Das Zeichen für Regen

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

4. Kyōto. Heute.

Es war heiß draußen. In Kyōto sagte man, wenn es im Winter besonders kalt war, dass die Kälte aus dem Boden zu kommen schien. Nun glühte der Asphalt, als käme die Hitze direkt aus dem Inneren der Erde. Im Hotel dagegen war es angenehm kühl. Die Klimaanlagen ließen einen das Wetter außerhalb des Gebäudes ohnehin völlig vergessen. Hier war man unabhängig von Jahreszeiten und Wetterlaunen, die Temperatur war immer gleich, die Luftfeuchtigkeit immer genau richtig.

Irene hatte sich völlig verloren in ihren Gedanken, in Geschichten über Hotelgäste, die sie kein bisschen kannte und denen sie deshalb alles andichten konnte, was sie sich nur vorzustellen vermochte. Als sie Zimmer 1009 öffnete und ihr Putzzeug hineintrug, überließ sie die Arbeit wieder ganz ihrem Körper, ihren Muskeln. Den Mann bemerkte sie erst, als er sich zum zweiten Mal räusperte und sich im Bett aufsetzte.

»Sumimasen! Gomen nasai! Sumimasen!« Irene wusste nie, welche der beiden Phrasen angemessen war, wenn man sich entschuldigen musste. »Sumimasen!« Sie schrie fast, ihre Stimme klang fremd und sie spürte die Röte bis in die äußersten Ohrenspitzen kriechen. Sie verbeugte sich. Und verbeugte sich erneut, diesmal tiefer. »Gomen nasai«, sagte sie noch mal, leiser, ehe sie bemerkte, dass der Mann nicht sehr japanisch aussah. Sie versuchte es auf Englisch. Er beschwichtigte sie auf Deutsch, ganz ohne Akzent. Irene brauchte einen kurzen Moment, um zu begreifen, dass sie nicht für sich selbst zu dolmetschen brauchte.

»Es ist alles okay. So was passiert. Und gar nicht mal selten.«

Der Mann sah sie freundlich an.

»Diese Schilder an der Türklinke kann man nun wirklich übersehen. Ich bin öfter in Hotels, als mir lieb ist, und glaub mir: Das passiert nicht zum ersten Mal. Nun schau nicht so erschrocken, ja?«

Er rieb sich die Augen und zog die Decke ein wenig höher über die Brust, auf der sich graue Haare kräuselten.

Seine Hände waren ein wenig zu kräftig für seinen Körper, und Irene konnte nicht anders, sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie jetzt sofort unter seine Decke kriechen könnte. Die warme Haut zu spüren und die Müdigkeit riechen zu können und seiner fremden Stimme mit der vertrauten Sprache noch weiter zu lauschen. Es war aber nun mal keine Option und schon gar kein guter Stil, sich als Zimmermädchen einfach so unter die Bettdecke der Hotelgäste zu legen. Auch nicht, wenn es da etwas Gemeinsames gab – und was konnte schon gemeinsamer sein als eine gemeinsame Sprache, in der man sich unterhalten konnte? Das wurde ihr klar, als der Mann zu sprechen begonnen hatte. Es war so simpel, alles, wonach sie sich sehnte, waren ein paar Worte, die nicht übersetzt werden mussten. Die schwere und geschlossene Silben hatten, nicht wie das Japanische. Die sich zu Sätzen fügten, die einen Sinn ergaben, den man nicht erst zu entschlüsseln brauchte, die keine Floskeln enthielten, die man nur begreifen konnte, wenn man sich ausgiebig mit den japanischen Gesellschaftsverhältnissen der letzten hundert oder hunderttausend Jahre beschäftigt hatte.

»Es tut mir wirklich leid. Mir ist so was noch nie passiert.«

In der eigenen Sprache klang Irenes Stimme anders, sie kam ihr viel sanfter vor. Er gähnte und entschuldigte sich dafür.

»Jetlag?«

Irene merkte, dass sie starrte, und wandte den Blick ab, verwirrt über das, was sie fühlte. Scham war das nicht, das war etwas ganz anderes, aber sie vermochte es nicht zu benennen, auch später nicht.

