Das Mädchen mit dem Flammenhaar

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Das Mädchen mit dem Flammenhaar
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Janet Borgward

Das Mädchen mit dem Flammenhaar

Macht und Mächtige

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Herren von Kandalar

Neschwirr

Ein Meer von Fragen und leeren Karten

Rauch über Gullorway

Verbrannte Spuren

In den Sümpfen

Die Bowmen

Das Brandmal

Der Rat der Fünf

Jodee

Ein Treffen in den Baumkronen

Lebende Bilder

Angriff auf Greenerdoor

Amarott

Besucher in der Nacht

Entführt

Die Burg von Kandalar

Geheimgänge

Bücher

Durch die Lüfte

In meinem Kopf

Flugstunden

Nächtlicher Ausbruch

Versöhnliche Töne

Unliebsame Familienbande

Der Blutstein

Unter einem schützenden Dach

Verräterische Geschenke

Das Komplott

Handfeuerwaffen

Karten und andere Bilder

Unsichtbare Mauern

Bewegen was erstarrt

Die Schlacht bei Xellaris

Der Untergang

Gullorway

Nachwort

Danksagung

Bisher erschienen

Impressum neobooks

Die Herren von Kandalar

Was hier gefunden wird, kann woanders auch gefunden werden. Was hier nicht gefunden wird, kann nirgends gefunden werden.“Aus Mahabharata, 1. Buch

Der Warnton aus dem Horn der Späher ließ meine dreckverkrusteten Hände innehalten. Alarmiert reckte ich den Kopf empor, suchte mit zusammengekniffenen Augen den Horizont ab, um den Grund dafür auszumachen. Eine kleine, dunkle Wolke wurde in der Ferne sichtbar, doch versprach sie nicht den lang ersehnten Regen. Ein Reiterheer der ‚Herren von Kandalar‘ nahte. Wie Heuschrecken zogen sie übers Land, eine Spur der Verwüstung hinterlassend. Vornehmlich auf der Suche nach Büchern. Niemand durfte eines besitzen und wenn doch rollte sein Kopf – denn Wissen bedeutete Macht und sie waren die Mächtigen, uneingeschränkt. Dieses Gesetz existierte seit Generationen.

