Loe raamatut: «Der letzte Funke Licht»

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Der letzte Funke Licht

1. Auflage, erschienen 5-2021

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: Jana Pöchmann

Layout: Romeon Verlag

ISBN (E-Book): 978-3-96229-809-8

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Jüchen

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Jana Pöchmann

Der letzte Funke Licht

Für meine Oma, die immer für mich da war und mich immer unterstützt hat.

Ehringshausen 2021 - Jana Pöchmann

Kapitel 1

Es war Freitag und wir hatten nur noch zehn Minuten Unterricht. Eigentlich mochte ich Freitage immer sehr, denn danach stand das Wochenende vor der Tür. Aber seit diesem Schuljahr hasste ich Freitage. Warum?

Wir hatten in den letzten beiden Stunden Deutsch, und wenn ich ein Fach wirklich aus tiefstem Herzen verabscheute, dann war es DEUTSCH!

„Avery, komm bitte an die Tafel und sag uns, was du bei der letzten Aufgabe hast“, rief mich meine Lehrerin an die Tafel. Wir hatten auch seit diesem Jahr eine neue Deutschlehrerin, da unsere vorherige schwanger geworden war.

Unsere neue Lehrerin hieß Frau Meier und konnte mich nicht leiden. Ich war mir todsicher, dass sie mich nicht leiden konnte. Sie wusste genau, dass ich eine Niete in Deutsch war und dann rief sie mich immer wieder an die Tafel - so wie jetzt - und ich konnte mich vor der ganzen Klasse in Grund und Boden schämen. Unser neues Thema war Kommasetzung. Ich konnte ein Augenrollen nicht unterdrücken. Dies sah meine Lehrerin zum Glück nicht.

Ähm, was bei der letzten Aufgabe hinkommt? Gute Frage. Ich musste wie immer, wenn ich vor der ganzen Klasse stand, raten. In 20 Prozent der Fälle lag ich richtig, da es meistens nur Fragen waren wie: Kommt dort ein Komma hin oder nicht? Dieses Mal war es zum Glück auch wieder so eine Aufgabe. „Dort kommt kein Komma hin“, sagte ich zögernd zu der Klasse.

„Richtig Avery, kannst du uns auch sagen, warum?“, fragte meine Lehrerin mich. Das hasste ich, diese eine Frage, die mich noch mehr blamierte, als wenn ich falsch lag.

„Ähm, weil dort ein ‚und‘ steht?“, sagte ich zu meiner Lehrerin. Es war aber eher eine Frage und das bemerkte sie sofort.

„Bist du dir sicher?“, fragte sie mich wieder. „Ja, das bin ich, dort kommt kein Komma hin!“, antwortete ich mit fester Stimme und sah ihr dabei direkt in die Augen.

„Richtig Avery. Vielleicht wirst du doch irgendwann mal besser in Deutsch“, sagte sie zu mir und das ging wirklich zu weit! Die ganze Klasse, außer meiner Freundin Sky, fing an, zu lachen. Aber wenn ich jetzt irgendetwas sagen würde, gäbe das nur wieder mehr Ärger. Also ließ ich das Gelächter der ganzen Klasse über mich ergehen.

„Bearbeitet als Hausaufgabe bitte die Seiten 145 und 146 im Buch. Ich wünsche euch allen ein schönes Wochenende“, hallte die Stimme meiner Deutschlehrerin Frau Meier durch den Raum. Endlich war Wochenende.

Ich würde morgen mit meiner Mutter zum See fahren, schwimmen gehen, wir würden uns gegenseitig Witze erzählen, angeln gehen und ein leckeres Picknick machen.

„Hey, sehen wir uns so um drei Uhr bei dir?“, fragte meine beste Freundin Sky. Sie war nicht nur meine beste Freundin, sondern auch meine einzige. Ich hatte schon immer Probleme gehabt, Leuten zu vertrauen und mich anzufreunden, da ich generell eher zu den schüchternen Schülerinnen gehörte.

Aber mit Sky war das alles ganz leicht. Wir lernten uns schon im Kindergarten kennen und von der ersten Sekunde an waren wir unzertrennlich. Es fühlte sich toll an, eine Freundin zu haben, mit der man über alles reden konnte. Sie war genauso wie ich: nett, lustig und verrückt. Das liebte ich an ihr.

