Satzinterpretationsstrategien mehr- und einsprachiger Kinder im Deutschen

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Eine höhere formale Eindeutigkeit und damit die Möglichkeit, eine N>N-Struktur als O>S-Satz zu identifizieren, besteht in Sätzen mit dativregierenden Verben (Bsp. 13–16). Da sowohl im Neutrum als auch im Femininum die formale Abgrenzung zwischen Nominativ/Akkusativ versus Dativ besteht, können Sprecher in entsprechenden Fällen auf die Kasusinformation zurückgreifen. Eine potentielle Schwierigkeit für Lerner besteht lediglich bei der Einordnung des Markers derdat. Ist ihnen das Genus der NP nicht bekannt oder sind sie in der Genuszuweisung unsicher, kann die Form derdat in den Beispielen 14 und 16 auch als morphologisch unmarkierte maskuline NP und damit als Agensmarker verarbeitet werden.

Die Gegenüberstellung des Niederländischen und Deutschen zeigt, dass Wortfolge und Kasusmarker als Indikatoren für semantische Relationen in unterschiedlichem Umfang verfügbar sind. Im Niederländischen verweist die Abfolge N>N immer auf S>O, morphologische Marker spielen keine Rolle. Das Deutsche verfügt zwar über Kasusmarker, jedoch sind sie je nach Genus häufig intransparent. Die Konstituentenabfolge gewinnt damit an funktionaler Validität. Im Vergleich zum Niederländischen ist die Wortstellung als Indikator für semantische Relationen im Deutschen zwar deutlich weniger valide, aber trotzdem relevant.

Anders als das Deutsche, ist das Russische eine morphologisch ausdifferenzierte Sprache, die in nur geringem Ausmaß einen Formenabbau erfahren hat. Das Russische verfügt über insgesamt sechs Kasus, die sich am Substantiv sowie bei Verfügbarkeit auch am attributiven Adjektiv zeigen: Nominativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv, Instrumental und Präpositional.10 Parallelen zum Deutschen gibt es im Bereich der Formenbildung. In beiden Sprachen ist die Kasusform jeweils vom Genus und Numerus des Substantivs abhängig, sodass die entsprechenden Funktionsträger (im Deutschen die Artikel, im Russischen das Flexionsmorphem am Substantiv) jeweils unterschiedliche grammatische und semantische Kategorien kennzeichnen. Einen Überblick über das russische Kasussystem (Singular) bietet Tabelle 4.11


Tabelle 4: Kasussystem des Russischen (Singular)

Das Deklinationsparadigma ist im Russischen nicht nur vom Genus und damit von der phonologischen Wortstruktur, sondern auch von der Belebtheit abhängig. Maskulina, die auf einen Konsonanten auslauten, und alle Neutra12 können in einer Deklinationsklasse zusammengefasst werden. Charakteristisch für diese Klasse ist der Formenzusammenfall zwischen NOM und AKK bei unbelebten Substantiven. Bei belebten Konstituenten werden Nominativ und Akkusativ morphologisch unterschieden; stattdessen entspricht in dieser Klasse der Akkusativ dem Genitiv. Diese Differenzierung ist besonders für die Maskulina relevant, da es bei den Neutra nur zwei belebte Lexeme gibt (neben dem in Tabelle 4 aufgeführten Lexem životnoe nur dit’jo (Kind), dessen Gebrauch im Singular sehr selten ist und das tendenziell durch das Synonym rebjonokmask ersetzt wird). Tendenziell sind also im Russischen alle Neutra unbelebt und dadurch im NOM und AKK formidentisch.