Die Herren von Kandalar trieben Steuern ein, viel mehr als die meisten unseres Clans in der Lage waren zu geben. Wer nicht zahlen konnte, verlor Frau oder Kinder an die Herren von Kandalar als Pfand, bis die Schuld beglichen war – keiner kehrte je zurück. Im Laufschritt jagte ich über die staubigen Felder, sorgsam darauf bedacht, nicht die Setzlinge niederzutrampeln. Die Bewässerung des trockenen Ackerlandes verlangte ohnehin besonderen Einfallsreichtum. Geregnet hatte es seit Monaten nicht mehr und die zunehmenden Sturmböen dörrten den Boden zusätzlich aus. Überhaupt war das Wetter kaum noch vorhersehbar. Während es in einigen Gebieten unaufhörlich regnete, wie die Händler zu berichten wussten, herrschte in der Region von Kandalar größten Teils Dürre. Ein Kometensplitter, der unseren Planeten vor über zehn Jahren gestreift hatte, so klein wie ein Weinfass jedoch mit der Wirkung eines Vulkanausbruchs. Danach begann sich die Natur zu wandeln. Doch die meisten gaben den Herren von Kandalar die Schuld daran, da man ihnen dunkle Kräfte nachsagte und es leichter war, ihnen sämtliches Unheil anzulasten. „Wie viel Zeit bleibt uns?“, fragte Miles, ein Junge in meinem Alter. Leichtfüßig lief er neben mir her. Mit seinen sechzehn Jahren und gut einem Meter neunzig Körpergröße galt er fast schon als Mann. Sein durch die Arbeit auf dem Feld gestählter Brustkorb glänzte vor Schweiß, das um die Hüften geschlungene Hemd flatterte wie eine Fahne im Wind. „Keine Ahnung, lauf einfach!“ „Wer zuerst am Gemeindehaus ist“, stieß er aus und sprintete davon. Trotz der angespannten Situation stahl sich ein Lächeln auf meine Lippen. Miles schaffte es immer wieder, mich zum Lachen zu bringen. Wir waren wie Geschwister. Unter uns herrschte ein Einverständnis, auch ohne Worte. „Wenn du weiter so trödelst, werden sie dich mit auf die Burg nehmen.“ Sein brauner Haarschopf wirbelte kurz herum, gefolgt von einem jungenhaften Lachen. Mein Ehrgeiz war geweckt. Natürlich wollte ich Miles einholen. Ganz Gullorway war inzwischen auf den Beinen. Die Männer des Ältestenrates, denen auch mein Vater angehörte, trieben uns an. „Beeilt euch. Alle ins Gemeindehaus und wartet dort auf eure Anweisungen“, feuerte mein Vater uns mit vor Anstrengung rotem Kopf an. „Mit Mistgabeln gegen eine Reiterschar des Schreckens, aus deren Waffen Flammen und Blitze schießen“, stieß Miles atemlos hervor, als wir vor dem Gemeindehaus zum Halten kamen. „Ist doch sinnlos.“ „Avery könnte uns ja ein paar Wunderwaffen zeichnen, aber sie malt ja lieber Blümchen und Kräuter“, stichelte meine ältere Schwester Charise. Sie war achtzehn und wurde nie müde mich spüren zu lassen, wie erwachsen sie schon war. Sie klopfte sich die Handflächen an ihrer sauberen Hose ab, als wären diese Hände je mit Dreck in Berührung gekommen. Nicht eine Schweißperle glänzte auf ihrer makellosen Alabasterhaut. Ja, ich konnte recht gut zeichnen. In letzter Zeit spielte mir diese künstlerische Fähigkeit allerdings einen Streich. Was ich zeichnete wurde – lebendig. Manchmal war es mir gar, als verströmten die gezeichneten Kräuter einen realen Duft nach Rosmarin, Liebstöckel, Sommerblumen oder was auch immer ich gerade zu Papier brachte. Bisher hatte ich noch mit niemandem darüber gesprochen. Es war mir irgendwie peinlich und ich hatte Angst davor, für verrückt erklärt zu werden. Doch Charise schien etwas zu ahnen und weil sie selbst über keinerlei Talente verfügte, außer vielleicht den jungen Männern in unserem Dorf den Kopf zu verdrehen, zog sie mich jetzt damit auf. Zum Glück ging keiner darauf ein. Nur mein Vater warf mir einen alarmierten Blick zu, wobei seine blassblauen Augen wie frisches Quellwasser leuchteten. Wir drängten uns ins Gemeindehaus und ließen eine schmale Gasse für die Alten und Gebrechlichen frei. „Da sind ja meine Mädchen.“ Unsere Mutter betrat den Raum. Erleichterung stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie uns entdeckte. „Kommt. Wir gehen weiter nach hinten durch.“ Trotz der Gefahr, die in der Luft lag, verströmte sie Zuversicht und Ruhe. Sie war noch immer eine bildhübsche Frau. Hochgewachsen und schlankwüchsig, wenn auch ihr rabenschwarzes Haar allmählich Silberfäden sichtbar werden ließ und sich feine Linien um Mund und Augen abzeichneten, die nicht nur vom Lachen herrührten. Sie bog ihren schmalen Rücken durch, was ihr eine gewisse Würde und Größe verlieh. Die Menschen in Gullorway waren meist hochaufgeschossen. Für die Männer war eine Körpergröße von einem Meter neunzig bis zwei Meter nichts Ungewöhnliches. Selbst Frauen maßen rund einen Meter achtzig. Nur Alter und Gram ließ die Bewohner mit der Zeit schrumpfen, so schien es. Die harte Arbeit auf den Feldern tat ihr übriges. „Es ist stickig hier drin“, beklagte sich Charise als wäre dies unsere einzige Sorge. „Ich glaube, ich sehe Denian dort hinten“, unternahm ich den Versuch, meine Schwester fortzulocken. Denian war ihr aktueller Freund. „Ich will aber, dass ihr an meiner Seite bleibt“, war die Stimme meiner Mutter zu vernehmen, in der außer dem plötzlichen Befehlston noch etwas anderes mitschwang: Angst. Charise rollte mit den Augen, ein genervtes Stöhnen auf den Lippen. „Ich bin doch kein Kind mehr.