Loe raamatut: «Sie war meine Königin», lehekülg 3
„Ich kann hellsehen“, behauptete ich.
„Kannst du gar nicht!“, widersprach Melissa, die ebenfalls von ihrem Rad abgestiegen und mir gefolgt war.
„Dürfen meine Schwester und ich mitspielen?“, fragte ich.
„Aber wir müssen doch nach Hause“, erinnerte mich Melissa.
„Ein paar Minuten haben wir noch Zeit“, widersprach ich, obwohl wir in der Tat schon ziemlich spät dran waren.
Eine Weile kullerten wir die Murmeln hin und her, nachdem wir Guido unsere Namen verraten hatten. Dann wurde die Tür des Salons geöffnet, und Angelina Angelo trat gefolgt von ihrer Schwester und Emily nach draußen. Ihre gelben Kittel hatten die drei im Salon gelassen. Die Friseurinnen trugen bunte T-Shirts mit irgendwelchen Aufschriften zu ihren Jeans. So etwas würde meine Mutter im Leben nicht anziehen. Ihre Kleidung musste stets Eleganz ausstrahlen und entsprechend viel kosten.
Während Emily und Sabrina nicht weiter Notiz von uns nahmen und zu ihren Fahrrädern gingen, kam Angelina zu meiner großen Freude auf uns zu. „Na, Guido, hast du Freunde gefunden?“, fragte sie und strich ihrem knienden Sohn über das Haar.
Guido stand auf und nickte. Melissa und ich erhoben uns ebenfalls. „Hallo Angelina“, sagte ich mutig.
„Hallo ihr zwei“, begrüßte Angelina meine Schwester und mich lächelnd. „Leider kenne ich eure Namen nicht.“
„Constantin und Melissa“, antwortete ich schnell.
„Che bello“, fand Angelina. „Was für schöne Namen.“
„Bist du öfter hier?“, fragte ich Guido, während mein Herz wegen Angelinas Kompliment noch raste. Dabei hatte ich ihren Sohn ja zum ersten Mal dort spielen gesehen.
„Manchmal“, antwortete Guido.
„Guido war ein paar Tage bei seine Papa“, erklärte Angelina. „Aber jetzt ist er wieder bei mir.“
„Dann sehen wir uns morgen wieder?“, wollte ich wissen.
Guido nickte.
„Er freut sich, euch zu sehen“, übersetzte Angelina die Geste ihres Sohnes. „Aber jetzt müssen wir nach Hause.“
„Ja, wir auch“, fiel mir siedend heiß ein. „Bis morgen, Guido!“
„Bis morgen!“, wiederholte Melissa.
Guido hob zum Abschied die Hand, während meine Schwester und ich auf unsere Fahrräder stiegen. Dann traten wir schnell in die Pedalen, um die beim Murmelspiel verlorene Zeit wieder aufzuholen, obwohl das natürlich unmöglich war.
Unsere Mutter erwartete uns bereits an der Straße vor dem hohen Metallzaun stehend, der unser Grundstück umgab. Als sie uns näherkommen sah, hielt sie beide Hände wie zum Gebet vor ihren Mund.
„Wo kommt ihr jetzt her?“, wollte sie mit unangenehm schriller Stimme wissen, nachdem Melissa und ich abgestiegen waren. Sie öffnete die Pforte, damit meine Schwester und ich unsere Fahrräder hindurchschieben könnten. „Wisst ihr eigentlich, wie spät es ist und was für Sorgen ich mir gemacht habe? Ich habe gedacht, ihr wärt im See ertrunken!“
„Mama, in dem See kann man nicht ertrinken“, erklärte ich. „Dafür ist er nämlich zu flach.“
„Trotzdem!“, beharrte meine Mutter. „Euch hätte sonst was passiert sein können! Ihr wisst, was euer Vater gesagt hat! Zu den Mahlzeiten sollt ihr pünktlich wieder zu Hause sein!“
„Entschuldigung“, lenkte ich ein. „Das wird nicht wieder vorkommen.“
„Das will ich auch hoffen! Ihr wisst gar nicht, was ich für Ängste um euch ausgestanden habe!“
Nachdem Melissa und ich unsere Fahrräder abgestellt hatten, hinderte uns unsere Mutter daran, ins Haus zu gehen, indem sie uns an sich drückte, als wollte sie uns nie wieder loslassen.