Einen Sonderfall bilden die Feminina, die aufgrund zweier unterschiedlicher phonologischer Strukturen in zwei Klassen unterteilt werden. Differenziert wird zwischen Feminina auf -a13 (Feminina I) und Feminina, die auf einem palatalisierten alveolaren Frikativ ([sj], [zj]) oder einer postalveolaren Affrikate ([džj], [tʃj]) auslauten (Feminina II). Letztere Gruppe zeichnet sich wie die unbelebten Maskulina und Neutra durch einen Formenzusammenfall im NOM und AKK aus und enthält überwiegend unbelebte Lexeme.14 Die größere Gruppe der Feminina auf -a, die sowohl belebte als auch unbelebte Lexeme umfasst, differenziert hingegen zwischen diesen beiden Kasus. Dadurch, dass Feminina der Klasse II mehrheitlich unbelebt sind, äußern sich die Differenzen in der phonologischen Struktur der beiden Femininagruppen tendenziell auch in einer Belebtheitsunterscheidung, die sich wiederum auf das Formenspektrum der Kasusformen auswirkt. Wie im Deutschen gibt es dadurch auch im Russischen in bestimmten Kontexten multifunktionale Formen zwischen NOM und AKK. Während jedoch im Deutschen der Zusammenfall auf bestimmte Genera (Neutra und Feminina) eingegrenzt ist, ist im Russischen sowohl die Genusdifferenzierung (Maskulina vs. Neutra) als auch die Belebtheit und damit auch die phonotaktische Wortstruktur für eine potentielle Formidentität ausschlaggebend.

Weitere Gemeinsamkeiten zwischen dem deutschen und dem russischen Kasussystem finden sich in der Verwendung eines Flexionsmarkers für unterschiedliche Kasus in unterschiedlichen Genera. So wird zum Beispiel die Flexionsendung -u sowohl als Dativmarker bei Maskulina und Neutra als auch als Akkusativmarker bei Feminina des Typs I verwendet. Solche Formzusammenfälle sind jedoch im Gegensatz zum Deutschen seltener. Ebenso selten kommt der Fall vor, dass innerhalb einer Deklinationsklasse ein Flexiv mehrere Kasus abdeckt. Dies ist insbesondere für Feminina des Typs II der Fall, bei denen die Endung -i sowohl im Dativ als auch im Genitiv gebraucht wird. In den übrigen Genera finden sich solche Formzusammenfälle – mit Ausnahme des NOM-AKK-Zusammenfalls bei unbelebten Substantiven – kaum. Auch wenn das Russische also keine 1:1-Korrespondenz zwischen Kasusmarker und Funktion aufweist, ist der Anteil der Synkretismen deutlich niedriger als im Deutschen und die Validität morphologischer Marker entsprechend höher. Weiterhin gibt es anders als im Deutschen keine Formidentität zwischen einem Dativ- und einem Nominativmarker. Eine Endung wie -u oder -i ist stets als oblique Form deutbar und kann nie im Nominativ auftreten.

Somit gibt es zwar zentrale Parallelen zwischen dem deutschen und dem russischen Kasussystem, jedoch auch zentrale Unterschiede. In beiden Sprachen ist die Kasusform vom Genus und Numerus des Substantivs abhängig. In beiden sind Kasusmarker nicht eindeutig, sondern multifunktional. Jedoch ist im Russischen das Kasusparadigma innerhalb der einzelnen Deklinationsklassen und damit der einzelnen Genera formal ausdifferenzierter als im Deutschen. Die paradigmatische Ausdifferenziertheit der Kasusflexive führt schließlich dazu, dass in den meisten Fällen eine eindeutige Abgrenzung zwischen dem Nominativ und den obliquen Kasus stattfinden kann.

Geht man auch für das Russische davon aus, dass der Nominativ überwiegend zur Markierung des Agens genutzt wird, so verweist die formale Differenzierung [+/-MORPHOLOGISCH MARKIERT] auf die Unterscheidung [+/-AGENS]. Dass diese grundlegende Unterscheidung auch für den Erwerb von Kasus­flexiven relevant zu sein scheint, erschließt sich aus einer Studie von Gagarina/Voeikova (2009). Sie können zeigen, dass die von ihnen untersuchten einsprachig russischen Kinder zunächst in den produktiven Deklinationsklassen I und II spezifische Kasusoppositionen (unmarkiert für Nominativ sowie markiert für fast alle anderen Kasus) aufbauen. Sobald ihr Gebrauch einsetzt (als „mini-paradigms“ (ebd.: 197) bezeichnet), durchlaufen die Lerner eine Art „morphological spurt“ (ebd.: 193). Dabei kommt eine Reihe neuer Lemmata hinzu, die sowohl morphologisch markiert als auch unmarkiert gebraucht werden. Die obliquen Formen werden dabei zunächst unsystematisch verwendet, sodass im L1-Erwerb zuerst die Dichotomie [-MARKIERT] vs. [+MARKIERT] zur Differenzierung von Agens und Nicht-Agens etabliert wird. In einem zweiten Schritt werden dann die nicht-agentivischen obliquen Marker systematisch differenziert.