»Ja. Gestern gelandet. Zeitzonen dürfte es eigentlich gar nicht geben, aber mich fragt ja niemand.«

Sie fühlte sich einsam, als sie eine weitere Entschuldigung zu Ende gemurmelt und das Zimmer verlassen hatte. Er hatte gesprächig gewirkt. Für jemanden, der gerade aus einem zeitverschobenen Schlaf gerissen wurde, fast schon geschwätzig. Aber sie durfte das nicht. Sie durfte nicht als Zimmermädchen mit mehr oder weniger nackten Hotelgästen ein Gespräch über Zeitzonen beginnen. Und sie durfte nicht als Irene in Kyōto dieselben Fehler machen, die sie als Irene in Berlin auch schon begangen hatte.

Nun stand sie wieder auf dem Flur, und die Musik kam ganz eindeutig aus den Lautsprecherboxen, da war weder ein Orchester unter der Zimmerdecke, noch wartete jemand unter einer Bettdecke auf ihre Gesellschaft.

Zu Zimmer 1009 kehrte sie erst ganz am Ende ihrer Runde zurück, als sie halbwegs sicher war, dass der Mann nicht mehr schlafen und längst in der Stadt unterwegs sein würde. Das Schild mit der Aufschrift »Do not disturb« hing tatsächlich nicht mehr an der Klinke. Sie klopfte dennoch kräftig an und lauschte an der Tür, ehe sie eintrat.

Der Raum war leer. Der Mann hatte ihn ordentlich zurückgelassen. Sein Koffer stand offen, mit zugeklapptem Deckel, in der Ecke, die Bettdecke war glatt gestrichen, die Vorhänge geöffnet.

Sie hätte gern einen Blick in seine Sachen gewagt. Irgendwo musste sein Pass sein und in dem Pass sein Name. Sie hätte gern an einem Hemdkragen gerochen oder im Bad gestöbert, sein Aftershave geöffnet und in denselben Spiegel geschaut, in den der Mann auch geblickt hatte, nicht bloß, um das Glas zu putzen. Sondern um etwas von ihm darin zu sehen, noch mehr Gemeinsames vielleicht. Ein ähnlich mattes Lächeln oder Augen, die genauso müde waren wie seine. Sie hätte gern über sein Kissen gestreichelt, hätte es mit den Fingernägeln gekratzt und gehört, wie sich die Fasern des Stoffes anhörten, und sie hätte am liebsten nachgesehen, ob er ein Buch dabeihatte. Vielleicht eines von Haruki Murakami, oder etwas von Kazuo Ishiguro. Einfach nur, weil sie sich ein bisschen wünschte, dass er las.

Sie stellte sich vor, wie sie mit dem Mann an einem Strand sitzen würde. Es war Sommer, und niemand außer ihnen beiden hatte Platz in dieser Fantasie. Er saß auf einem weißen Badetuch mit roten Streifen, ein Buch in der Hand, las ihr vor, und sie schaute zu, wie seine Lippen sich bewegten, wie sein Mund auf und zu ging und wie seine Nasenflügel sich ein wenig wölbten, wenn er atmete. Seine Stimme, der Wind und die Brandung rauschten gemeinsam in ihren Ohren, ein einziges Geräusch. Er trug eine Badehose und hatte schöne Füße mit ganz geraden Zehen.

Irenes Arme arbeiteten und arbeiteten, und sie hätte ihnen gern befohlen, den Deckel des Koffers anzuheben, die Schrankwand aufzuschieben, die Nachttischschublade aufzuziehen.

Aber sie ermahnte sich, schließlich wusste sie, dass sich das nicht gehörte, dass man an fremden Sachen weder roch noch sie befühlte, und dass das für ein Zimmermädchen erst recht tabu war, absolut tabu.

Ihre Arme und Hände beeilten sich, das Zimmer herzurichten. Irene versuchte, nicht darauf zu achten, ob der Mann die Zahnbürste benutzt hatte, die sie im Badezimmer bereitgelegt hatte, oder ob er eine eigene dabeihatte. Sie schaute auch nicht weiter nach, ob er etwas aus der Minibar genommen hatte, sie ließ nur ihre Hände den dazugehörigen Zettel ausfüllen, und zum ersten Mal, seit sie hier war, eigentlich seit viel längerer Zeit, war sie auf jemanden neugierig. Nicht darauf, wie jemand ganz theoretisch sein könnte, nicht auf irgendwen in ihren eigenen Geschichten. Sie wollte seinen Namen. Wissen, wer er war. Sie musste raus aus dem Zimmer, fort aus 1009.

