer Geschlossenheit und Selbstgewissheit verloren; jedenfalls erwies sie sich nach der Seligkeit von Oxford und der beschwingten Großzügigkeit zu Hause als enttäuschend stillos, und nichts an dieser Schule fand ich aufregend, nichts gab mir das verlorene Gefühl des Heiligen zurück.

Ich war nie wirklich unglücklich dort, aber die ganze Zeit über hatte ich Angst. Die Lehrerschaft war durchweg freundlich, doch das grässliche Präfektensystem konnte sehr grausam sein. Ich kam ständig in Schwierigkeiten, meistens durch dumme Fehler meinerseits, und bezog häufiger Prügel als jeder andere Junge in meinem Haus. Ein albernes, gehässiges Ritual gehörte dazu, wenn man vom Hausvorsteher geschlagen wurde. Der Kellerraum war mit Decken oder Vorhängen ausgehängt, wodurch er tatsächlich wie eine Folterkammer wirkte, und sämtliche anderen Präfekten assistierten. Ich war jedes Mal krank vor Angst, und selbst heute, dreißig Jahre später, ist mir noch unwohl, wenn ich daran denke. Und nichts was ich später als Drill bei der britischen Armee kennenlernen sollte, kein Feldwebelgebrüll und kein Sarkasmus der Adjutanten, war so angsteinflößend wie das Regime des Lancing College Officers Training Corps mit seinen Paraden jeden Donnerstagnachmittag, bei denen alle zur Teilnahme verpflichtet waren. Wir trugen Uniformen aus dem Ersten Weltkrieg und exerzierten mit Gewehren aus dem 19. Jahrhundert, kürzlich den Italienern in Nordafrika abgenommen, und allein schon ein Knopf, der nicht genug glänzte, eine schief gewickelte Gamasche genügte, um angebrüllt zu werden. Zwanzig Jahre oder noch länger ist mir der Schrecken dieser Paraden im Traum erschienen, die stechenden blassblauen Augen des Fähnrichsanwärters, wie er sich mir bei der Parade spöttisch und erwartungsvoll näherte (denn wenn ich tatsächlich einmal da war, das heißt niemanden davon überzeugen konnte, dass ich mir den Knöchel verstaucht oder eine schwere Erkältung hatte, dann war mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ich derjenige, an dessen Aufzug sich etwas aussetzen ließ).

An dieser Art Gesellschaft wollte ich keinen Anteil. Ich verließ Lancing zum frühestmöglichen Zeitpunkt und meldete mich mit siebzehn freiwillig zur Armee, und wenn ich an meine Jahre auf dieser Schule zurückdenke, fallen mir nur zwei Dinge ein, die mir Freude gemacht haben. Eins war das Vergnügen, auf meinem Fahrrad das walisische Grenzland zu erkunden; das andere Vergnügen war Sex. Wenn ich zu den farnkrautüberwucherten Hügeln zog oder die Burgen erkundete, die über diese lang umkämpfte Grenze wachten, dann zog ich mich in ein Leben zurück, das wahrhaftiger, persönlicher war als alles, was Lancing zuließ; und wenn die Berührung durch die kräftige Hand eines Präfekten verstohlen unter dem Teestubentisch mich erregte, dann konnte ich vergessen, dass er mich in der Woche zuvor geprügelt hatte; bei ihm konnte ich wirklich ich selbst sein, nicht das armselige Kind, das sich weinend über die Packkiste beugen musste, sondern jemand, der um vieles erwachsener war, selbstvertrauter, selbstbestimmter.

Ich hoffe, niemand wird mich für narzisstisch halten, wenn ich sage, dass ich ein recht attraktiver Junge war, vielleicht nicht gerade eine Schönheit, aber schlank und rank. Und da das englische Schulsystem nun einmal ist, wie es ist, blieben Avancen nicht aus, und meine inneren Überzeugungen gewannen vollkommen neue Konturen dadurch. Es schien mir ganz natürlich, in diesen kurzlebigen und meist ziemlich harmlosen Romanzen die Rolle des Mädchens zu übernehmen, und die platonische Seite davon genoss ich sehr. Es machte Spaß, wenn jemand mir den Hof machte, es war eine Genugtuung, wenn er mich bewunderte, und es war auch nützlich, Beschützer in der Oberstufe zu haben. Ich genoss es, wenn sie mich auf der Dienstbotentreppe küssten, und es schmeichelte mir sehr, als der Adonis unter den Oberklässlern unseres Hauses hochkomplizierte Pläne schmiedete, damit wir uns auch in den Ferien sahen.