Im Deutschen ist eine analoge Formeindeutigkeit in Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Agens und nicht-agentivischen Rollen paradigmatisch nur im Maskulinum gegeben. Dies führt laut Kempe/MacWhinney (1999) dazu, dass der Anteil von Sätzen, die keine eindeutige Kasusmarkierung haben, im Deutschen höher ist als im Russischen. Zurückzuführen ist dies auf einen höheren Anteil neutralisierter Formen im Akkusativparadigma im Deutschen (s. Tabelle 3, Beispiele 11 und 12).15 Die Abhängigkeit vom Maskulinum als disambiguierende Form schränkt die Verfügbarkeit morphologisch eindeutiger Formen ein, wodurch die Validität von Kasusmarkern als Indikatoren für semantische Relationen im Deutschen geringer ist (ca. 50 %) als im Russischen (ca. 90 %; vgl. Kempe/MacWhinney 1998). Zurückzuführen ist dies wiederum auf die Belebt­heit im Russischen. Sobald ein belebtes Substantiv gebraucht wird, ist eine ambige Lesart des Satzes ausgeschlossen. So wäre in einem Satz wie stol-ømask/akk vidit brat-ømask/nom (Tischakk sieht Brudernom) trotz einer fehlenden morphologischen Markierung der präverbalen NP die einzige in Frage kommende Lesart hier OVS. Wäre nämlich brat hier nicht Agens, sondern Patiens, müsste aufgrund des Merkmals [+BELEBT] das Akkusativflexiv -a realisiert werden. Der Satz wäre also nur dann ambig und würde die Wortstellung als einzigen Indikator zulassen, wenn beide Konstituenten unbelebt wären, was wiederum sehr selten ist.16 Insgesamt sind die Bedingungen, in denen die Konstituentenabfolge der einzige Indikator für semantische Relationen wäre, im Russischen auf sehr spezifische Kontexte eingegrenzt. Funktional transparente Kasusmarker sind meistens verfügbar und limitieren den Validitätsstatus der Konstituentenabfolge.

Kempe/MacWhinney (1999) können anhand eines Reaktionszeitexperiments zeigen, dass sich die hohe Validität der Kasusmarker im Russischen auch auf Satzverarbeitungsstrategien auswirkt. Russischsprachige Probanden wählen bei OVS-Sätzen mit transparenter Kasusmarkierung schneller N2 als Agens als deutsche Sprecher. Das heißt, dass deutsche Sprecher bei einem Satz wie Den Teller sucht die Mutter länger für die Agenswahl benötigen als russische Sprecher bei äquivalent konstruierten russischen Sätzen (Tarelkuakk iščet mat´nom). Weiterhin können Kempe/MacWhinney belegen, dass russischsprachige Erwachsene semantische Informationen wie Belebtheit ignorieren, während deutsche Probanden sie mitberücksichtigen. So benötigen deutsche Sprecher für die Verarbeitung von Sätzen wie Die Blume sucht den Mann länger als russische Sprecher in äquivalenten Kontexten. Die Verarbeitungsdauer bleibt bei ihnen unabhängig von der Belebtheitsinformation unbeeinträchtigt. Kempe/MacWhinney folgern daraus (ebd.: 151), dass der generelle Validitätsstatus morphologischer Kasusmarker innerhalb der untersuchten Sprachen Deutsch und Russisch einen Einfluss darauf hat, wie gut die Sprecher den formalsprachlichen Markern ‚trauen‘. Die grundsätzlich geringere Verfügbarkeit eindeutiger transparenter Kasusmarker im Deutschen führt offensichtlich dazu, dass Sprecher andere Informationen im Satz (hier die Belebtheit) mitverarbeiten. Die deutlich höhere Validität von Kasusmarkern im Russischen hat zur Folge, dass sich Sprecher bei der Satzverarbeitung ausschließlich auf morphologische Informationen stützen.