„Klar, wir haben noch ein Stück von dem leckeren Erdbeerkuchen von gestern übrig. Vielleicht lasse ich ja ein Stück für dich übrig“, antwortete ich und konnte ein Grinsen nicht verbergen.

„Hey, wehe, wenn du alles aufisst, dann bekommst du nie wieder was von meinen leckeren Muffins ab“, konterte sie. Die Muffins, die ihre Mutter immer backte, waren so lecker, so süß und sahen auch noch perfekt aus. Das Risiko konnte ich nicht eingehen.

Wir drückten uns noch einmal und verabschiedeten uns. Als ich den Weg zum Parkplatz der Schule einschlug, fiel mir ein Schatten hinter der Cafeteria auf. Ich hatte, obwohl ich schon sechzehn Jahre alt war, eine sehr blühende Fantasie und das ungute Gefühl, beobachtet zu werden. Deswegen lief ich ein bisschen schneller zum Parkplatz, wo mich meine Mutter immer abholte. Der Schatten war immer noch hinter mir und jetzt hörte ich hinter den Büschen auch noch Geräusche.

Ich bekam es langsam mit der Angst zu tun. Da kam eine Gestalt aus dem Busch.

Sie war schwarz gekleidet und sah aus, als ob sie ein Messer in der Hand hätte. Da sie direkt auf mich zuging, fing ich an, um Hilfe zu schreien, aber es war weit und breit niemand auf dem Parkplatz, geschweige denn auf dem Schulhof zu sehen.

Die Gestalt kam immer näher. Endlich sah ich ihr Gesicht. Vor mir stand eine Frau.

Sie hatte schon ein paar Falten im Gesicht und ein paar graue Haare. Als sie direkt vor mir stand, sah ich, dass das angebliche Messer in ihrer Hand nur ein kleiner Regenschirm war. Da hatte ich ja nochmal Glück gehabt.

Ich schätzte die Frau um die 60 Jahre. Sie sah zwar nett aus, aber mir war immer noch nicht wohl bei der Sache, dass ich hier ganz alleine mit ihr auf diesem Parkplatz stand, wo niemand zu sehen war.

„Hallo Avery, Kindchen, erschrecke dich doch nicht, du siehst so aus, als ob du einen Geist gesehen hättest“, sagte die Frau mit rauer Stimme. Jetzt bekam ich noch mehr Angst. Woher kannte sie meinen Namen? Ich hatte diese Frau noch nie in meinem ganzen Leben gesehen!

„Wer, ... wer sind Sie?“, fragte ich. Die Frau wirkte kurz erschrocken und traurig zugleich. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Sollte ich diese Frau kennen?

„Es tut mir leid, ich dachte du kennst mich, ich ... ich bin deine Großmutter. Mein Name ist Layla“, sagte sie und ich konnte es nicht glauben. Warum auch sollte ich jetzt plötzlich eine Großmutter haben? Warum sollte meine Mutter mir nie etwas von ihr erzählt haben? Das konnte nicht sein! Das musste ein schlechter Witz sein.

„Wer sind Sie? Ich habe keine Großmutter. Meine Mutter hat mir nie etwas von einer Großmutter, geschweige denn von dir erzählt!“ Meine Stimme zitterte: „Was, … was wollen Sie von mir?“ Meine Stimme wurde immer lauter, ich wollte eigentlich nicht so schnell die Geduld verlieren. Ich wusste auch nicht, was jetzt mit mir los war, aber diese Frau konnte mir nicht einfach auf dem Parkplatz meiner Schule erzählen, sie sei meine Großmutter.

„Ich habe dir die Wahrheit gesagt Avery, ich bin deine Großmutter. Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber ich …“, versuchte meine angebliche Großmutter zu erklären, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Es konnte nicht wahr sein.

„Warum sollte ich dir glauben?“ Ich wollte einfach zu meiner Mutter, weg von dieser verrückten Frau!

„Deine Mutter und ich haben den Kontakt abgebrochen, nachdem sie deinen Vater geheiratet hatte. Ich wusste, dass er sie irgendwann verletzen und verlassen würde. Das wollte deine Mutter aber nicht wahrhaben. Doch dann - wie ich es vorher gesagt hatte - verließ er sie. Seitdem haben wir nie wieder Kontakt aufgebaut“, sagte sie zu mir und hoffte wohl noch, dass ich ihr glauben würde.