“ „Eben“, setzte Mutter mit scharfem Tonfall hinzu. Ihr Blick verriet, dass es besser war, jetzt keine Widerworte zu geben. Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen. Es machte mich nervös hier drin zu warten und nicht zu wissen, was draußen vor sich ging. In diesem geschlossenen Raum mit nur einer Fluchttür hätten etwaige Angreifer ein leichtes Spiel. Langsam begann die Beklemmung von mir Besitz zu ergreifen. Was, wenn die Herren von Kandalar meinen Lesestein fanden, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Mein Vater hatte ihn mir heimlich von einer seiner Handelsreisen mitgebracht, weil er wusste, dass ich leidenschaftlich gerne las. Ein Stein wäre unauffälliger als Bücher, so hatte er gesagt. „Dieser Stein ist etwas Besonderes. Niemand darf wissen, dass du ihn besitzt, niemand.“ Das gebündelte Wissen sämtlicher Bücher sollte sich darin befinden. Seitdem hatte ich das ein oder andere darin gelesen. Heimlich. Sogar im Dunkeln. „Du musst das Wissen des Lesesteins, wenn nötig mit deinem Leben vor den Herren von Kandalar, sogar vor jedem von uns, schützen“, ließ er mich schwören. Der Lesestein aus meisterlich geschliffenem schwarzem Onyx, war etwa so groß wie meine Hand und so dünn wie mein Ringfinger. Die ebenmäßig gearbeitete Frontseite wechselte von tintenschwarz zu einer milchig durchscheinenden hellen Lage, wann immer ich mit der Hand darüberstrich. Dann erschienen vollständige Texte, fast so wie in einem Buch, nur dass die äußeren Ränder ein bisschen ausgefranst wirkten. Bei erneuter Berührung war es, als würde ich eine Buchseite umschlagen. Die Energie zur Darstellung gewann der Stein aus dem Sonnenlicht, so meinte mein Vater. Ich hatte aber auch davon gehört, dass Onyx allein schon die Fähigkeit besaß, das Selbstbewusstsein seines Besitzers zu steigern, weswegen man ihn auch den ‚Stein des Egoisten‘ nannte. In den Händen seines Besitzers förderte er analytisches Denken und Durchhaltevermögen, um die eigenen Ziele unaufhörlich zu erreichen – wovon ich allerdings noch nichts gemerkt hatte. In den wenigen Augenblicken, in denen ich unbemerkt in dem Stein lesen konnte, versuchte ich mir dieses Wissen einzuprägen, doch war der Lesestoff einfach zu umfangreich. Hufgetrappel mehrerer Reiter war nun auf dem Vorplatz zu hören. Aufgeregte Stimmen wurden von barschen, fremd klingenden Befehlen übertönt. Etwas zischte oder knallte kurz hintereinander. Vielleicht das Leder einer Peitsche. Dann war ein unterdrückter Schmerzensschrei zu hören. Alle im Raum erstarrten. „Wer ist euer Anführer?“, fragte eine derbe Stimme mit fremdländischem Akzent und schleppendem Tonfall. „Das bin ich. Aris.“ „Ist euer Dorf plötzlich ausgestorben?“ Gelächter von weiteren Männern war zu hören. Ich reckte mich, um irgendetwas von dem erkennen zu können, was da außerhalb vor sich ging. „Bei drei sind alle hier auf dem Platz oder bleiben für immer in diesem maroden Bau! Schätze, das baufällige Haus brennt wie Zunder, wenn wir ein paar Fackeln hineinwerfen.“ Es wurde so still, dass man eine Nadel hätte fallen hören können. Fast schmerzhaft umschloss Mutter mein Handgelenk. „Was wollt ihr?“, vernahm ich die Stimme meines Vaters. Klar und fest. „Ich bin es, der hier die Fragen stellt! Also, bei drei. Eins …“ Die Tür des Gemeindehauses flog auf. Einer nach dem anderen hasteten wir nach draußen. Kaum war der Letzte auf den Dorfplatz hinaus gestolpert, stach bereits der beißende Geruch von Feuer in unsere Nasen. Angefacht vom böigen Wind brannte das Gemeindehaus bald lichterloh. Die Hitze war schier unerträglich, doch wagte niemand sich zu bewegen, um den Brand zu löschen. „Sind alle eure Gebäude so instabil?“ Der Mann ohne Namen lachte boshaft und trieb sein Pferd durch die Menge. Wie gebannt stierte ich zu der imposanten Erscheinung des Sprechers hinüber. Unmerklich versuchte meine Mutter Charise und mich hinter sich zu bringen und damit aus dem Blickfeld der Herren von Kandalar. Der hünenhafte Mann samt Begleiter waren komplett in schwarz gekleidet. Seine Reitstiefel reichten ihm in einer breiten Krempe bis übers Knie. Goldene Bänder oder Schlaufen waren an den Seiten angebracht. In einer dieser Schlaufen steckte ein Schaft mit einem reich verzierten Dolch. Der schwarze, schwere Umhang des Mannes schimmerte am Saum leicht grünlich, wenn sich der Wind darin verfing. Seine Hände steckten in schwarzen Lederhandschuhen, mit breiter Manschette. Eine Hand ruhte lässig auf dem Knauf eines seltsamen Stabes, der in seinem Gürtel steckte. Die andere hielt die Zügel seines pechschwarzen Pferdes. „Nun Aris, wo dein Clan endlich so hübsch versam …“ Ein lautes Krachen und Knarren verschluckte den Rest des Satzes. Die Holzbalken des Dachstuhls hielten dem Feuer nicht mehr länger stand. Funken stoben wie Glühwürmchen umher und versengten jedem, der zu nahe beim Feuer stand Haut und Haare. „… verlangen wir die Herausgabe der vereinbarten Steuern“, sprach der Hüne unbeirrt weiter. In schleppendem Tonfall leierte er Forderungen herunter. „Dreißig Säcke Getreide, zehn Rinder, fünf Schweine, zwanzig Hühner und – eintausend Platons.