 

Die Ergebnisse von Kempe/MacWhinney zeigen neben der unterschiedlichen Gewichtung unterschiedlicher Kodierungsmechanismen als Resultat typologischer Varianz auch, dass für Sprecher die Informationen der satzinitialen NP entscheidend sind. MacWhinney (1977) sowie Langacker (1998) verweisen in diesem Zusammenhang auf das starting point-Prinzip, das den Verarbeitungsprozess zu lenken scheint. So determiniert die semantische und morphologische Information innerhalb der satzinitialen NP, ob eine N>N-Struktur als S>O- oder O>S-Satz interpretiert wird. Je später dabei eine disambiguierende Form im Satz auftritt, desto unwahrscheinlicher wird es, dass diese überhaupt Berücksichtigung findet. Entscheidend für die Satzinterpretation sind besonders Informationen, die früh auftauchen (vgl. hierzu besonders Choi/Trueswell 2010). Besonders mit Blick auf das Deutsche hat dies Auswirkungen darauf, unter welchen Bedingungen eine N>N-Struktur als S>O- oder S>O-Satz interpretiert wird.

Die hohe formale Ausdifferenziertheit im russischen Kasussystem und die Verfügbarkeit synthetischer Marker führen dazu, dass die Abfolge der nominalen Konstituenten als Indikator für semantische Relationen kaum in Frage kommt. Dies äußert sich in einer relativ variablen Wortstellung, die charakteristisch für das Russische ist.


Die Übersicht bezieht sich auf einfache Aussagesätze sowie ihre einzelsprachlichen Realisierungsmöglichkeiten.17 Die Beispiele 17 bis 22 zeigen, dass im Russischen dafür sechs verschiedene Wortstellungsmöglichkeiten in Betracht kommen. Jede Variante ist dabei zwar abhängig von pragmatischen Faktoren, allerdings führt keine zu einer Veränderung der semantischen Rollen oder des Satztyps (vgl. Bailyn 1995, 2012 sowie Neidle 1988). Im Deutschen ist die Wortstellungsvarianz deutlich eingeschränkter, was nicht unmittelbar auf eine geringere Validität der Kasusflexive, sondern auf den Stellenwert der Verbposition, die wiederum mit spezifischen Satztypen korreliert, zurückzuführen ist. Lässt man die Position des Verbs außen vor und legt den Fokus auf die Abfolge von Subjekt und Objekt, zeigt sich mit Blick auf die Beispiele 19–22, dass die Reihenfolge der Konstituenten nur bedingt variabel ist. In den Sätzen 20 und 22 ist zwar die Position des Verbs veränderbar, eine O>S-Abfolge jedoch fragwürdig, wenn nicht sogar unmöglich, sofern es sich um nominale Konstituenten handelt.18 Während also die Verbposition im Deutschen relativ flexibel (beziehungsweise grammatikalisiert) ist, ist der Positionswechsel von Subjekt und Objekt stark eingeschränkt. Die Abfolge O > S ist dabei vor allem in Sätzen mit Verb­zweitposition akzeptabel, bei Verberst- und Verbletztsätzen hingegen stark eingeschränkt.

Ähnlichkeiten zwischen dem Deutschen und Niederländischen finden sich in Hinblick auf die Grammatikalisierung der Verbposition. Bei der Abfolge der Konstituenten gibt es jedoch mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Während die Realisierung des Objekts vor dem Subjekt im Deutschen zumindest in NVN-Sätzen gängig ist, ist sie im Niederländischen schlicht nicht möglich, sodass die Wortstellungsvarianten OVS, OSV sowie VOS im Niederländischen bei Kombination zweier nominaler Konstituten nicht vorhanden sind.19 Während also im Russischen die Abfolge zweier nominaler NPs sowohl auf eine SO- als auch eine OS-Struktur verweisen kann, ist die OS-Lesart im Deutschen auf spezifische Satztypen beschränkt und im Niederländischen nicht vorhanden.

Trotz der einzelsprachspezifischen Wortstellungsvarianten teilen sich die drei Sprachen eine zentrale Gemeinsamkeit. In allen Sprachen ist die kanonische Konstituentenfolge S>O (Bsp. 17) die neutrale Struktur für aktivische Hauptsätze (vgl. Bailyn 1995, Divjak/Janda 2008, Hawkins 1983 und Tomlin 1986 für das Russische, Musan 2010 für das Deutsche und Bouma 2008 für das Niederländische).20 In allen drei Sprachen wird also das Agens in der Regel satzinitial realisiert und ist morphologisch nicht markiert. Die Abfolge der Konstituenten interagiert mit dem Merkmal der morphologischen Markierung in Hinblick auf die Kennzeichnung semantischer Relationen.