Toshio Hayakawa saß an der Rezeption, als Irene die Lobby durchquerte. Er hatte nicht viel zu tun, die meisten Gäste reisten später an, und ausgecheckt hatten diejenigen, die das Hotel verließen, schon längst. Wahrscheinlich hatte er ein Manga unter dem Tisch versteckt. Irene kannte ihn nicht gut, aber wie die meisten Leute, die sie kennengelernt hatte, hatte Toshio eine handvoll Verhaltensmuster, die sich endlos wiederholten. Variationen oder große Überraschungen erwartete sie nicht von ihm.

»Sag mal, Toshio-san, in 1009, wer wohnt da? Ich dachte, ich hätte einen Schauspieler aus dem Zimmer gehen sehen, aber ich weiß den Namen nicht.«

Irene sprach langsam und deutlich. Sie hatte die japanischen Sätze auf dem Weg nach unten in ihrem Kopf zurechtgelegt und mehrmals stumm wiederholt. Sie fand, dass sie richtig und verständlich klangen, und dass es legitim war, nach einem Gast zu fragen, wenn derjenige womöglich berühmt war. Außerdem war ja nicht ausgeschlossen, dass der Mann tatsächlich Schauspieler war. Toshio tippte etwas in seinen PC.

»Nein, das kann nicht sein.«

»Weshalb nicht?«

»1009 steht leer, seit drei Tagen schon. Ist erst morgen wieder belegt. So ist das außerhalb der Saison«, sagte Toshio und runzelte die Stirn, wie nur er das konnte, in ganz feinen Fältchen. Irene traute sich nicht, noch mal nachzufragen und ihn zu bitten, das langsam und ganz deutlich zu wiederholen, falls sie ihn nicht richtig verstanden hatte.

»Achso«, sagte sie nur und bemühte sich, dass das nicht allzu deutsch klang.

5. Kyōto. Heute.

Irene gab sich Mühe, bei der Arbeit nicht an den Mann und die Begegnung in Zimmer 1009 zu denken. Es gelang ihr nicht, nichts konnte sie ablenken, nichts fand Platz in ihren Gedanken, niemand außer ihm. Ein paar Tage lang kümmerte sie sich um andere Räume auf anderen Fluren, kehrte nicht in 1009 zurück, ein freier Tag verstrich, sie hatte keine Ahnung wie. Irgendwie. So, wie eben alle Tage irgendwie verstrichen.

Als sie den Raum danach zum ersten Mal aufschloss, wusste sie nicht, was schlimmer wäre: dort keinerlei Spuren des Mannes zu entdecken oder seine Sachen vorzufinden oder ihn wiederzutreffen. Sie hatte Angst, sich den Mann bloß eingebildet zu haben, dass er ein Hirngespinst war, eine fixe Idee, genau wie das Orchester unter der Decke im Flur oder die Gestalten in ihrer Seifenoper.

 

Sie hatte Angst, dass sie vergessen hatte, was wirklich war und was nicht. Sie hatte Angst, dass sie dieses Mal, wäre er noch da, seinen Koffer durchsuchen würde, seinen Namen herausfinden würde, Kontakt aufnehmen und machen würde, dass sie sich ineinander verliebten. Sie hatte Angst, dass sie Kontakt aufnehmen und auf sein Desinteresse stoßen würde, und Angst, dass am Ende sie die einzige wäre, die sich verliebt.

Sie fand weder ihn noch sein Gepäck vor. Toshio hatte offenbar recht, zumindest, was den neuen Gast anging, der in 1009 eingezogen war: Da war ein anderer Koffer, Kleidungsstücke hingen über der Sessellehne, ein Pyjama lag gefaltet auf dem Bett, die Vorhänge waren geöffnet und gaben den Blick frei auf die Stadt; dunstig und diesig drückte der Himmel auf die Dächer, in einer Farbe, die keine Himmelsfarbe zu sein schien und die Irene nicht benennen konnte. Gelblich, ein wenig bräunlich vielleicht, sehr hell. Je länger sie den Himmel betrachtete, desto heller wurde er, bis er fast weiß aussah. Die Berge waren verhangen. Sie wirkten weiter weg als sonst.

Draußen auf dem Bahnhofsvorplatz, den sie vom Fenster aus sehen konnte, liefen Leute. Sie sahen einander ähnlich. Blaue und schwarze Anzüge, blaue und schwarze und graue Röcke, schwarze Haare, Rollkoffer, Aktenkoffer, Aktentaschen. Auf einmal erschien Irene die Stadt nicht mehr wohlgeordnet mit ihren Nord-Süd-Achsen und dem weiten Blick in die Straßenschluchten, sie sah nur noch Menschen durcheinanderlaufen und hörte, wie ein Busfahrer hupte, aber es war nicht festzustellen, woher genau das Geräusch kam. Gegenüber, am Kyōto Tower, blinkte eine Leuchtreklame Schriftzeichen in den Himmel. Von einem Wagen am Straßenrand wurde mithilfe eines Megaphons eine Werbebotschaft verlesen, durch das geschlossene Fenster drang Gemurmel. Im Zimmer nebenan unterhielten sich mehrere Menschen, oder es lief der Fernseher.