„Du reißt an meinen Haaren, Mama“, beschwerte sich Melissa schließlich und machte sich aus der Umarmung frei.
„Ich bin nur so froh, dass euch nichts passiert ist“, sagte unsere Mutter. Zu meinem Entsetzen liefen ihr Tränen über die Wangen.
„Ist Papa gar nicht da?“, fragte ich, nachdem wir das Haus betreten hatten, hauptsächlich, um das Thema zu wechseln, denn mein Vater war um diese Uhrzeit selten schon zu Hause.
„Nein“, erklärte meine Mutter. „Er hat noch etwas im Büro zu tun. Es kann wieder einmal spät werden, hat er gesagt. Wir sollen ohne ihn essen. Aber zuerst wascht ihr euch die Hände.“
„Freut ihr euch denn schon auf unseren Urlaub?“, wollte meine Mutter mit aufgesetzt fröhlicher Stimme wissen, als wir alle etwas von dem asiatischen Gericht, das die Haushälterin auf Wunsch meiner Mutter zum ersten Mal zubereitet hatte, auf dem Teller hatten.
Anfang nächster Woche wollten wir an die Côte d‛Azur aufbrechen, also in einigen Tagen, denn es war schon Freitag. Normalerweise freute ich mich auf die Familienurlaube, in denen mein Vater ausnahmsweise Zeit für Melissa und mich hatte, doch diesmal würden mich die zwei Wochen in Frankreich nur von Angelina Angelo fernhalten. Also würde ich die nächsten Tage umso intensiver nutzen müssen, um ihr nah zu sein.
„Klar!“, antwortete Melissa begeistert und verzog, nachdem sie den ersten Bissen von dem Essen gekostet hatte, den Mund. „Das schmeckt aber komisch.“
„Das ist thailändisch und hat extra wenig Kalorien“, erklärte unsere Mutter. „Genau das Richtige für abends. Ich habe das Rezept aus einer Zeitschrift und Frau Hubertus gebeten, es nachzukochen. Es ist ihr sehr gut gelungen.“
„Na ja, geht so“, meinte Melissa mit wenig Begeisterung.
Mich überzeugte der süßsäuerliche Geschmack ebenfalls nicht, doch wollte ich die Laune meiner Mutter nicht unnötig trüben und aß daher schweigend, bis das Klingeln des Telefons die Stille unterbrach. In mehreren Räumen unseres Hauses stand ein Apparat, so auch im Esszimmer.
„Ich gehe schon“, bot ich an. So irrational es auch sein mochte, ich hoffte insgeheim, Angelina Angelo könnte am anderen Ende der Leitung sein.
„Constantin Hart“, meldete ich mich.
Für einen Moment antwortete niemand. Dann fragte eine weibliche Stimme: „Ist dein Vater zu sprechen?“
„Nein“, antwortete ich. „Der ist im Büro.“
„Aha, im Büro ist er also. Bist du sicher?“ Die Anruferin lachte amüsiert.
„Ja“, bestätigte ich leicht irritiert.
„Na, wenn das so ist, werde ich sehen, dass ich deinen Vater schnell im Büro anrufe, bevor er seinen wohlverdienten Feierabend macht“, sagte die Frau immer noch heiter. Dann legte sie einfach auf.
„Wer war das?“, fragte meine Mutter, nachdem ich wieder Platz genommen hatte.
Mir entging nicht der leicht alarmierte Tonfall ihrer Stimme. „Weiß ich nicht.“
„Was soll das heißen: ‚Weiß ich nicht?‛ Du musst doch wissen, mit wem du gerade gesprochen hast.“
„Die Frau hat ihren Namen nicht genannt.“
„Die Frau. Aha.“ Meine Mutter nahm, wohl um sich zu beruhigen, einen Schluck aus ihrem Wasserglas. Gezwungen beiläufig fragte sie anschließend: „Und was wollte ... die Frau?“
„Mit Papa sprechen.“
„Aha.“ Meine Mutter presste ihre Lippen aufeinander und griff nach der Stoffserviette neben ihrem Teller, die sie mit ihrer rechten Hand fest zusammenknüllte. „Aha“, wiederholte sie. Nach einer kurzen Pause noch einmal: „Aha.“
„Ich mag nicht mehr“, sagte Melissa, der das seltsame Verhalten unserer Mutter anscheinend nicht auffiel, und legte ihr Besteck auf den noch halb gefüllten Teller.