“ „Eintausend Platons?“, stieß mein Vater hervor, dabei jede Vorsicht außer Acht lassend. „Hast du damit ein Problem, alter Mann?“ „Seht euch dieses Land doch an. Es gibt kaum genug für uns zum Leben her. Und erst kürzlich haben wir fünfhundert Platons.“ „Willst du wirklich mit mir handeln?“, dabei beugte er sich zu meinem Vater herunter, während die Hand am Knauf seiner Waffe zuckte. „Wir haben nichts, was wir euch geben könnten“, die Stimme meines Vaters war nur noch ein Flüstern. Es zerriss mir das Herz, ihn so zu Kreuze kriechen zu sehen. „Ihr treibt doch regen Handel mit Timno Theben und selbst Perges ist euch nicht zu weit.“ Er trieb sein Pferd auf meinen Vater zu, der zurückwich. „Womit bezahlt ihr dann diese Waren?“ „Mit Medizin.“ „Lauter! Eure seichte Sprache erreicht mein empfindliches Ohr kaum.“ „Wir stellen Medizin im Tausch gegen Waren her.“ „Tatsächlich? Seltsam, dass wir nichts davon wissen“, spie er meinem Vater entgegen. Selbst von meinem Platz aus konnte ich erkennen, wie seine Augen diabolisch funkelten. Mit einer herrischen Geste wandte er sich an seine Reiterschar, die aus etwa zwanzig, dreißig düster dreinblickenden Männern bestand. Er bellte ihnen etwas in ihrer Sprache zu, woraufhin sie auszuschwärmen begannen und in unsere Häuser und Stallungen eindrangen. „Aber wir brauchen die Vorräte“, setzte mein Vater an. „Ihr solltet lernen, damit besser zu haushalten.“ Wenige Zeit später trieben die Männer ein paar Rinder und Schweine über den Dorfplatz von Gullorway. Einer der Herren von Kandalar näherte sich dem Wortführer und schien ihm etwas zu überreichen, was sein langer Umhang jedoch verbarg. „Und was ist das hier?“ Triumphierend hielt er ein Buch in die Luft. Die Gesichtszüge meines Vaters erstarrten augenblicklich. „Das – ist unmöglich“, brachte er hervor. „Und dennoch halte ich es in Händen, wie du siehst.“ Er warf meinem Vater das verbotene Buch wutschnaubend vor die Füße. „Mir scheint, du hast deinen Clan nicht unter Kontrolle. Sie arbeiten ungenügend und verbringen ihre Zeit offenbar mit l-e-s-e-n.“ Wie zähfließender Schleim flossen die Worte aus seinem Mund, sein eigenartiger Dialekt war nur mit Mühe zu verstehen. „Und jeder von euch weiß, was darauf steht“, wandte er sich dann an alle Dorfbewohner, nahm meinem Vater damit die Möglichkeit für weitere Rechtfertigungen. „Also, wem gehört das Buch?“ Es entstand eine unerträgliche Stille. „Mir“, ertönte unverhofft eine Männerstimme von weiter vorne. „Mir auch.“ „Und mir.“ Immer mehr Stimmen wurden laut und schwollen zu einem einzigen Rhythmus an. „Mir, mir, mir!“ Bis auch Frauen und Kinder in dem Singsang einstimmten. Plötzlich zog der Mann seinen Stab aus dem Gürtel und feuerte damit blindlings in die Menge hinein, woraufhin einige Bewohner schreiend zusammenbrachen. „Du!“, wies er aufs Geratewohl auf einen Jungen. Cyrian, wenn ich ihn richtig erkannt hatte. „Herkommen!“ Cyrian versteifte sich. Er hatte keine Chance gegen die berittenen Herren von Kandalar, die bereits aus ihren Sätteln gesprungen waren. In ihrer Mitte wirkte er geradezu schmächtig. Sie überragten ihn um fast zwei Kopflängen und ihre Schultern waren um ein Vielfaches breiter, muskulöser. Grob zwangen sie ihn auf die Knie. Es bedurfte nur eines kurzen Nickens ihres Anführers, dass einer von ihnen einen Säbel unter seinen Umhang hervorbrachte und mit einem einzigen Hieb Cyrians Kopf vom Rumpf trennte. Starr vor Entsetzen blickte ich auf Cyrians kopflosen Rumpf, unter dem sich bereits eine riesige Blutlache zu bilden begann, die gierig von dem staubtrockenen Boden aufgesogen wurde. Cyrian war gerade erst vierzehn Jahre alt geworden. „Gehört sonst noch jemandem das Buch?“ Mit unbeweglicher Miene sah er in die vor Schreck geweiteten Augen der Dorfbewohner. Niemand wagte auch nur zu Atmen. „G-u-t. Dann wäre d-a-s geklärt.“ Seine fremde Aussprache hallte wie ein abklingender Sturm in den Ohren nach. Er schloss zu seinen Männern auf, während sich die Menge vor ihm teilte. Hass, Mordlust, Resignation und vieles mehr las ich in den Gesichtern unseres Clans. Ein letztes Mal drehte er sich um, wobei seine ungnädigen Augen über die Köpfe der Menge hinweg nach etwas zu suchen schienen. Kurz bevor sich unsere Blicke trafen, stellte sich meine Mutter vor mich und nahm mir damit die Sicht. Und genauso schnell wie sie in Gullorway eingefallen waren, verschwanden die Herren von Kandalar auch wieder. Zurück blieben Trauer und Fassungslosigkeit.