Wenn es dann allerdings zu der eher elementaren Seite der Knabenliebe kam, stellte ich fest, dass ich sie zwar nicht direkt abstoßend, aber doch peinlich fand. Es schien mir, ästhetisch gesprochen, einfach nicht richtig. Nichts passte. Unsere Körper hielten nicht aneinander, und außerdem fand ich, dass zwar Flatterhaftigkeit beim Flirt auf harmlose Weise unterhaltsam war, diese körperliche Intimität mit bloßen Bekannten dagegen unelegant. Das war nicht das, worauf Oxfords heilige Hallen mich vorbereitet hatten. Es war auch nicht das, woran die Mädchen unter meinen Freunden dachten, wenn sie mit stockendem Atem von der Hochzeitsnacht sprachen. Von Jungfrauengeburt war es meilenweit entfernt. Es machte mir auch Kummer, dass zwar mein Körper sich oft danach sehnte, sich hinzugeben, sich zu öffnen, dass aber die Apparatur nicht die richtige dafür war. Sie war für etwas anderes gedacht, und mir schien sie für mich vollkommen falsch.

Ich fürchte, meine Verehrer fanden mich frigide, selbst die, die ich am meisten mochte, und dabei wollte ich doch nicht undankbar sein. Ihre Absichten schockierten mich nicht, aber ich brachte es einfach nicht fertig, sie zu erwidern. Wir gingen unserem verbotenen Vergnügen meist auf den Heuböden von Bauernhöfen nach, oder in den luftigen Schobern, die sie damals noch auf den Feldern errichteten, und ich finde, es sagt alles, dass das, was mir von diesen ersten sexuellen Erfahrungen am lebhaftesten und am sinnlichsten in Erinnerung geblieben ist, nicht die täppischen Umarmungen von Bolsover dem Älteren sind, nicht der schwere Atem seiner Leidenschaft, die deftige Art, wie er uns von unseren Hosen befreite, sondern das warme und ein wenig modrige Gefühl des Heus auf meinem Körper, das und der Geruch der gärenden Äpfel in der Scheune unter uns.

Das also war Sex! Mir war auf Anhieb klar, dass dies etwas anderes als das Geschlecht war – oder besser gesagt etwas anderes als jener innere Faktor, den ich als das Weibliche in mir identifiziert hatte. Letzteres, schien mir, war zwar gewiss von großer Bedeutung für zwischenmenschliche Beziehungen, aber beinahe nebensächlich bei Bolsovers Vergnügungen im Heuschober – und das stimmte, denn hätte Bolsover sich in jenem Augenblick nicht mit einem attraktiven jüngeren Mitschüler vergnügen können, wäre er gewiss trotzdem dort hinaufgestiegen und hätte sich mit sich selbst vergnügt.

Für mich ist Geschlecht überhaupt nichts Physisches, sondern etwas ganz und gar Immaterielles. Es ist Seele, könnte man sagen, es ist Talent, Geschmack, Umwelt und Umgebung, es ist die Stimmung eines Menschen, Licht und Schatten, es ist die Musik in unserem Inneren, es ist die Beschwingtheit eines Schrittes oder ein Blick, den wir wechseln, es ist mehr Leben und Liebe, als jede Kombination aus Genitalien, Ovarien und Hormonen je sein kann. Es ist das Wesentliche unserer selbst, die Psyche, das Bruchstück, das zum Ganzen gefügt werden soll. Männlich und weiblich sind die Geschlechtsorgane, maskulin und feminin die Identitäten des Geschlechts, und auch wenn es zwischen den beiden Konzepten natürlich Überschneidungen gibt, sind es alles andere als Synonyme. Geschlechtsidentität ist, wie C. S. Lewis einmal schrieb, nicht einfach nur eine fantasievolle Erweiterung des physischen Geschlechts. »Geschlecht ist etwas Reales, eine viel tiefergehende Realität als das Sexuelle. Ja, Sexualität ist lediglich die Anpassung einer grundlegenden Polarität an die Erfordernisse des organischen Lebens, einer Polarität, die der gesamten Schöpfung gemeinsam ist. Die Sexualität einer Frau ist einfach eine der Erscheinungsformen des weiblichen Geschlechts; es gibt viele weitere, und das Männliche und das Weibliche begegnen uns auf Ebenen der Realität, auf denen eine Unterscheidung zwischen Mann und Frau schlichtweg unsinnig wäre.«