Unsere Mutter blickte ins Leere. „Aha.“
„Mama“, sprach ich sie an und griff nach ihrer linken Hand, die zur Faust geballt auf dem Tisch lag, während die rechte noch die Serviette krampfhaft umfasste. „Ist alles in Ordnung?“
Meine Mutter sah mich an und blinzelte kurz. „Wie? Ja, ja. Mit mir ist alles in Ordnung. In bester Ordnung sogar.“ Sie nahm ihr Besteck wieder in die Hand und begann energisch weiterzuessen. Plötzlich hielt sie inne, schluckte mühsam den Bissen, den sie gerade gekaut hatte, hinunter und hielt sich eine Hand vor den Mund, während sie am ganzen Körper zu zittern begann und Tränen in ihre Augen traten.
„Mama, hast du dich verschluckt?“, wollte Melissa erschrocken wissen.
Ich wusste es besser und stand auf, um unsere Mutter zu trösten. Melissa sah mir einen Moment lang zu und tat es mir schließlich gleich. Beide umarmten wir unsere Mutter, die nun hemmungslos schluchzte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie sich wieder einigermaßen in der Gewalt hatte. Dann machte sie sich aus unserer Umarmung frei und erhob sich. „Sagt eurem Vater nichts davon“, bat sie meine Schwester und mich leise und verließ das Esszimmer.
Am nächsten Tag war ich mit Melissa wieder am Badesee. Ich konnte es kaum erwarten, zum Salon „Engelshaar“ zu gelangen, denn samstags schloss das Friseurgeschäft früher als an den anderen Tagen, wie ich am Vortag durch einen Blick auf das Schild an der Eingangstür, das die Öffnungszeiten zeigte, in Erfahrung gebracht hatte. Daher fragte ich meine Schwester schon bald, während wir uns im Wasser aufhielten, ob wir wieder fahren wollten.
„Nein“, gab diese entschlossen zurück. „Ich will noch weiterbaden. Außerdem sind wir doch gerade erst angekommen.“
Ein paar Minuten später versuchte ich es erneut. „Ich habe keine Lust mehr zum Baden. Komm, lass uns fahren und sehen, ob Guido da ist.“
„Ich will aber nicht zu Guido!“, lautete die abwehrende Antwort meiner Schwester.
„Aber er sitzt ganz allein vor dem Friseursalon und wartet bestimmt schon auf uns“, appellierte ich an ihr schlechtes Gewissen.
„Das ist mir doch egal! Guido kann ja zu uns an den See kommen!“
„Du bist echt bescheuert!“, beschimpfte ich meine Schwester.
„Nein, du bist bescheuert!“, wehrte sie sich. „Und jetzt lass mich in Ruhe!“
„Ich fahre jetzt zu Guido“, kündigte ich an. „Bleib doch hier, wenn du nicht mitkommen willst.“
„Aber Papa hat gesagt, dass wir immer zusammenbleiben sollen, wenn wir unterwegs sind“, erinnerte mich Melissa.
„Dann musst du mit zu Guido kommen.“
„Ich will aber nicht!“
„Du bestimmst aber nicht, was gemacht wird, weil ich von uns beiden älter bin!“ Mir fiel nichts Besseres ein, als meine Schwester mit der Absicht, sie im Wasser zu Fall zu bringen, zu schubsen. Sie hielt jedoch ihr Gleichgewicht.
„He, was soll das, Constantin!“, wollte sie verärgert wissen. „Jetzt komme ich erst recht nicht mit zu deinem blöden Guido!“
„Er ist kein blöder Guido!“, verteidigte ich den Jungen, den ich kaum kannte, weil er Angelinas Sohn war. „Dann bleib doch hier, bis du schwarz wirst!“ Mit diesen Worten watete ich aus dem Wasser, trocknete mich ab und zog mich wieder an. Dabei hoffte ich, Melissa werde mir doch folgen, aber sie hatte sich im See schon zu einigen ihrer Freundinnen gesellt und beachtete mich gar nicht mehr.