 

Neschwirr

Wie ein dunkler Schatten preschten die Reiter der Herren von Kandalar über magere Wiesen, vorbei an den schroffen Felsformationen der Ellar Hills, einer Gebirgskette in Merdoran. Nördlich des Massivs ragte dagegen ein einzelner graugrüner Bergkegel empor, auf dessen Gipfel ein monumentales Bauwerk thronte: die Burg von Kandalar. Eine Burg, so gewaltig und groß, dass eine Stadt darin Platz finden könnte. Mit zahlreichen spitzen Türmen, die wie Nadeln in den Himmel stachen, stets verborgen in einem dichten Wolkenkranz. Das gelblich schimmernde Mauerwerk aus Gold Quarzit überstrahlte die grobbehauenen stützenden Mauern aus Basalt und war bereits aus weiter Ferne sichtbar.

Die Reiter gaben ihren vor Anstrengung dampfenden Pferden die Sporen, um noch vor Einbruch der Dunkelheit auf die Burg zu gelangen. Wuchsen am Fuße des Berges noch Gräser, schneidend scharf wie Messerklingen, verlor sich der Boden zusehends in unwegsames Gelände. Knöchernes, mannshohes Dornengestrüpp zerrte an den Gewändern der Männer und erschwerte ihnen den Aufstieg. Kurz bevor die imposanten, schmiedeeisernen Tore der Burg nach unten gelassen wurden, stob die Reiterschar über den Burgplatz. Noch im Galopp sprang Manold, der Wachmann, aus dem Sattel. Unwirsch schlug er die helfende Hand eines herbeigeeilten Dieners beiseite.