„Warum sollte meine Mutter aber nie etwas von dir erzählt haben? Denn, wenn das alles stimmen sollte, was es aber nicht tut, bist du schließlich meine Großmutter. Ich glaube dir immer noch nicht. Warum auch? Du tauchst einfach an einem ganz normalen Tag vor meiner Schule auf und …“, meine Stimme brach ab.

Das war alles viel zu lächerlich. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte ich mich um und lief weiter zum Parkplatz. Ich suchte das Auto meiner Mutter, fand es aber leider nicht. Sie kam nie zu spät. Es waren ja schließlich schon zehn Minuten vergangen, seit die Schule zu Ende war.

Also wollte ich meine Mutter schnell anrufen, bevor diese ältere Frau wieder ein Gespräch mit mir anfangen wollte. Ich holte mein Handy aus dem Schulranzen und wählte die Handynummer meiner Mutter und das altbekannte Tuten ertönte. Nach zehn Sekunden ertönte endlich eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Es war aber nicht die Stimme meiner Mutter, sondern...

Nein, das konnte nicht sein, hatte ich schon Halluzinationen?

„Glaubst du mir jetzt?“, ertönte die Stimme aus dem Telefon. Ich drehte mich um und hinter mir stand diese ältere Frau. Warum hatte sie das Handy meiner Mutter? „Okay, was ist hier los? Lassen Sie einfach meine Mutter und mich in Ruhe. Bitte, woher haben Sie ihr Handy und warum kommt sie so spät? Sie wissen irgendwas! Was ist los? Wer sind Sie?“

Ich war kurz davor, sie einfach so lange anzuschreien, bis sie endlich ging. Erst dachte ich, sie sei eine normale Frau, dann behauptete sie, sie sei meine Großmutter und jetzt hatte sie auch noch das Telefon meiner Mutter.

„Ich habe die Wahrheit gesagt, ich bin deine Großmutter. Deine Mutter liegt …“

Sie fing an zu schluchzen und brach mitten im Satz ab: „Deine Mutter hatte einen Unfall. Ein Auto ist von der Seite in ihr Auto reingerast. Sie ist im Krankenhaus und liegt im Koma …“ Sie fing an zu weinen.

Bitte was? Ich konnte es nicht glauben. Meine Mutter konnte doch nicht im Koma liegen! Was sollte ich jetzt nur machen, ich war ganz alleine. Hatte keinen Vater.

Hilfe! Nein, ich wollte es nicht wahrhaben!

„Hör zu Avery, wir rufen jetzt das Krankenhaus an und sie erklären es dir auch noch

mal genau. Danach wirst du mir glauben. Sie haben mich direkt kontaktiert. Ich war völlig außer Rand und Band, als ich das mit deiner Mutter hörte.“

Das konnte nicht sein, meine Mutter war der Fels in meiner Brandung. Wir haben alles gemeinsam gemacht, ohne sie gab es kein Ich. Und was sollte ich dann nur machen? „Okay, ich rufe dort an. Das kann nicht sein, aber wenn es wahr ist, will ich …“, ich musste erst einmal kräftig Luft holen, um nicht schon wieder in Tränen auszubrechen.

„... will ich sie gleich sehen!“, beendete ich meinen Satz. Eine halbe Stunde später dachte ich, dass ich keinen Moment länger mehr auf dieser Welt leben könnte. Was hatte ich denn noch zu verlieren! Meine Mutter lag wirklich im Koma und diese Frau namens Layla war wirklich meine Großmutter!

„Was, ... was machen wir jetzt? Ich will sofort zu meiner Mutter!“, brachte ich unter Tränen und mit zitternder Stimme an meine Großmutter gewandt hervor. Es war seltsam, zu realisieren, dass ich jetzt plötzlich eine Großmutter hatte und ich erstmal notgedrungen bei ihr leben musste. Ich konnte mich immer noch nicht mit dem Gedanken anfreunden. Aber das war jetzt mein kleinstes Problem!

Ich musste mich um meine Mutter kümmern. Ich wusste zwar, dass man mit Leuten, die im Koma lagen, nicht reden konnte. Doch in der Schule hatten wir gelernt, dass diese Menschen einen vielleicht trotzdem verstehen können. Vielleicht würde sie aufwachen, wenn ich bei ihr wäre.