 

Lewis verglich die Unterschiede zwischen Maskulinem und Femininem mit denen zwischen Rhythmus und Melodie oder zwischen einer geballten Faust und einer offenen Hand. Was ich in meinem Inneren hörte, war eine Melodie, das stand fest, kein Trommelrühren und keine Fanfare, und mein Verstand mochte zwar bisweilen geballt sein, aber mein Herz war ja nur zu offen. Später wurde es Mode, von meinem Zustand als »Geschlechtsverwirrung« zu reden, aber ich finde diesen Ausdruck unpassend und bigott: Ich habe an meiner geschlechtlichen Identität seit jenem Augenblick unter dem Klavier, in dem sie mir klarwurde, kein einziges Mal mehr gezweifelt. Nichts auf der Welt hätte mich dazu gebracht, meinem Geschlecht untreu zu werden, auch wenn es weiterhin vor aller Welt verborgen blieb; mein Körper hingegen, meine Organe mit allem, was dazugehörte, schienen mir weit weniger sakrosankt, und um vieles uninteressanter dazu.

Was nicht heißen soll, dass ich unempfänglich für körperliche Anziehung gewesen wäre. Zu den namenlosen Sehnsüchten, die mich auch weiterhin bedrängten, gehörte der Wunsch, einen tieferen, physischeren Anteil am Leben zu erhalten. Ich hatte den Eindruck, dass mir zu den großen Grundkonstanten des menschlichen Lebens, Geburt und Tod, irgendwie der Zugang fehlte, sodass ich nicht dazugehörte und alles nur von Ferne sah, als spähte ich durch eine Fensterscheibe. Die Leben anderer Menschen um mich herum schienen mir echter, weil sie näher an jenen Grundkonstanten waren, eine vertrauliche Verbindung mit ihnen eingegangen waren. Kurz, heute sehe ich, dass ich mir damals sehr gewünscht habe, ich könne eines Tages Mutter werden, und vielleicht war die Tatsache, dass ich mich so sehr mit der Jungfrauengeburt beschäftigte, nur meine Art, einzusehen, dass ich das niemals sein konnte. Mein Leben lang habe ich Babys gern gehabt, mit jener geradezu zwanghaften Begehrlichkeit, die vermutlich unglückliche alte Jungfern in einem bestimmten Alter zur Kindesentführung treibt; und als ich später in das Alter kam, in dem andere Mütter werden, aber auch weiterhin dazu nicht in der Lage war, tat ich das Zweitbeste und wurde stattdessen Vater.

Was hätte Bolsover gesagt, wenn ich, mich aus der Umklammerung seiner Lenden lösend, solche Sophistereien als Rechtfertigung vorgebracht hätte? Aber für mich war das alles offensichtlich. Ich war im falschen Körper zur Welt gekommen, weiblich in meiner Identität, männlich in den Organen, und zu meiner wahren Bestimmung konnte ich nur kommen, wenn eins dem anderen angepasst wurde. Ich habe darüber nun seit vier Jahrzehnten nachgedacht, und auch wenn ich weiß, dass eine solche absolute Erfüllung sich niemals erreichen lässt – ein Mann kann nicht Mutter werden, nicht einmal durch ein Wunder –, bin ich bis heute zu keinem anderen Schluss gekommen.