In seinen schulterlangen schwarzen Haaren, haftete noch der Staub vergangener Tage. Schwungvoll stieß er die Tür zur Schenke auf und zog sich einen Stuhl heran.

„Bring mir einen großen Krug kühles Bier und einen Batzen Fleisch. Ich bin am Verhungern“, wies er ein dürres Dienstmädchen an. Achtlos warf er seinen schweren Umhang über einen Stuhl, der unter der Last umzukippen drohte. Eine Hand fing ihn mühelos auf.

„Manold. Schon so zeitig zurück von eurer Reise?“

Die Stimme des weitaus jüngeren Mannes klang schneidend scharf.

„Lange genug um eine anständige Mahlzeit und …“

„Mein Vater wartet ungern auf Neuigkeiten, die du sicher zu berichten hast. Wenn du also so freundlich wärst. Ich bin sicher, dass von seinem Abendessen noch ein paar Bissen für dich übriggeblieben sind. Und zieh dir frische Kleidung an.“

Nur mühsam beherrscht erhob sich Manold, um der Aufforderung Folge zu leisten.

„Wie Sie wünschen, junger Lord.“

Dabei verzichtete Manold bewusst auf die korrekte Anrede ‚Guhl‘, um ihm eine Lektion zu erteilen. Er, Manold hatte schon gekämpft, als dem Bürschchen noch der Rotz aus der Nase lief.

„Mir scheint, du hast deine guten Manieren beim Pöbel in den Dörfern gelassen.“

Die rabenschwarzen Augen des jungen Lords blitzten gefährlich auf. Viele waren schon für leichtere Vergehen getötet worden. Reumütig senkte der Wachmann seinen Kopf.

„Ich bitte um Vergebung, Neschwirr-Guhl. Hunger und Durst haben mir wohl die Sinne vernebelt.“

Kurze Zeit später stand Manold mit knurrendem Magen, frischer Kleidung und vom Bad noch feuchtem Haar vor Mahilo-Esch, dem herrschenden Lord von Kandalar. Der dürre betagte Mann saß am Ende einer ausladenden, hölzernen Tafel und schob gerade einen Teller mit den Resten eines Ochsenknochens beiseite.

 

„Zu zäh für meine alten Zähne. Aber wenn du magst?“

Eine Reihe Goldzähne trat hinter spröden Lippen zum Vorschein. Manold hatte verstanden.

„Zu gütig, Mahilo-Esch doch ich habe mir in der Schenke etwas zurückstellen lassen.“

„Wollen wir hoffen, dass es lange haltbar ist. Hast du Neuigkeiten für mich, Wachmann?“

Manold trat von einem Fuß auf den anderen. Von den engen Reitstiefeln waren seine Füße jetzt noch geschwollen. Wie gerne hätte er sich nach einem üppigen Mal auf einer bequemen Liege ausgestreckt, während ein junges Mädchen ihm die verkrampften Waden massierte. Doch der Alte bot ihm keinen Platz an.

„Wir haben Getreide und Vieh eingetrieben.“

„Und?“

„In Gullorway haben wir ein verbotenes Buch entdeckt. Sein Besitzer verlor den Kopf.“

Manold strich sich stolz über den dichten Bart. Scheppernd flog der Teller mit den Essensresten vom Tisch, als Mahilo-Esch ihn mit seinem sehnigen Arm fortwischte, Gift und Galle speiend.

„Hast du nicht was vergessen?“

Die Brust wurde ihm zu eng, als Manolds Herz dagegen zu hämmern begann. Der Alte wusste es. Wie hatte er in der kurzen Zeit …

„Und eintausend Platons.“ Schweißperlen rannen Manold über die Stirn. Sein Hunger war verflogen.

„Die du dir einstecken wolltest!“ Mahilo-Esch war aufgesprungen. Selbst im hohen Alter von fast achtzig Jahren überragte er Manold. „Also überlege dir gut, ob deinem versoffenen Hirn nicht noch etwas Wichtiges entgangen ist.“ Lauernd sah er Manold an.