Irene wischte das Fenster, als könne sie so den Himmel dahinter sauber machen, als läge da hinter der gelbbrauntrüben Färbung eine richtigere Farbe, ein echtes Blau, und als müsse sie einfach nur abstauben, herrichten und schön machen, damit man es wieder sieht. Sie reinigte Zimmer 1009 gründlicher als alle anderen und gewissenhafter als jemals zuvor. Sie zog die Düse des Staubsaugers ab und saugte an den Fußleisten entlang, klopfte die Sesselpolster aus, wischte hinter dem Fernseher, unter dem Telefon und in der Nachttischschublade. Wischte die Fugen der Fliesen im Bad ab, die Armaturen, die Abzugshaube, den Mülleimer, den anderen Mülleimer, einen dritten Mülleimer, die Türklinke und die Tür.

Der Mann war nicht da.

Irene fuhr an diesem Tag nicht wie sonst mit der U-Bahn, sondern ging zu Fuß nach Hause. Die Aussicht, die Rolltreppen zu nehmen, um durch das unterirdische Kaufhaus hindurch zur Bahn zu gelangen, sich zu anderen Heimkehrenden und Wegfahrenden in einen Waggon zu stellen, unter der Erde, unter den Straßen und Häusern und Tempeln, war ihr unbehaglich. Sie sehnte sich nach draußen, nach der drückenden Hitze, nach etwas Echtem, wie der hohen Luftfeuchtigkeit und den hohen Temperaturen. Und nach ein wenig Weite, nach natürlichem Licht, zügigen Schritten und der Möglichkeit zu rennen, wenn einem danach war.

Sie hatte gelesen, dass der Bahnhof jeden Tag von fast zweihunderttausend Menschen genutzt wurde. Ihr erschien das ungeheuer wenig in Anbetracht der Massen, die dort hinein- und hinausgingen oder einfach herumstanden. Es war immer voll dort, Ruhephasen schien es nicht zu geben.

Sie durfte den Haupteingang des Hotels nicht nutzen, der war den Gästen vorbehalten. So musste sie beim Verlassen des Hotels nicht durch die Bahnhofshalle. Normalerweise war das ein Umweg, und es erschien ihr unangemessen, dass ausgerechnet die Menschen, die hier im Kikka arbeiten mussten und keinen Urlaub machten, nach Feierabend nicht einmal den kürzesten Weg zur U-Bahn nehmen durften. Heute aber kam ihr dieser Umweg gelegen.

Sie hatte keine Lust auf Menschen, kein Bedürfnis nach Leben und Lärm. Dort, wo sie aus dem Hotel und hinein in die Stadt trat, standen Taxis. Einige Fahrer pausierten. Einer lehnte rauchend am Wagen, ein anderer telefonierte, ein dritter sah Irene mit einem Blick an, mit dem sie nichts anfangen konnte. Vielleicht war er interessiert. Er blickte eindringlich. Zudringlich. Aber da war noch etwas anderes, eine eigenartige Gleichgültigkeit, die zu dem Starren nicht passen mochte. Vielleicht war er gelangweilt. Dieser Widerspruch wurde nicht geringer, je länger Irene den Blick erwiderte. Schließlich riss sie ihre Augen von seinen weg, richtete sie auf die Straße, die Berge, die Häuser, und sie lief los.

Der Weg führte sie durch Wohngegenden. Kyōto sah trist aus, hier, wo es keine spektakulären Kaufhäuser gab oder Tempel oder Schreine, keine Gärten. Die Straßen waren eng. Auf einem Parkplatz stand ein Getränkeautomat. Irene entschied sich für einen Traubensaft, er schmeckte klebrig, zu süß, zu kräftig, nach überreifen Früchten, zu lange in der Sonne gehangen. Aus irgendeinem Grund dachte sie an Portwein, während sie den schmalen Gehweg entlanglief, dabei schmeckte Portwein ganz anders. Der Geschmack der Trauben hing an ihrem Gaumen fest. Sie holte ihren Spiegel aus der Tasche und streckte sich die violette Zunge heraus. Ihr war übel, eigentlich hätte sie jetzt gern einen grünen Tee gehabt, oder einfach ein Glas Wasser. Die Entfernung kam ihr nun viel zu weit vor, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie zur nächsten U-Bahn-Station kommen würde, also lief sie einfach weiter, orientierte sich an den Bergen in der Ferne, an den Himmelsrichtungen der Straßen, und am Kamogawa, dem Fluss, an dessen Ufer sie eine Weile gehen musste.