„Wir werden jetzt zu mir nach Hause fahren, du wirst dich erstmal beruhigen, dann fahren wir zu deiner Mutter ins Krankenhaus! Du wirst die nächsten Monate erstmal bei mir bleiben!“, antwortete Layla auf meine Frage. Wow, auf keinen Fall! Warum sollte ich denn bei meiner Großmutter wohnen, die ich erst seit einer Stunde kannte? Das wollte ich nicht.

„Ich werde bei meiner Freundin bleiben. Ich habe ihr vorhin eine Nachricht geschickt, eigentlich wollte sie heute zu mir kommen. Ich habe ihr gesagt, was passiert ist und sie hat angeboten, dass ich bei ihr wohnen kann. Ich kenne dich schließlich nicht lange“, sagte ich mit einigermaßen fester Stimme und wollte mich nicht einschüchtern lassen.

„Das werden wir später in Ruhe bereden, wenn du bei deiner Mutter warst. Die Ärzte haben in ihrer Jackentasche einen Brief gefunden. Darauf steht dein Name.“

Was stand auf dem Brief drauf? Da musste doch irgendwas dran sein! Es konnte doch kein Zufall sein, dass meine Mutter einen Autounfall hatte und ganz zufällig ein Brief für mich in ihrer Jackentasche steckte.

Irgendetwas wurde vor mir verheimlicht. Ich musste es herausfinden!

„Müssen wir jetzt unbedingt zu dir nach Hause? Kann ich nicht sofort zu meiner Mutter?“, fragte ich, da ich wenig Interesse hatte, mit zu meiner Großmutter zu gehen. Vielleicht war meine Mutter wieder wach? Das bezweifelte ich zwar sehr, es war aber besser als der Gedanke, dass ich die nächsten Monate bei meiner Großmutter verbringen sollte, noch dazu in ihrer Wohnung!

Sie hatte sich so lange nicht blicken lassen! Ich wusste bis vor Kurzem nicht einmal, dass es sie gab. Diese Frau sollte sich gefälligst von mir fernhalten!

„Nein, du kommst erst mit zu mir nach Hause. Dort essen wir erst noch eine Kleinigkeit und trinken einen Tee. Wir dürfen jetzt noch nicht zu deiner Mutter. Es gibt nämlich bestimmte Besuchszeiten. Komm, wir gehen“, sagte sie.

Doch in diesem Moment bekam sie plötzlich einen Anruf auf ihr Handy. Sie starrte den Bildschirm wie paralysiert an, bevor sie abhob. Als meine Großmutter das Telefon endlich ans Ohr hielt, wurde sie ganz blass im Gesicht.

„Hallo, ... ist irgendetwas passiert ... ist sie ... ist sie aufgewacht?“ Ihre Stimme zitterte. Das musste das Krankenhaus sein. Um was sollte es denn sonst gehen! Plötzlich war ich ganz hibbelig. Was wäre, wenn meine Mutter aufgewacht war. Alles würde gut werden, aber wenn...

„Nein …“, rief meine Großmutter und sank auf die Knie.

„Nein, das darf nicht wahr sein!“ Sie legte auf und schluchzte.

„Was, ... was ist passiert?“, fragte ich mit bebender Stimme. Eins war mir klar, es war nichts Gutes.

„Die Ärzte haben festgestellt, dass sie in keinem normalen Koma liegt. Sie sollte eigentlich nach ein paar Tagen oder Wochen aufwachen, aber ihre Schädeldecke wurde bei dem Unfall so schlimm zertrümmert, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemals wieder aufwachen wird, sehr gering ist. Wir …“ Sie brach mitten im Satz ab.

„Die Ärzte müssen sie noch gründlich auf andere Verletzungen untersuchen und wir können sie erst in zwei Stunden besuchen.“

Das konnte nicht wahr sein! Erst in zwei Stunden? Nein, bitte nicht! Ich musste sie sehen, wollte ihr sagen dass ich sie liebte und dass sie nicht gehen durfte, mich nicht alleine lassen durfte! Sie und ich waren ein Herz und eine Seele. Was sollte ich nur ohne sie machen?