4

Vom Colonel begrüßt – Soldatenleben – inkognito im Kasino – Otto – Unpersonen

Ich war immer noch kaum mehr als ein Schuljunge, als ich am Ufer des Tagliamento in Venezia Giulia ins Zelt des Colonels trat und dieser, der kommandierende Offizier des 9. Regiments der Queen’s Royal Lancers, sich zu meiner Begrüßung erhob. Doch es war ein Schritt in eine Männerwelt, in die des Krieges und der Soldaten. Ich kam mir vor wie eine jener unglaubwürdigen Romanheldinnen, die, verkleidet in Stulpenstiefeln und Waffenrock, in Scharen aufs Schlachtfeld ziehen, des Ruhmes und der Liebe wegen; und dass der Colonel einen unbekannten und gänzlich unspektakulären kleinen Soldaten, der sich zum Dienst meldete, mit einer so kultivierten Geste begrüßte, schien mir ein gutes Omen. Und ein solches war es auch. Obwohl ein Fremder, jemand, der unter falschen Vorzeichen gekommen war, wurde ich in der Armee freundlich aufgenommen; und keineswegs hat meine Militärzeit einen Mann aus mir gemacht, sondern ich empfand mich dort mit nur umso größerem Stolz in meinem Innersten als Frau.

Schon seit ihrer Gründung im Jahr 1715 als Owen Wynns Dragoner waren die 9. Lancers berühmt für ihr glanzvolles Leben, sie waren exklusiv wie ein Club, und die Zeit damals, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, war ihre größte Blütezeit. Sie waren das Musterbild eines mechanisierten Kavallerieregiments, einer erfolgreichen Verbindung aus Tradition und moderner Technik, und als ich bei ihnen eintrat, ritten sie noch ganz auf der Welle des Erfolgs, sie waren in Form, in bester Verfassung, mit gutem Grund stolz auf sich, hatten sie doch die Deutschen von El Alamein bis an den Po gejagt. Ich mochte sie von Anfang an, und so kurz meine Zeit bei dieser schmucken, eleganten Truppe auch war, habe ich mir bis an ihr Ende – 1960, als sie mit den 12. zusammengelegt wurden – stets meine Zuneigung zu ihnen bewahrt. Von Italien ging ich mit den 9. nach Ägypten und dann, zum Nachrichtenoffizier befördert, für die letzten Jahre des britischen Mandats nach Palästina. Sie haben mich nie als einen der ihren behandelt, und dafür war ich dankbar: Sie hießen mich willkommen als vorübergehenden Besucher von jenseits einer nicht näher bezeichneten Grenze, und das schien mir genau richtig so.

Das Soldatenleben hat mich auf eine paradoxe Weise seit jeher angezogen. Später sollte ich Militarismus unter ganz anderen Bedingungen sehen, denn ich folgte den Armeen des Westens auf ihren langen Rückzugsgefechten am Ende der imperialistischen Ära, aber so bedrückend diese Erfahrung auch war, hat sie mir doch nie meinen perversen Respekt vor dem Soldatenleben ausgetrieben. Ich habe die militärischen Tugenden stets bewundert, Mut, Schneidigkeit, Loyalität, Selbstdisziplin, und ich mag das schmucke Äußere des Militärs. Ich mag die hageren, gebeugten Silhouetten der Infanteristen, den wiegenden Gang der Fallschirmjäger, die martialische Präzision bei einer Einschiffung oder einer Parade. Besonders Panzer, die ich seinerzeit allzu gut kannte, haben mich immer fasziniert. Sie sind, hat man mir in Sandhurst beigebracht, nichts weiter als bewegliche Geschütze: All der komplizierte Antriebs- und Steuermechanismus, all die Gestänge und Gelenke und Klappen sind nur dazu da, die Kanone in Stellung zu bringen, und dann schießt sie einfach geradeaus.

Vielleicht ist es diese sture Zielstrebigkeit, die mir gefällt, und das, was ich, selbst nur schwach gepanzert, meine Bewaffnung leicht, am Soldatentum bewundere, das Unmittelbare seiner Macht. Wie dem auch sei, das Leben, in das ich beim 9. Lancers-Regiment in jenen Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg Einblick bekam, war Militär von der weniger barbarischen Art, und ich konnte nur immer wieder staunen, wie sanft und rücksichtsvoll diese reine Männergesellschaft war. Der Rückzug aus dem Empire begann damals erst, man war sich seiner noch gar nicht bewusst, und zwar wurden wir unvermeidlich auch in ein oder zwei der kleinlichen Konflikte hineingezogen, mit denen man es als imperiale Macht zu tun hat, aber wir hatten in Italien, Ägypten und Palästina doch reichlich Zeit für die häusliche Seite des Soldatenlebens.