Das Wasser war braun, in ein sattes Grün gehend, und es war kaum zu erkennen, in welche Richtung die Strömung führte. An der gegenüberliegenden Uferseite saß ein Paar. Es sah aus, als würden sie gemeinsam in einer Zeitschrift lesen, Schulter an Schulter, aber aus der Ferne war das nicht genau zu erkennen.

Von einer Brücke aus warf sie die halbvolle Flasche Traubensaft in den Kamogawa. Die Flasche verschwand für einen Augenblick im Fluss, dann tauchte der violette Deckel wieder auf und trieb gemächlich davon. Ein älterer Mann sah Irene verständnislos nach, als sie auf ihrer Uferseite in den Straßen verschwand, und sie verstand selbst nicht, was sie tat; es war nun nicht mehr weit bis zu ihrer Wohnung, und sie versuchte, sich an das Gesicht des Mannes aus Zimmer 1009 zu erinnern, aber es gelang ihr nicht, nur ganz grob hatten seine Züge sich in ihr Gedächtnis hineinskizzieren lassen. Sie würde ihn kaum erkennen, würde er ihr auf der Straße begegnen. An seine Haltung erinnerte sie sich, an die Bewegung, mit der er die Decke über seinen Oberkörper gezogen hatte, nachdem sie in sein Zimmer eingedrungen war. An die Neigung seines Kopfes, als er mit ihr gesprochen hatte.

Im Erdgeschoss ihres Wohnhauses war ein kleines Café, das vor allem von jungen Japanern besucht wurde. Studenten und Studentinnen, vielleicht gingen auch einige noch zur Schule. An einem Tisch gleich am Fenster saß ein einsamer Mann, jedenfalls sah er einsam aus, nicht wie jemand, der auf eine bestimmte Person wartet. Als er den Kopf zur Seite neigte, während Irene an der Fensterfront vorbeilief, sah er aus dem Augenwinkel und für einen Augenblick aus wie der Mann aus dem Hotel. Sei nicht albern, dachte sich Irene und fühlte in ihrer Tasche nach dem Haustürschlüssel. Sie zog ihn heraus, wog ihn in der Hand, und als hätte sie noch nie zuvor einen Schlüssel gesehen, besah sie sich die Zacken, das Metall, die Löcher und Kanten. Dann steckte sie den Schlüssel sorgfältig in die Tasche zurück, als wisse sie nichts damit anzufangen, und lief einfach an ihrem Haus vorbei. Ihre Beine machten das, und Irene gab sich geschlagen, sie leistete keinen Widerstand gegen das, was ihr Körper mit ihr vorhatte. Schnell war sie hinter einer Straßenecke verschwunden, und es kam ihr für einen Augenblick so vor, als sehe sie sich selbst hinterher, immer einen Moment zu langsam, zu unentschlossen folgte sie ihrem Körper nach.

6. Berlin. Früher.

Stephan saß drei Reihen weiter vorn, mittig. Irene sah, wie er Notizen machte. Er war Linkshänder. Es sah ungewohnt aus, wie er den Kugelschreiber hielt, seine Finger griffen irgendwie anders, sein Arm war in einem eigenartigen Winkel vom Körper gestreckt. Hin und wieder sah er auf, in Richtung der Dozentin, die sich bemühte, den Unterschied zwischen Phonemen und Allophonen zu erklären. An der Tafel stand ein wüstes Gekritzel aus Lautschrift und Fremdworten. Irene schrieb einige davon ab, Stephan vielleicht auch. Sicher wusste er, was sie bedeuteten und konnte mit den Lautschriftzeichen etwas anfangen, mit dem umgedrehten e und einem durchgestrichenen l, mit den Längenzeichen und Runen, die man heute eigentlich nur noch aus dem Isländischen kennt, und auch das vermutlich nur, wenn man für Sprachen ungewöhnlich viel übrig hat. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber sie stellte sich vor, wie er der Dozentin direkt ins Gesicht sah. Konzentriert. Interessiert.