Fieberhaft dachte dieser nach, was der Alte noch meinen könnte. Plötzlich stand Neschwirr neben seinem Vater, ohne dass Manold ihn hatte hereinkommen hören. Der Sohn, der einmal Mahilo-Eschs Nachfolger sein würde. Flüsternd beugte Neschwirr sich zu seinem Vater herunter, der inzwischen wieder Platz genommen hatte.

„Sag mir, Manold. Was soll ich mit einem obersten Wachmann, wenn dieser blind und gierig ist?“ Mahilo-Eschs Stimme war mit einem Male leise doch dröhnte sie laut in Manolds Ohren. Jeder auf der Burg wusste, wozu der alte Lord fähig war.

„Ich mag alt sein, Manold, aber meine Sinne sind noch jung. Eure dagegen scheinen abzustumpfen, wenn eure Augen junge Mädchen mit kupfernem Haar übersehen.“

Also war es doch keine Sinnestäuschung gewesen. Doch als er einen zweiten Blick gewagt hatte, waren die Köpfe in der aufgebrachten Menge verschwunden. Manold stand wie versteinert da, indes Neschwirr mit geschmeidigen, lautlosen Schritten zu ihm schlenderte und Mahilo-Esch ihn weiter unter Beschuss nahm.

„Wie ich sehe, kommt die Erinnerung langsam. Doch zu spät, Manold. Die Zeiten sind schlecht und Frauen, gesunde Frauen, rar. Du weißt, dass wir nach der einen suchen, dem Mädchen mit dem Flammenhaar. Dich noch weiter durchzufüttern erscheint mir sinnlos.“

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen als Neschwirr, flink wie ein Geist, ein kleines juwelenbesetztes Langmesser unter seinem Überwurf hervorbrachte und Manold seitlich bis zum Heft in die Brust stieß. Ein sauberer Stoß. Absolut tödlich. Mit einer gereizten Grimasse quittierte Mahilo-Esch den Mord, der vor seinen Augen geschah.

„Lass ihn verschwinden und sorg dafür, dass nichts von seinem unreinen Blut weiterhin meinen kostbaren Boden besudelt.“

„Wie du wünschst, Vater.“

Neschwirr deutete eine Verbeugung an. Das Messer war wieder in den langen Ärmeln seines Gewandes verschwunden.

„Und ich will, dass du nach Gullorway reitest. Bring mir die Mädchen mit den roten Haaren. Eine von ihnen wird die Richtige sein und für die andere finden wir hier sicher auch noch Verwendung. Es ist mir egal, wie du das anstellst, aber sorge dafür, dass es niemanden aus dem Dorf mehr gibt, der darüber berichten könnte!“

„Eine einfache Aufgabe und ganz nach meinem Geschmack, Vater.“ Neschwirr richtete sich voller Stolz auf. Sein Vater hatte längst das Potential erkannt, das in ihm steckte. Mit seinen dreiundzwanzig Jahren war es für Neschwirr bald an der Zeit, dass er dessen Nachfolge übernahm.

„Enttäusche mich nicht“, setzte Mahilo-Esch nach.

Aufgebläht wie ein Gockel verließ Neschwirr den Raum. Er sprach zwei Männer aus seinem Gefolge an, auf deren Verschwiegenheit er vertraute. Kurze Zeit später war von dem törichten Manold nichts mehr zu sehen. Die dunklen Holzplanken aus geschliffenem Schiffsrumpf ließen nicht erkennen, was hier geschehen war.

Doch bevor Neschwirr aufbrach, gab es noch einiges zu regeln. Schlafen konnte er später.

„So spät noch auf den Beinen, Bruder?“

Neschwirr rannte geradewegs in seinen Halbbruder Amarott, dem Sohn einer jungen Hure, an der sein Vater Gefallen gefunden hatte und die zu eine der ersten Gelblinge mutierte, so erzählte man sich. Überall stand der siebzehnjährige im Weg herum.

„Genau das könnte ich dich fragen, Amarott. Ist es nicht schon längst Schlafenszeit für dich, kleiner Bruder?“

„Irgendetwas hat mich aus dem Schlaf gerissen.“ Amarotts buschige Augenbrauen warfen sanfte Wellen. Ein Anflug von Spott umspielte seine Lippen.