Denn häuslich kann man es in vielerlei Hinsicht nennen, und der Umgang, der in einem solchen Korps gepflegt wurde, barg mancherlei Raffinesse. Die Einheit war klein – an die 30 Offiziere, würde ich sagen, und 700 Mann. Die Leute waren jung. Sie konnten boshaft sein. Alle kannten einander bis ins Kleinste, und nicht immer mochten sie sich. Die Kluft zwischen Offizieren und Männern war tief und eindeutig: Als ich Jahre später noch einmal dort war, um über die Auflösung der 9. Lancers zu schreiben, sagte ein Feldwebel zu mir, für seine Begriffe sei das englische Klassensystem eines der Erfolgsgeheimnisse des Regiments über so lange Zeit gewesen – »da musste niemand neidisch sein, verstehen Sie, jeder wusste, wo er hingehörte«. Ich selbst hatte allerdings das Gefühl, dass ich ein wenig abseits von dieser kleinen Hierarche stand, und mein eigenes Verhältnis zu den Soldaten, für die ich verantwortlich war, war eher von Nachbarschaftlichkeit als von Rang bestimmt; im Gegenzug vertrauten sie mir Bitten und Intimitäten an, die sie, möchte ich mir schmeicheln, nicht all meinen Kollegen anvertraut hätten (von denen die meisten, das muss ich kaum eigens sagen, für ihre Männer genauso viel auf sich genommen hätten wie für sich selbst, wenn nicht mehr).

Unter den Offizieren herrschte ein starkes Familiengefühl. Eigentlich fühlte es sich überhaupt nicht an, als sei man beim Militär. Alter spielte keine Rolle, vom Rang redete niemand. Keiner nannte einen anderen »Sir«. Der Colonel war Colonel Jack oder Colonel Tony. Alle anderen nannten sich beim Vornamen. Dass man höflich zueinander war, war keine Konvention, sondern Selbstverständlichkeit, eine Gewohnheit, weil es für alle am bequemsten so war. Es war ein Regiment fast ganz aus Berufssoldaten. Leute wie ich, die durch den Krieg hinzugekommen waren, waren nur eine kleine Minderheit, und auch da hatte in vielen Fällen die Familie eine Beziehung zu den Neunten. Was die Offiziere miteinander verband, war also etwas wie ein gemeinsames Erbe, sodass Lanze und Federbusch, Reiterkarabiner und Kürass für uns alle gegenwärtig blieben. Das waren immer noch die Delhi Spearmen, die Kämpfer aus dem Indienaufstand, und auch wenn die meisten von uns nur sehr vage Vorstellungen von der Regimentsgeschichte im Einzelnen hatten, war doch zu allen Zeiten in der Offiziersmesse die Aura vergangener ruhmreicher Taten zu spüren (nicht dass je jemand so taktlos gewesen wäre, die Sprache darauf zu bringen, denn wenn es eine Eigenschaft gab, die die 9. Lancers auf gar keinen Fall an den Tag legen wollten, dann war es Beflissenheit).

Auch gemeinsame Vorlieben und Verhaltensnormen konnten damals noch eine solche Männergesellschaft zusammenhalten. Die englische Welt war noch nicht in Stücke zerbrochen, und von einem gewissen Maß an Gemeinsamkeiten konnte jeder ausgehen. »Wer war Jorrocks?«, fragte eines Tages ein frisch angekommener Einfaltspinsel, als wieder einmal die Unterhaltung bei der Lieblingslektüre der 9. Lancers angekommen war – damals kannte jeder, der je auf einem Pferd gesessen hatte, die Romane von Robert Surtees. Eine kurze verdatterte Pause. »Wer war Jorrocks?«, fragte einer wie ein ungläubiges Echo. »Junge, wo kommst du denn her?« Keiner hatte etwas dagegen, dass man seine persönlichen Interessen verfolgte, aber für jeden war es selbstverständlich, dass man, wenn man keinen Surtees las, sich nicht viel aus Pferden machte, auf keiner akzeptablen Schule gewesen war und ohnehin eigentlich lieber zum Panzerregiment gegangen wäre, doch wenigstens vernünftig und kultiviert genug war, zu solchen Dingen den Mund zu halten. Dass jemand mit körperlichen Leistungen prahlte, wurde hingenommen, aber wer seinen Verstand herausstellte, machte sich unbeliebt; das Regiment war voller hochintelligenter Männer, aber ein zufälliger Besucher hätte nie etwas davon bemerkt, denn sie dämpften in der täglichen Geselligkeit bewusst den Ton, und erst wenn man einmal mit einem von ihnen allein sprach, entdeckte man, zu welchen Höhen sich die Konversation aufschwingen konnte. Das war schon immer so gewesen; unter den 9. Lancers früherer Generationen hatte es einen Offizier gegeben, der sein Cello mit auf den Chinafeldzug von 1840 genommen hatte, damit er auch dort seine Streichquartette spielen konnte, und von einem anderen berichtete die Times in den fünfziger Jahren in ihrem Nachruf, er sei noch in Attacken zu Pferde mitgeritten, im Himalaja habe er eine neue Spezies von Mohnblume entdeckt, und seine Übersetzung der Oden des Horaz biete ein hervorragendes idiomatisches Englisch.