Auf Irenes Knien lag ein Buch. Ihr Blick wanderte vom Pult vorn über die Tafel durch die Sitzreihen hinaus aus dem Fenster, hinein zu ihrer Sitznachbarin, hinab auf ihr Buch und wieder zu Stephan.

Die Vorlesung diente der Einführung in die Sprachwissenschaft, und besuchen musste sie jeder, der im ersten Semester in Germanistik eingeschrieben war. Irene war ein Jahr älter als die meisten, jedenfalls als die Frauen, aber die waren hier im Hörsaal ohnehin in der Überzahl. Sie hatte ein Jahr später angefangen mit dem Studium. Während die Jungen aus ihrer früheren Schulklasse Zivildienst machten oder ihren Wehrdienst leisteten und die Mädchen studierten, mit ihren Freunden zusammenzogen oder ein Jahr im Ausland verbrachten, wurde Irene anderswo erwachsen.

Wenn sie gefragt wurde, was sie in dem Jahr zwischen Abitur und Uni gemacht hatte, erzählte sie die Geschichte jedes Mal ein wenig anders, nicht weil sie etwas vertuschen wollte oder sich für ihre Untätigkeit schämte, sondern weil sie es selbst nicht genau wusste. Meist sagte sie einfach, dass sie noch nicht sicher gewesen sei, was sie studieren wolle, und das Jahr gebraucht habe, um sich zu orientieren. Das war plausibel und leuchtete den meisten Menschen sofort ein, dabei war sie nach diesem Jahr viel orientierungsloser als zuvor. Sie war nach Berlin gezogen, hatte gejobbt, war gereist, hatte sehr oft gar nichts gemacht und hatte Timo kennengelernt. Er erzählte ihr von Japan, immer wieder. Er wusste viel, hatte das Land studiert, an der Universität und auf Reisen. Sie tat, als könne sie das nicht beeindrucken. Sie hatte sich verliebt und zugelassen, dass er sich auch verliebt. Nur ein kleines bisschen. Ihre Liebe war eine zögerliche, zurückweichende; leise und ängstlich kamen sie einander nahe, um sich gleich darauf wieder voneinander zu entfernen. Für jeden Schritt, den sie sich auf ihn zubewegte, wich er ein kleines bisschen vor ihr zurück. Wenn er ihr dann plötzlich mehr Nähe zugestand, verschloss sie sich vor ihm. Anfangs wunderte sie sich, wie wenig ihr das ausmachte. Aber Irene ahnte, dass ihrer beider Furcht damit zusammenhing, dass sie einander sehr ähnelten. Dass sie beide zu viel schwiegen und zu viel allein waren, zu viele Geheimnisse hatten und dass sie beide dazu neigten, zu verletzen, zu verlassen und zu lügen – ohne es zu wollen, sicherlich. Aber sie gaben sich auch keine große Mühe, es zu verhindern.

Dann hatten sie sich schnell und ohne dass es sonderlich kompliziert gewesen wäre wieder auseinandergeliebt. Für Irene war das beinahe eine Erleichterung gewesen, ein ganz logischer Schritt. Für Timo wohl auch: Zu leiden schien er nicht, und glücklich sah sie ihn ohnehin selten. Es schien keinen Unterschied zu machen, ob sie zusammen waren oder nicht. Ganz verloren gegangen waren sie einander nie.

Wenn Timo in diesem einen Jahr eine neue Freundin hatte, oder zumindest eine Aussicht darauf, dann trafen er und Irene einander heimlich. Meistens in Irenes Wohnung. Er blieb selten länger als ein, zwei Stunden, über Nacht blieb er beinahe nie. Sie schliefen miteinander, danach redeten sie. Leise, flüsternd, mit geschlossenen Augen erzählten sie einander ihre Pläne und wovor sie Angst hatten, was sie erlebt hatten, was schiefgelaufen war und was nicht. Nie fragte sie nach den Frauen, die er mit ihr betrog. Timo fragte nie, ob sie auch jemanden hatte, und sie sagte nie, wenn es so war. Sie lag in seinem Arm, immer gleich, ihr Kopf an einer Stelle in seiner Armbeuge vergraben, die sich anfühlte, als sei sie extra für Irenes Kopf gemacht, und in diesen Augenblicken gab es auf der ganzen Welt nur sie beide. Hatte er niemanden, verschwand er, manchmal für Wochen. Wenn Timo anrief, war sie für ihn bereit, räumte die Wohnung auf und wartete auf sein Klingeln. Sie konnte sich nicht erklären, weshalb das so war, aber es wurde nicht langweilig, egal wie oft ihr Ritual sich wiederholte, und sie war nie beunruhigt, wenn er länger nichts von sich hören ließ. Weil sie sich auf ihn genauso verlassen konnte wie umgekehrt.