Eine weitere Gemeinsamkeit der drei Sprachen ist die Belebtheitsopposition, die als semantische und damit nicht-grammatische Information gewertet werden muss (s. Bsp. 23 und 24).


Während in Beispiel 23 Konstituentenabfolge und Belebtheitskontrast in einem prototypischen Verhältnis stehen, führt die Belebtheitsopposition in Satz 24 dazu, dass die NPs die Nacht/noč´/nacht als Patiens und die Mutter/mat´/moeder als Agens interpretierbar sind, obwohl die Konstituentenabfolge für eine S>O-Lesart sprechen würde. Die Belebtheitsopposition kann also potentiell die kanonische Konstituentenabfolge als Hinweis auf satzinterne Rollenrelationen aushebeln, die hier aufgrund der fehlenden eindeutigen morphologischen Mar­kierungen als einzige Interpretationsgrundlage aktiviert werden müsste. Die Belebtheit hat folglich das Potential, als zur Konstituentenabfolge konkurrierende Information aufzutreten. Welche Option (Belebtheitsopposition oder Konstituentenabfolge) als Interpretationsgrundlage gewählt wird, hängt vermutlich mit ihrer einzelsprachspezifischen Validität zusammen, sodass es wahrscheinlich ist, dass sich niederländische Sprecher eher auf die Konstituentenabfolge stützen als russische.

Die Konstituentenabfolge hat für die Kodierung semantischer Relationen je nach Sprache einen unterschiedlich hohen Stellenwert. Im Niederländischen ist sie der hierarchiehöchste, im Russischen der hierarchieniedrigste Indikator. Das Deutsche lässt zwar Wortstellungsvarianz zu, die Relevanz der Konstituenten­abfolge für die Interpretation semantischer Relationen steigt jedoch im Gegensatz zum Russischen durch die hohe Anzahl der Synkretismen im Akkusativ. Stellt man einzelsprachliche Wortstellungsvarianzen und Kasussysteme in Relation zueinander, lässt sich folgende Tendenz beschreiben: Je ausdifferenzierter das Kasussystem und je höher damit die Validität morphologischer Kasusformen, desto variabler ist entsprechend die Wortstellung (vgl. dazu auch McFadden 2003; s. Abbildung 1).21


Abbildung 1: Interdependenz von Kasusmarkern und Wortstellungsvarianz (kontrastiv)

Abbildung 1 verdeutlicht das Zusammenspiel zwischen morphologischen Kasusmarkern und Wortstellungsvariationen in den drei untersuchten Sprachen. Das Niederländische ist am linken Pol angesiedelt, da es im nominalen Bereich nur über rudimentäre morphologische Kasusflexive verfügt und gleichzeitig keine Wortstellungsvarianz zulässt. Das Russische ist dem gegenüberliegenden Pol zugeordnet, da die ausdifferenzierte Kasusmorphologie (in Kombination mit einer fehlenden festen Verbstellung) eine große Anzahl variierender Wortstellungstypen zulässt. Das Deutsche bewegt sich zwischen den beiden Polen, wodurch seine typologische Besonderheit deutlich wird (vgl. auch Gladrow 1998: 204). Es ist eine Art Mischtyp.