„Komm, setz dich ins Auto. Wir fahren zu mir nach Hause, trinken und essen etwas und dann geht es dir eventuell ein bisschen besser“, versuchte es meine Großmutter bei mir. Als sie dies sagte, klang sie ein bisschen nervös. Warum denn das jetzt? Aus ihr würde und wollte ich nicht schlau werden.

„Das kann nicht dein Ernst sein! Du denkst, dass es mir nach ein paar Keksen und einer Tasse Tee besser gehen wird? Meine Mutter liegt im Koma! Ich werde mich ganz sicher nicht bei einer Tasse Tee mit meiner Großmutter, die ich erst seit einer Stunde kenne, besser fühlen! Ich kenne dich doch noch nicht mal. Früher habe ich immer gedacht, meine Familie wäre perfekt, da es nur meine Mutter und mich gab. Das war das, was ich wollte, nicht mehr und nicht weniger. Früher war dies der Fall. Aber jetzt habe ich auf einmal eine Großmutter und …“ Es kam einfach so aus mir heraus.

„Es tut mir leid. Ich habe ein bisschen überreagiert, aber das ist mir alles zu viel“, sagte ich kleinlaut.

Meine Großmutter wirkte gerade sehr gebrochen, verzweifelt und einfach nur müde, traurig.

„Schon okay. Ich habe es ja nicht anders verdient. Ich kann es nachvollziehen, schließlich lernst du mich auch nicht gerade in einer schönen Situation kennen. Es ist einfach falsch, dass ich mich trotz des Streits nicht habe blicken lassen. Du bist schließlich mein Enkelkind!“

Ich ging mit ihr. Ich wollte nicht, dass sie noch trauriger wurde. Mir war schon klar, wir würden nicht die besten Freunde werden. Aber ich konnte ihr wenigstens eine Chance geben.

Kapitel 2

Ein paar Minuten später saß ich in dem Auto meiner Großmutter auf dem Weg zu ihr nach Hause. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass meine Mutter jetzt im Krankenhaus lag. Ich wollte es nicht wahrhaben.

Ich musste gerade an ein Lied von Kayef denken. Es drehte sich um eine Person, die einem immer hilft, wenn man am Boden zerstört ist. Dieses Lied war mein Lieblingslied. Es passte so gut zu meiner Mutter und mir.

„Ja, weil du mich rausholst, immer wenn ich down bin …“

Dieses Lied hatte ich die ganze Autofahrt über schon im Kopf. Ich würde nie wieder eine Person haben, die mich trösten kann, wenn ich traurig bin oder mich einfach in den Arm nehmen würde, wenn es mir schlecht ging.

Ich sah aus dem Fenster. Wir waren gerade mal drei Minuten unterwegs und schon wünschte ich mir so viel Abstand von meiner Großmutter wie nur möglich.

Ja, ich wollte ihr eine Chance geben, aber ich konnte es nicht. Sie hatte sich nie blicken lassen. Ich hatte niemanden außer meine Mutter und das war ihr bewusst. Ich hätte meine Großmutter früher vielleicht gebraucht, aber jetzt wollte ich sie nicht in meinem Leben haben.

Jetzt musste ich bei ihr wohnen, sie jeden Tag sehen und mit ihr reden, als kennten wir uns schon ewig. Das konnte ich nicht.

„Avery, ich muss dir etwas sagen“, fing meine Großmutter plötzlich an mich gewandt an zu reden. Ich wollte kein Gespräch mit ihr anfangen, sondern nur so schnell wie möglich zu meiner Mutter.

„Was denn?“, fragte ich stattdessen.

„Ich habe ja gesagt, wir fahren erst einmal zu mir nach Hause, trinken und essen etwas“, fing sie an, zu erzählen. Ja, natürlich hatte sie das gesagt und gedacht, mir würde es danach besser gehen.

„Ja“, sagte ich stattdessen nur, da ich keine Lust hatte, großartig mit ihr zu reden. Ich hatte so eine Scheißangst um meine Mutter, da konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich würde sie vielleicht verlieren und sie nie wiedersehen. „Das war gelogen ...“, drang die Stimme meiner Großmutter durch meine Gedanken. Warte, was? Sie hatte sich nicht nur noch nie blicken lassen, sondern mich auch noch bei unserer ersten Begegnung angelogen?

Das konnte nicht wahr sein. Ich dachte, ihr lag etwas an mir und sie wollte, dass ich ihr vertraute, aber jetzt!?