 

Kurz bevor die Frist für die Bewerbung um Studienplätze abgelaufen war, hatte sie das Formular zur Einschreibung der Uni ausgefüllt und ohne lange nachzudenken ein Kreuz bei Germanistik gemacht. Es erschien ihr naheliegend. Lesen war das einzige, das sie wirklich gut konnte. An ihrem ersten Tag an der Uni lud Timo sie zum Essen ein, er schien stolz zu sein, Irene wusste nicht worauf.

»Sag mal, hast du vielleicht neulich in der Einführungsvorlesung mitgeschrieben? Ich habe meine Notizen verloren, und nun weiß ich nicht, wegen der Klausur am Ende, und –«

Stephan nickte. Irene lächelte. Sie hatte ihn zwischen zwei Seminaren auf dem Flur gesehen, er stand allein. Ein wenig verloren. Sie hätte nicht gedacht, dass sie den Mut aufbringen würde, ihn einfach so anzusprechen, und als sie es dennoch tat, konnte sie nicht glauben, wie leicht das war. Sie redeten über die Kurse, die sie gemeinsam besuchten. Stephan riss ein paar Seiten aus seinem Block und gab sie Irene. Seine Schrift war schön. Die Buchstaben neigten sich nach rechts und waren ganz schmal. Sie standen dicht beieinander, berührten sich, man konnte gar nicht richtig sehen, ob Stephan den Stift beim Schreiben absetzte oder jedes Wort mit einem einzigen Strich schrieb.

Zu Hause sah sie die Zettel an. Es interessierte sie nicht, was in der Vorlesung gesagt worden war. Es war ohnehin schwierig, aus den Notizen eines anderen schlau zu werden, fand Irene, sie kamen ihr seltsam zusammenhanglos vor. Seine Schrift in ihrer Wohnung aufzubewahren, seine Gedanken, die Sätze, die er aufgeschrieben hatte – Irene erschien das ungeheuer intim. Kein Anfang von irgendetwas, nichts Flüchtiges, sondern eine ganz große Sache. Etwas Bedeutsames. Als hätten Stephans Aufzeichnungen und ihre Wohnung sich längst auf eine innige Beziehung miteinander eingelassen. Sie legte die Blätter auf den Küchentisch. Die Platte hatte sie zuvor abgewischt und achtgegeben, dass sie ganz trocken war.

»Es tut mir leid«, sagte Irene. »Wir können uns eine Weile nicht mehr sehen. Ich habe jetzt auch jemanden, er heißt Stephan.«

Sie lächelte. Es war ein gutes Gefühl, beinahe als ob es automatisch wahr würde, wenn man es nur ausspricht. Timo war am anderen Ende der Leitung; er schwieg ein wenig, dann sagte er irgendetwas, lange dauerte das Gespräch nicht.

Dass aus Stephan und ihr nichts wurde und dass sie Timo sehr wohl und sehr bald wiedersah, wusste Irene in Wahrheit genauso gut wie er, zumindest ahnte sie es. Aber für einen kurzen Moment sah sie alle Möglichkeiten vor sich. Stephan war eine davon. Mit jemandem wie ihm könnte alles anders sein. Sie könnten in seiner WG gemeinsam kochen, gemeinsam lernen. Auf ihrem Bett liegen, nebeneinander, und die Spinnweben an der Decke anschauen. In der Küche rauchen, am offenen Fenster, und Musik hören, was auch immer, fernsehen, essen, atmen, Kaffee trinken und Wein, tanzen, schlafen, arbeiten. Zusammen zum Supermarkt gehen, Arm in Arm. Seine Socken mit ihren Strumpfhosen zusammen in die Waschmaschine stecken. Die Stirn runzeln, streiten und schweigen. Sich allein fühlen, wenn der andere neben einem schlief und man selbst wach lag. Gewöhnlich sein, so gewöhnlich, dass es fast schon wieder kunstfertig wäre, so ein Leben. Beinahe zum Lachen, wie ernst es ihnen miteinander sein könnte.