Die sprachspezifischen Unterschiede haben Folgen für Verarbeitungsstrategien und -mechanismen. Kempe/MacWhinney (1999) sowie MacWhinney/Bates/Kliegl (1984) belegen für Sprecher des Deutschen, dass die Verfügbarkeit und die Transparenz von Kasusmarkern die Interpretation semantischer Relationen determiniert. Erwartungsgemäß sind in Sätzen wie Den Mann sieht die Frau zwar die Reaktionszeiten höher als bei kanonischen Sätzen, jedoch wird Frau stets als Agens eingestuft. Fehlt hingegen eine eindeutige morphologische Markierung (zum Beispiel in Max gefällt Inge), so wird die Relation zwischen den beiden Aktanten auf der Basis der Wortstellung bestimmt und Max als Agens ausgewählt (vgl. auch Draye 2002). Im Gegensatz zu russischen Sprechern ist jedoch die Verarbeitung von OS-Sätzen für deutsche Sprecher offenbar aufwändiger (vgl. Kempe/MacWhinney 1999). Kilborn/Cooreman (1987) können wiederum für das Niederländische und das Englische zeigen, dass die Wortstellung besonders ausschlaggebend für die Agenswahl ist. Sie stützen damit die Ergebnisse von Bates et al. (1982) für das Englische, was aufgrund seiner zahlreichen Parallelen gut auf das Niederländische übertragbar ist. Um die Relevanz der Konstituentenfolge im Niederländischen zu verdeutlich, soll die Studie von Kilborn/Cooreman (1987) an dieser Stelle kurz diskutiert werden. Kilborn/Cooreman stellen anhand von mono- und bilingualen niederländischen und englischen Sprechern gruppenspezifisch variierende Satzinterpretationsstrategien hinsichtlich der Nutzung von Merkmalen wie Belebtheitsopposition, Konstituentenabfolge und Subjekt-Verb-Kongruenz zur Determination semantischer Relationen heraus. Es wurde unter anderem geprüft, welche Konstituente die Probanden in Sätzen des Typs NVN (De giraffen bijten de vork [Die Giraffen beißen die Gabel]), NNV (De cigaret de kat kust [Die Zigarette die Katze küsst]) und VNN (Bekijt de muis de zeug [Sieht die Maus den Schnee]) als Agens wählen. Während die niederlän­dischen Probanden in allen Satztypen die jeweils erste der beiden NPs zu ca. 60 % als Agens auswählen, entscheiden sich die englischen Probanden vor allem in der VNN-Bedingung häufiger für die zweite NP als Agens. Die Folgerung der Autoren, dass die Wortstellung für die englischen Sprecher ein dominanterer Indikator für semantische Rollen sei, ist dabei nicht ganz nachvollziehbar. Bezogen auf die Abfolge der Konstituenten ist nämlich das Gegenteil der Fall. Kilborn/Cooreman stellen die These auf, dass sich das Niederländische trotz vieler Gemeinsamkeiten durch eine ausdifferenziertere Verbmorphologie vom Englischen abgrenzt. So seien im Niederländischen zum Beispiel auch VSO-Strukturen bei Fragesätzen möglich, wobei nicht darauf verwiesen wird, dass dies auch im Englischen für Fragesätze des Typs Does he love her? gilt. Dem Niederländischen wird also eine größere Wortstellungsvarianz zugesprochen als dem Englischen.22 Jenseits dieser Verbstellungsvarianzen dominiert im Niederländischen jedoch die Abfolge S>O. So verweisen die Autoren darauf, dass es im Englischen auch VOS- und OSV-Strukturen gibt, die im Niederländischen als VSO- sowie SOV-Sätze realisiert werden. Somit hätte Englisch ein höheres Varianzspektrum, weil hier sowohl SO- als auch OS-Strukturen möglich sind, das Niederländische hingegen fast ausschließlich von SO-Stellungen Gebrauch macht. Die Validität der Konstituentenfolge N>N als Indikator für S>O ist im Niederländischen deshalb besonders hoch. In den Ergebnissen spiegelt sich genau das wider: Unabhängig von der Testbedingung (NVN, NNV und VNN) wählen niederländische Probanden N1 sogar häufiger als Agens als englischsprachige Sprecher.

Zusammenfassend lässt sich folgern, dass aus funktionaler Perspektive sowohl die Konstituentenfolge N>N als auch Kasusmarker der Abbildung kausaler Relationen zwischen Agens und Nicht-Agens dienen können. Im Niederländischen wird die semantische Rollenrelation fast ausschließlich anhand der Konstituentenabfolge, im Russischen anhand der Kasusmorphologie und im Deutschen anhand von beiden Verfahren kenntlich gemacht. Typologisch gesehen ist Deutsch im Vergleich zum Niederländischen und Russischen als eine Art Mischtyp zu betrachten. Gemeinsam ist den drei Sprachen die kanonische Abfolge S>O. Unterschiede ergeben sich hinsichtlich der Validität von Konstituentenabfolge und Kasusmarkern als Indikatoren für semantische Rollenrelationen. Im Folgenden wird basierend auf diesen Feststellungen einerseits diskutiert, wodurch die Gemeinsamkeiten zustande kommen und andererseits ausgeführt, wie die Unterschiede divergierende Satzverarbeitungsstrategien bewirken (s. Kapitel 3).