„Bitte was? Erst lässt du dich nie blicken und jetzt lügst du mich auch noch an?“

Ich konnte meine Gedanken nicht mehr zurückhalten: „Ich wollte dir eine Chance geben, aber egal, worum es sich bei dieser Lüge genau handelt, ich kann es einfach nicht und werde dir nie vertrauen können!“, schrie ich sie an.

„Avery, ich kann dich …“, weiter kam sie nicht, denn ich unterbrach sie sofort.

„Komm mir nicht immer mit deinem: Avery, aber Avery … Nein! Ich kenne dich erst seit einer knappen Stunde und kann es nicht länger mit dir aushalten.“

Meine Großmutter wirkte sehr traurig und musste einmal tief Luft holen, um nicht anzufangen, zu weinen, doch das war mir gerade egal.

„Ich kann dich verstehen, doch du musst mit zu mir kommen, bitte. Ich brauche dich und du brauchst mich. Aber die Wahrheit ist, ich wohne in Norddeich, an der Nordseeküste, das ist ungefähr fünf Stunden von hier entfernt“, versuchte sie mir zu erklären. Warte, was? Sie wohnte in Norddeich? Wo war das denn bitte? Ja klar, es war an der Nordsee, aber fünf Stunden weit entfernt? Das konnte einfach nicht wahr sein!

„Eins ist schonmal klar, ich werde dann nicht bei dir wohnen. Fünf Stunden von Sky entfernt, das kann ich einfach nicht und bei dir wohnen, das kann ich genauso wenig!“, brach es aus mir heraus. Ich konnte meine Worte nicht stoppen, denn ich musste meiner Großmutter sagen, was ich wollte und ich wollte nicht bei ihr zu Hause wohnen! Das musste ich ihr klarmachen.

„Ich weiß, dass du das nicht willst, aber deine Mutter hatte doch diesen Brief in ihrer Jackentasche. Die Ärzte haben mir am Telefon erzählt, dass darin steht,

du sollst bei mir wohnen, wenn deiner Mutter etwas passieren sollte“, beendete sie ihren Satz.

Warte, hatte ich das gerade richtig verstanden? Die Ärzte hatten einfach so den Brief meiner Mutter, der für mich bestimmt war, geöffnet?

Das konnte ich nicht glauben! Doch als die Worte meiner Großmutter langsam in mein Bewusstsein einsickerten, fragte ich mich nur, warum sollte mir meine Mutter so was antun?

Aber die größte Frage, die mir am meisten Angst machte, war, dass sie diesen Brief bei sich trug, als der Unfall passierte. Das konnte doch kein Zufall sein, oder? Wusste sie, was passieren würde? Und wenn ja, warum hatte sie mich nicht vorgewarnt? Mir wurde etwas verheimlicht und ich musste herausfinden, was!

Doch eins war mir bewusst: Ich liebte meine Mutter und wenn es ihr letzter Wunsch wäre, dass ich bei meiner Großmutter lebte, wenn ihr etwas passierte, würde ich dies machen. Aber nur wegen ihr. Ich würde dies für niemand anderen auf der Welt machen.

„Ach komm schon, das ist nicht ihr Ernst. Meine Mutter war immer für eine Überraschung gut“, sagte ich zu mir selber.

„Ja, da hast du recht. Als deine Mutter acht Jahre alt war …“ Meine Großmutter dachte wohl, dass ich anfangen würde, sie zu mögen.

„Ich habe nicht mit dir geredet“, unterbrach ich sie heftig. Sie konnte sich abschminken, dass ich mich mit ihr unterhalten würde, wenn es nicht nötig ist. „Schon gut … ich will aber, dass du weißt, wenn du mit jemandem über deine Mutter reden möchtest, ich bin immer für dich da“, sagte sie zu mir.

Das war nur gut gemeint, das wusste ich, aber ich hatte nicht gerade viel Lust, mich mit ihr anzufreunden.

„Was machen wir jetzt?“, fragte ich mit einem genervten Unterton.

„Jetzt gehen wir erstmal anstatt zu mir nach Hause, in ein Café und trinken einen Tee und essen etwas. Ich habe dich vorhin angelogen, das tut mir sehr leid, deswegen soll ein Teil wenigstens der Wahrheit entsprechen“, sagte sie und versuchte, mich wohl damit aufzuheitern. Vergeblich.