Ein paar Tage lang blieb alles offen, so viele Leben lauerten auf sie, schienen plötzlich greifbar. Während sie sich durch ganze Universen voller besserer, anderer Welten träumte, ging vollkommen an ihr vorüber, dass Stephan nicht von sich hören ließ. Sie vergaß ihn beinahe, so sehr war sie damit beschäftigt, sich ein gemeinsames Leben mit ihm vorzustellen.

Dann sah Irene ein, dass er sie nicht wollte, dass er ihre Nachrichten in seiner Mailbox nicht übersehen hatte und dass es keine Nachlässigkeit oder Unaufmerksamkeit war, dass er im Café des Instituts nicht an ihren Tisch kam, sondern sich zu Vanessa setzte. Und dass die Möglichkeiten, die sie hatte, nicht so zahllos waren, wie sie gedacht hatte.

Vanessa hatte nun ein paar Möglichkeiten.

Sie saß neben Stephan in einem der Seminare. Nie hatte es so ausgesehen, als würden die beiden einander auch nur wahrnehmen. Aber wie sie dort ihren Kaffee tranken, aufgebracht redend, war es auf einmal ganz klar. Vanessa war anders, aufgeschlossen, Irene fand sie weder besonders hübsch noch besonders begehrenswert, aber ihre Wachheit, ihr hastiges Reden und ihr bedingungsloses Interesse für irgendwas, das mit dem Studium zusammenhing, das alles hatte etwas Rührendes. Stephan drehte zwei Zigaretten und legte eine davon vor Vanessa auf den Tisch. Sie nahm sie, ohne den Blick von Stephans Gesicht abzuwenden, und als sie aufstanden, fiel Irene auf, wie ähnlich ihre Bewegungen waren. Es war kein bisschen erstaunlich, dass sie einander mochten. Viele waren so, verliebten sich in die, die ihnen selbst am meisten glichen. Irene hatte große Zweifel, dass Stephan und Vanessa ihr Glück begriffen. Sie hätte sich gern für ihn gefreut. Es gelang ihr nicht.

Timo stellte keine Fragen, als sie nach einer Weile doch wieder vor der Tür stand, und sie war dankbar dafür. Er war auch nicht böse, obwohl unangemeldete Besuche eindeutig gegen ihre Regeln verstießen. Sie hatte Stephans Namen nie aus seinem Mund gehört. Irene fragte sich, ob das nur aus Desinteresse so war oder ob er vielleicht begriff, dass es besser war, die Sache so bedeutungslos wie möglich aussehen zu lassen. Manche Namen waren gefährlich, sie auszusprechen glich einer Geisterbeschwörung.

Sie hielt es noch eine Zeit an der Uni aus, aber sie gab acht, dass etwas wie mit Stephan nicht so bald wieder passierte. Sie studierte vor sich hin, verzettelte sich, besuchte Kurse, die sie nicht belegen musste, die sie aber interessant fand, und machte nur ab und zu mal einen Schein, den sie tatsächlich brauchen konnte. Es kam ihr vor, als säßen jede Woche neue Leute in ihren Seminaren und Vorlesungen, da war kaum jemand, den sie wiedererkannte. Zu Referaten ließ sie sich vom Arzt ein Attest ausstellen und spielte an solchen Tagen tatsächlich krank, blieb im Bett liegen, las in abgegriffenen Taschenbüchern und schaute Filme, trank Ingwertee und aß alles, was sie im Kühlschrank hatte. Niemand erwartete von ihr, dass sie mit dem Studium fertig würde. Oder dass sie sich etwas einfallen ließe für die lange Zeit danach. Ihrer Mutter war schon rätselhaft genug, dass sie überhaupt eingeschrieben war, sie stellte keine weiteren Fragen. Worte wie »wann« und »endlich« gingen ihr noch seltener über die Lippen als andere. Ihre Mutter war so geduldig, dass es einen rasend machen konnte. Irene wusste, dass das kein Wohlwollen ihr gegenüber war, sondern eher eine logische Folge der allgemeinen Teilnahmslosigkeit, mit der sie der Welt begegnete. Timo dagegen war weniger geduldig, hatte aber schnell gelernt, dass Irene Fragen nach ihrem Fortschritt, nach ihren Plänen und Aussichten immer unangenehm waren, egal wie vorsichtig sie formuliert waren. Die Leute, die mit ihr im Hörsaal saßen, begriffen nicht, dass sie sie längst in allem überholt hatten. Und falls doch, war es ihnen egal genug, nicht davon zu sprechen. Als ihre Kommilitoninnen gerade mit dem neunten Semester begannen, buchte sie ein Ticket nach Ōsaka.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?