Den weiblichen Teil meiner Leserschaft möchte ich bitten, sich einmal auszumalen, wie ihnen zumute wäre, wenn sie, überzeugend als junger Mann verkleidet, in späten Teenagerjahren Eingang in diese eigentümliche, geschlossene Männergesellschaft gefunden hätten. Denn so kam ich mir vor. Das Militär hatte meine Vermutung bestätigt, dass ich grundsätzlich anders als meine männlichen Zeitgenossen war. Zwar genoss ich die Gesellschaft von Mädchen sehr, aber ich hatte keinerlei Wunsch, mit ihnen ins Bett zu gehen, und die sexuellen Ambitionen, die einen so großen Teil des Verstands meiner Kollegen beanspruchten, kamen mir einfach überhaupt nicht in den Sinn. Was ich an sinnlichen Tagträumen hatte, war um vieles unbestimmter, in ihnen ging es mehr um Küsse als um Kopulation. Ich glaube, ich sehnte mich wirklich nach der Liebe eines Mannes. Wenn ja, dann unterdrückte ich diesen Impuls; denn was ich unter Geschlecht verstand, unterschied sich vom Begriff meiner Freunde wie Käse von Kreide, wie ein Paukenhieb von einer Serenade. Ich konnte die Dringlichkeit dieses männlichen Verlangens nicht teilen, die selbstgewisse Maskulinität, die diese Soldatengemeinschaft zusammenhielt und den Männern half, so tapfer manch schwere Prüfung durchzustehen.

 

Als Erstes, meine Damen, würden Sie, wenn Sie selbst in die Lage kämen, wohl finden, dass es etwas ausgesprochen Interessantes ist. Wie eine Spionin in einem freundlichen Feindeslager oder vielleicht ein Dinnergast in einem der traditionelleren Londoner Clubs würden Sie der Faszination erliegen, dahinterzukommen, wie es auf der anderen Seite zugeht. Was mich betrifft, ich denke, das Schriftstellerhandwerk habe ich im Wesentlichen bei den 9. Lancers gelernt, denn in diesem Regiment entstand bei mir ein beinahe anthropologisches Interesse an den Einstellungen und Verhaltensweisen der Männer; und während ich sozusagen inkognito mit ihnen zusammensaß, entwickelte ich die Analyse- und Beobachtungstechniken, die mir später bei meiner Arbeit so gute Dienste leisten sollten. Ich empfand mich dabei, genau wie es meinen Leserinnen ginge, als vollkommen anders als die anderen; denn jetzt sah ich, wie tief das Verhalten aller von ihrer männlichen Sexualität geprägt war und wie sehr ich gerade die nicht hatte.