Ich hatte immer noch keine Lust mich zusammen mit ihr an einen Tisch zu setzen und mit ihr zu unterhalten. Aber wenn meine Mutter wollte, dass ich bei ihr wohnte, würde sie bestimmt auch wollen, dass ich mich mit ihr verstand.

„Okay“, gab ich schließlich widerwillig nach, denn eins war mir klar: Wenn ich meine Mutter nie mehr sehen würde, wollte ich ihr wenigstens ihren letzten Wunsch erfüllen.

Das erste Mal seit ich sie kannte, also noch nicht sehr lange, sah ich einen etwas entspannteren Ausdruck in dem Gesicht meiner Großmutter.

„Okay, das freut mich. In welchem Café gibt es die besten Kekse?“, fragte sie mich und grinste über beide Ohren. Vielleicht war sie doch nicht so unausstehlich, wie ich dachte. Ein Teil von mir wollte sich mit ihr verstehen. Das aber nur wegen meiner Mutter! Aber ein anderer Teil von mir konnte ihr einfach nicht verzeihen, dass sie sich so lange nicht hatte blicken lassen.

„Das Café Vetter, dies ist mein Lieblingscafé“, antwortete ich und musste daran denken, dass meine Mutter und ich gestern erst dort zusammen Kuchen gegessen hatten. In dem Moment hätte ich nie gedacht, dass dies das letzte gemeinsame Essen mit ihr sein könnte. Mir wurde schon wieder ganz mulmig zumute und ich musste mich bemühen, bei dem Gedanken nicht sofort in Tränen auszubrechen.

Ein paar Minuten später saßen wir im Café Vetter. Ich liebte es so, da es erstens sehr schön eingerichtet war und es zweitens hier die besten Kekse und Kuchen der Welt gab.

Wenn meine Mutter und ich genügend Geld gehabt hätten, wäre ich jeden Tag hierhin gegangen und hätte das ganze Café leergekauft.

„Also Avery, was isst oder trinkst du hier am liebsten?“, fragte meine Großmutter mich. „Cookies und Erdbeertee“, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.

Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dieses Grinsen kam aus tiefsten Herzen. Als sie mich ansah, wurde mir warm ums Herz, denn ihr Blick bestand aus Sorge um mich und meine Mutter, aus Traurigkeit, mich erst jetzt kennengelernt zu haben und aus Liebe. Vielleicht sollte ich ihr doch eine Chance geben.

Es dauerte nicht lange, bis die Kellnerin an unseren Tisch kam. Ich kannte sie, denn als meine Mutter und ich hier immer gegessen haben, hat sie auch oft unsere Bestellung aufgenommen.

Sie war sehr nett und hatte rote, schulterlange Haare. Ich mochte die Farbe Rot. Aber nicht so sehr wie die Farbe Grün. Ich liebte diese Farbe einfach, denn ich fand sie mysteriös. Früher, als ich kleiner war, waren alle Farben meine Lieblingsfarben. Ich konnte mich, als ich fünf Jahre alt war, nie zwischen etwas entscheiden. Beim Kauf meines ersten Schulranzens, gab es einmal die Auswahl blau oder gelb und ich hatte meine Mutter ernsthaft gefragt, ob ich nicht beide haben durfte.

Die Farbe Grün wurde für mich erst seit ein paar Jahren richtig besonders. Besonders dunkelgrün. Meine Mutter liebte diese Farbe auch. Der Gedanke an sie versetzte mir einen Stich. Deshalb versuchte ich, mich ganz auf meine Bestellung zu konzentrieren: „Hallo, ich würde gerne Cookies und Erdbeertee nehmen.“

Die Kellnerin nickte und wandte sich meiner Großmutter zu: „Was möchten Sie haben, Miss?“

„Ich nehme das gleiche wie Avery. Sie sagte, die Cookies und der Tee seien sehr gut“, antwortete sie mit einem Blick in meine Richtung.

„Oh ja, da kann ich ihr nur zustimmen. Die Cookies sind echt grandios“, sagte die Kellnerin zu ihr und ging anschließend in Richtung Küche.

Einen Moment sagte niemand von uns beiden etwas. Mir war dieses Schweigen unangenehm, ich wollte etwas sagen, fand jedoch einfach nicht die passenden Worte.