„Dann sieh zu, dass du dir von Benoe ein Schlafmittel geben lässt. Ein Aufguss mit Melisse soll Kindern bei Schlafstörungen helfen.“

Amarott ließ sich diesmal nicht provozieren. Zu groß war seine Neugierde, um zu erfahren, was es mit dem großen, zugeschnürten Bündel auf sich hatte, das ein paar von Neschwirrs Vertrauten aus dem Esszimmer seines Vaters herausgetragen hatten.

„Bei Kindern, mag sein. Aber Benoe hat noch andere Vorzüge, die einen schläfrig machen können.“

„Sieh zu, dass du in dein Zimmer kommst, und steh mir nicht im Weg, kleiner Bruder.“ Langsam verlor Neschwirr die Geduld.

Behände trat Amarott beiseite und ließ Neschwirr ziehen. Dieser schlug einige Umwege ein, um den Schatten seines Bruders abzuschütteln. Sein Weg führte ihn schließlich über den nun leeren Burghof, vorbei an den verschlossenen Fensterläden des Schmieds und weiter durch verschlungene Gassen, an den Mauern hochherrschaftlicher Häuser entlang.

Die Burg bot mehreren hundert Menschen Platz, fast ausschließlich Männern. Die Frauen von Kandalar hingegen fielen seit Jahren einer rätselhaften Seuche zum Opfer oder mutierten zu Gelblingen, schauderhaften Wesen mit vogelartigen kahlen Köpfen und Klauen. Mahilo-Esch hatte verfügt, dass diese geisterhaften Wesen in den Verliesen der Burg gehalten wurden, an einem Ort, zu dem nur einige Auserwählte Zugang hatten.

Auf leisen Sohlen und weiter im Schutz der Dunkelheit erreichte Neschwirr letztlich sein Ziel, das Haus des alten Färbers. Was er an ihm schätzte, war seine Verschwiegenheit, wenn auch sein Lohn immer unverschämter wurde. Aber ein in die Jahre gekommener Mann lebte schließlich nicht ewig.

„Was führt Sie zu so später Stunde noch in meine bescheidenen Räumlichkeiten, Neschwirr-Guhl?“

„Lassen wir das Theater. Du bist nicht bescheiden und ich bin in Eile. Ich brauche zehn Männer, die keine Fragen stellen und einen langen Ritt nicht scheuen. Vier Späher, die vorausreiten und das Gelände sichern. Dazu Gelblinge, die ihre letzten Gehirnzellen einzusetzen wissen und bedingungslos gehorchen. Kannst du mir da aushelfen?“

Neschwirr befingerte ein Stück frisch gegerbtes Leder, das so weich war wie die Haut eines jungen Mädchens.

„Der Zufall will es, dass mir einige Männer noch einen Gefallen schulden.“ Der Färber lächelte und ließ dabei ein paar faule Zahnstummel sehen. Das Gold der Zähne war nur den Lords von Kandalar vorbehalten. „Und bei den Gelblingen, nun ja. Sie werden immer nützlicher …“

„Gut.“ Neschwirr gab noch weitere Anweisungen und machte dann einen Treffpunkt aus.

„Da wäre noch eine Kleinigkeit, Neschwirr-Guhl.“

„Wie viel?“

„Nun, ich denke eintausend Platons wären eine angemessene Summe.“

„Überspann den Bogen nicht, Färber. Mein Vater könnte sich wundern, woher dein plötzlicher Reichtum stammt. Einhundertfünfzig Platons jetzt und weitere zweihundert, wenn der Auftrag ausgeführt ist und ich zurück bin.“

„Welche Garantie habe ich, dass ihr gesund zurückkommt, Neschwirr-Guhl? Die Herren von Kandalar sind nicht überall beliebt.“

„Das ist mein Preis. Nimm an, bevor ich es mir anders überlege.“

„Vierhundert jetzt und vierhundert nach eurer erfolgreichen Reise würden mein Gewissen beruhigen.“

Neschwirr griff in die Falten seines Umhangs und zählte dreihundert Platons ab, die er dem Färber auf den fleckigen Holztisch warf. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ er den stickigen Raum. Es würde der letzte Gefallen sein, um den er den alten Halsabschneider bat.