Auch Sie hätten sich privilegiert gefühlt. Als habe man die Erlaubnis, heimlich zu lauschen. Heute schwindet bei mir die Erinnerung daran, wie es war, als Mann mit Männern zusammenzusitzen, und ich werde es nie wieder können; aber selbst damals schon hatte ich das Gefühl, dass es ein Glücksfall war, dort dabei zu sein. Es überraschte mich, dass sie ihre Ansichten mit mir teilten. Auf eine merkwürdige Art schmeichelte es mir, dass sie mich als einen der ihren ansahen. Heute höre ich manchmal zufällig mit an, wie in einer Männerrunde ein Witz oder ein Erlebnis erzählt wird, nicht unbedingt etwas Schlüpfriges, aber doch etwas, das sie in Gegenwart einer Frau nicht erzählen würden; und dann denke ich bei mir nicht ohne ein gewisses Maß an Wehmut, dass damals, vor langer Zeit im Kasinozelt der 9. Queen’s Royal Lancers, die Männer dergleichen ohne Weiteres mit mir geteilt hatten.

Aber was Ihnen am meisten Vergnügen gemacht hätte, wäre schlicht und einfach die Gesellschaft von so vielen gutaussehenden und gutgelaunten jungen Männern gewesen. Damals ist es mir nicht recht zu Bewusstsein gekommen, aber unzweifelhaft habe ich es selbst so empfunden. Auch weiterhin hütete ich mein Geheimnis, aber mittlerweile genoss ich es, dass ich verwöhnt wurde, und immer häufiger kam es vor, dass Männer wie Frauen instinktiv das Weibliche in mir spürten. Mit Frauen konnte ich in solchen Fällen entspannter umgehen als je zuvor, denn galant zu tun war für mich immer harte Arbeit; bei Männern verschaffte es mir unerwartete Vorteile. Beim Militär hatte es mir, wie zuvor auf der Schule, nie an Beschützern gefehlt. Wenn meine Bücher gestohlen wurden, war jemand da, der sie mir zurückholte. Wenn ich bei einer Debatte ins Hintertreffen geriet, sprang mir jemand zur Seite. Wenn in meiner Zeit im Ausbildungslager der Panzertruppe mein blödsinniges Motorrad nicht ansprang, musste ich nie lange kicken. In Sandhurst teilte ich das Zimmer mit einem Mitkadetten, der, scheint mir, wenn ich heute wehmütig daran zurückdenke, bereit war, alles für mich zu tun, was ich ihm auftrug, und je mühsamer die Aufgabe, desto bereitwilliger. Echte Not würde ich nie leiden müssen, sagte ich mir schon bald recht selbstgefällig –, immer würde jemand da sein, der einsprang, mir die Last abnahm, mir verzieh. Bestimmt kennen Sie dieses Gefühl.

Nur selten steckte hinter solcher Freundlichkeit etwas eindeutig Homosexuelles. Ich machte damals nach außen hin noch keinen femininen Eindruck, und ich selbst verstand mich nicht im Mindesten als Homosexueller. Aber im ganzen Dasein der englischen Oberschicht gab es, wie mir später deutlicher zu Bewusstsein kommen sollte, einen Zug zum Bisexuellen. Das System der Public Schools, das Gehemmte der typisch englischen Umgangsart, die Toleranz, die man Käuzen und Spinnern jeglicher Art so gern entgegenbrachte – all diese Elemente sorgten dafür, dass der Umgang zwischen Männern voller emotionaler Nuancen und Untertöne war. Die großen Kavallerieregimenter des Militärs von damals waren dabei keine Ausnahme, und im Allgemeinen sah man es gern, wenn junge Offiziere rosig und hübsch waren. Es war eine harmlose Quichotterie, teils ein Spiel, teils, nehme ich an, Kompensation, und wenn es überhaupt je über das Platonische hinausging, ist dergleichen zumindest mir nie begegnet.

Aber es lag in der Luft, selbst bei den 9. Queen’s Royal Lancers, den Delhi Spearmen, und das Soldatenleben wurde dadurch aufregender, pikanter. Ich weiß noch, wie ein Offizier sich bei mir einmal über den Stiernacken eines Untergebenen beklagte und ich es unfair fand, einen tüchtigen Panzerkommandanten einer ästhetischen Erwägung wegen geringzuschätzen; ein andermal veranstalteten die niederen Ränge untereinander ein Quiz, mit dem sie eine Rangliste ihres eigenen guten Aussehens erstellen wollten. Natürlich gab es auch Frauengeschichten. Einmal eskortierte ich einen aufgeregten Offizierskollegen bis an die Schwelle eines Triester Bordells, sein erster Ausflug in die Halbwelt – wie bleich er dort stand im Licht der Straßenlaterne, mir schon beinahe verzweifelt nachsah, während er wartete, dass die Tür sich öffnete, und ich in die Nacht davonfuhr! Manchmal taten sie auch, was die Konvention von ihnen erwartete, flirteten mit den Ehefrauen reicher Griechen in Alexandria oder ließen schaudernd über sich ergehen, was Port Said an Unterhaltung zu bieten hatte. Die meiste Zeit aber vergnügten sie sich gemeinschaftlich, führten ein überraschend keusches Leben, und wenn ich heute an sie zurückdenke, scheinen sie mir allesamt geradezu rührend naiv.