„Avery, erzähle mir mal etwas über dich. Ich weiß nicht viel über dich und dass würde ich gerne ändern“, sagte meine Großmutter zu mir. Endlich wurde die Stille unterbrochen. Obwohl ich nicht gerade Lust hatte, etwas über mich zu erzählen, sondern eher gerne etwas über sie erfahren hätte, sagte ich: „Ich bin in der Schule eigentlich sehr gut, Mathe ist mein Lieblingsfach. Dafür hasse ich Deutsch. Meiner Meinung nach das schrecklichste Fach auf der Welt! Meine beste Freundin ist Sky. Sie ist so ein toller Mensch. Sie hat braune kurze Haare und ein Pony. Sie ist einfach wunderbar.“

Beim nächsten Satz biss ich mir auf die Lippe: „Sie ist auch meine einzige Freundin und wenn ich mit dir nach Norddeich gehen muss, werde ich sie nie wieder sehen.“ Warte …

„Was wird mit meiner Mutter geschehen? Werde ich sie auch nicht mehr sehen?“, fragte ich meine Großmutter in einem scharfen Tonfall.

Eigentlich wollte ich nicht so feindselig klingen, aber diese Worte verließen meinen Mund schneller als beabsichtigt. Es kam einfach alles zusammen und wurde mir viel zu viel. Der Verlust von Sky, die ich nicht mehr sehen werde, nur noch über Videoanrufe, die Tatsache, dass ich jetzt eine Großmutter hatte, der Gedanke, ich würde meine Mutter nie wiedersehen und vieles mehr. Es war noch schlimmer als der Moment, in dem mein Kater gestorben ist. Ich dachte damals, dass dies der schlimmste Moment meines Lebens wäre, aber der war es nicht. Dies hier fühlte sich noch tausendmal schlimmer an. Ich wünschte einfach, das wäre alles nur ein Traum. Ein schrecklicher Albtraum.

Ich hoffte, ich würde bald aufwachen, meine Mutter und ich würden einfach im Garten sitzen und uns Witze erzählen. Aber es war kein Traum. Es war die Realität. „Nein, du wirst deine Mutter jeden Tag sehen können. Die Ärzte haben gesagt, dass deine Mutter zwar Ruhe brauche, aber sie spüre deine Anwesenheit und diese wird viel wichtiger sein als Ruhe. Sie verlegen sie morgen schon in das Krankenhaus nach Norden.“

Wenigstens eine einigermaßen gute Nachricht für heute.

Endlich kamen die Cookies und der Tee. Mein Magen knurrte. Ich hatte sehr viel Hunger, da ich seit heute Morgen nichts mehr gegessen hatte.

In der Schule aß ich so gut wie nie etwas. Also biss ich direkt von dem erstbesten Cookie ab. Mhhh, er schmeckte köstlich. Der Tee schmeckte auch fabelhaft, das wusste ich ja, da ich ihn auch sonst immer trank. Doch ich wartete lieber noch ein bisschen, da der Tee immer sehr …

„Ahhh, verdammt ist der heiß“, fluchte meine Großmutter und musste dennoch lachen. Ich konnte mir ein Grinsen auch nicht verkneifen. Ich hatte sie eigentlich warnen wollen, aber anscheinend hatte sie es eilig, den Tee zu probieren.

„Achtung, heiß“, lachte ich und sie grinste mir schief zu. Ich glaubte, diese herzliche Frau vor mir hatte sich schon vor ein paar Stunden nach und nach in mein Herz geschlichen. Wenn ich ehrlich zu mir selber war, war mir klar: Diese Frau war eine gute Frau.

Ich hatte dies zwar nicht erwartet, schließlich dachte ich, als ich sie das erste Mal vor ein paar Stunden sah, dass sie eine Mörderin wäre, die mich mit einem Messer bedrohen will. Doch sie hatte sich von Moment zu Moment mehr Mühe gegeben, mich zu verstehen und mir immer mehr Gründe gegeben, sie zu mögen. Auf jeden Fall würde ich ihr eine Chance geben!

„Hör zu, wir kennen uns noch nicht sehr gut. Hättest du was dagegen, wenn wir ein kleines Spiel spielen würden? Um uns besser kennen zu lernen?“, fragte mich meine Großmutter und um ihr eine Chance zu geben, stimmte ich mit einem Nicken zu.