Für mich war es ein Spaß, ein echter Spaß, in solch einer Gesellschaft hinaus in die Welt zu gehen. Finden Sie nicht auch? In Italien lernten wir die Freuden des Weins kennen, ebenso die der Oper. In Ägypten tauchten wir ein in die Welt der Kosmopoliten – jene schillernde Gemeinschaft der Levante, die damals noch das Leben in Alexandria prägte, die Welt der Paschas und der Zuhälter, der Baumwollmagnaten und der maltesischen Geschäftsleute. In Österreich begegnete uns zum ersten Mal die Kultur Mitteleuropas, die meine Mutter, die in Leipzig zur Schule gegangen war, so tief geprägt und deren Dichtung und Musik unser Zuhause erfüllt hatte. In Palästina hatten wir es mit gewieften Jerusalemer Arabern zu tun, verbitterte Patrioten luden uns zum Tee. Es war eine Grand Tour, weit größer als jede, die die feinen Herrschaften je erlebt hatten, und dabei hatten wir die Schwelle zum Erwachsenenleben ja noch kaum überschritten. Als unser Truppentransporter aus Italien in Port Said eintraf, gingen ein Freund und ich in ein Restaurant in der Stadt. »Heiliger Strohsack!«, rief er, als er die Weinkarte las. »Rheinwein! Das wird ein Spaß, den mal wieder zu trinken, nach all den Jahren!« Damals zollte ich seiner Kennerschaft Respekt, aber wenn ich heute nachrechne, geht mir auf, dass er gerade erst sechzehn gewesen sein kann, als er ihn zum letzten Mal getrunken hatte.

An manche dieser Abende denke ich heute mit jener Seligkeit zurück, mit der eine Frau vielleicht an die Abende zurückdenkt, als sie zum ersten Mal mit einem Mann ausging, im zarten Übermut ihrer Mädchenzeit. Zum Beispiel sehe ich es noch vor mir, wie ich mit einem Offizierskollegen am Fenster eines Restaurants in Triest sitze und durch das dicke Glas zwei Straßenjungen sich mühen, unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Mit jener Pantomime flehentlichen Selbstmitleids, die man damals überall in Europa sah – sie rieben ihre kleinen Bäuche, um zu sagen, dass sie Hunger hatten, spielten uns mit Augenwischen Tränen vor, hielten sich bei den Händen zum Zeichen, dass sie Waisen waren, hoben die Füße, damit wir ihre zerschlissenen Schuhe sahen. Sie können von den wohlgenährten jungen Offizieren dort drin nicht viel erwartet haben, mehr als dass man ihnen eine Lira oder zwei hinwarf, waren sie nicht gewohnt, doch einer plötzlichen Laune des Mitleids folgend, die ihn mir für alle Zeit lieb gemacht hat, zog mein Waffenbruder aus seiner Brieftasche eine wirklich große Banknote, zehn- oder vielleicht zwanzigtausend Lire in der Inflationswährung jener Tage, und schickte den Kellner los, um sie den beiden zu bringen. Verdattert nahmen sie sie entgegen. Sie trauten ihren Augen nicht. Sie starrten sie an. Sie drehten sie um. Sie sahen zuerst einander an, dann uns. Und dann, als sie endlich begriffen, was für ein unverschämtes Glück sie da gerade gehabt hatten, sprangen sie wie auf Kommando los, stürzten überglücklich die Straße hinunter, sie tanzten, hüpften, flogen beinahe, zwei schmutzige kleine Flecken aus Beinen, wehenden Kleidern und zerzaustem Haar, und lachend verschwanden sie um die nächste Ecke in Richtung Hafen.

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