Ich nahm mir vor, zu Guido zu fahren, dort so lange zu bleiben, bis Angelina den Salon verließ, mich etwas mit ihr zu unterhalten und anschließend zurück an den See zu fahren, um Melissa abzuholen. Ich würde ihr einen Nachmittag „Prinzessin und Aristokrat“ versprechen, wenn sie unseren Eltern nicht verriet, dass ich sie allein am See gelassen hatte. Sicher würde sie darauf eingehen.
Guido war bei meiner Ankunft wieder ganz in sein Murmelspiel vertieft. Das bedeutete wohl, dass sich seine Mutter noch im Salon aufhielt. Bei der Feststellung, nicht zu spät zu sein, atmete ich erleichtert aus. „Hallo Guido“, begrüßte ich meinen neuen Freund und stieg von meinem Rad.
Guido blickte von den Murmeln auf. „Hallo.“
„Da bin ich, wie ich es gestern versprochen habe.“ Mit diesem Hinweis auf meine Zuverlässigkeit kniete ich mich zu Guido auf die Steinplatten, die durch die Sonne stark aufgeheizt waren. Schöner wäre es jetzt in der Tat am Badesee, musste ich insgeheim eingestehen. Aber schließlich ging es um ein Wiedersehen mit Angelina, vermutlich das letzte vor unserer Frankreichreise, und dafür mussten nun einmal Opfer gebracht werden. Konzentriert begannen wir unser Murmelspiel, doch wenn die Tür des Friseursalons geöffnet wurde, fuhr ich hoch in der Hoffnung, es sei Angelina, und war enttäuscht, da nur frisch frisierte Kunden nach draußen traten.
Dann endlich verließen Angelina, Sabrina und Emily den Salon. Wieder trugen alle drei bunte T-Shirts, doch Angelina hatte heute, im Gegensatz zu ihren Kolleginnen, statt einer Jeans eine kurze weiße Hose an. Wieder war Angelina die Einzige, die auf uns zukam, während die anderen beiden Frauen nach einem Abschiedsgruß auf ihre Fahrräder stiegen und davonfuhren.
„Constantin, das ist aber schön, dass du mit Guido spielst“, begrüßte mich Angelina Angelo.
Ich erhob mich, während Guido noch die Murmeln einsammelte. „Ja, das habe ich ja versprochen.“
„Du bist ein sehr lieber Junge“, stellte Angelina anerkennend fest, und mir wurde ganz warm ums Herz.
Nachdem Guido die Murmeln in einem kleinen Beutel verstaut hatte, ging er auf seine Mutter zu.
„Na, wie wäre es mit einem Eis?“, fragte Angelina ihren Sohn und strich ihm über das Haar.
Guido nickte nur. Er war nicht sehr gesprächig, wie ich bereits festgestellt hatte.
„Möchtest du mitkommen, Constantin?“, fragte mich Angelina zu meiner großen Freude. „Wir wohnen gleich da drüben.“ Sie zeigte zu einem Mehrfamilienhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. „Ich habe noch Eis zu Hause. Wir können es auf dem Balkon essen.“
„Ja, sehr gern!“, nahm ich das Angebot hastig an.
„Dann komm.“ Angelina legte einen Arm um Guido. Als ich den beiden folgen wollte, wies sie mich auf mein Fahrrad hin, das ich auf dem Parkplatz vor dem Friseursalon abgestellt hatte und beinahe vergessen hätte. „Das solltest du besser mitnehmen, Constantin.“
Ich Idiot! Schnell ging ich zu meinem Rad und schob es hinter Angelina und Guido her.
Wir erreichten das vierstöckige Backsteinhaus, in dem Angelina und ihr Sohn wohnten. Beim Näherkommen fiel mir auf, wie schäbig es aussah. Der Garten bestand lediglich aus einer kleinen Rasenfläche, die, soweit ich sehen konnte, das Haus umgab und stark von Moos und Löwenzahn durchwuchert war. An den vormals weißen Fensterrahmen des Hauses blätterte die Farbe ab, und die breite braune Eingangstür, in die mehrere Buchstaben und sonstige Zeichen geritzt waren, hätte ebenfalls einen neuen Anstrich vertragen können. Im stickigen Treppenhaus roch es widerlich, eine Mischung aus Zigarettenrauch, Bratfett und Urin. Wir fuhren mit dem klapprigen Aufzug, dessen Innenwände mit Graffiti verziert waren und in den mein Fahrrad gerade mit hineinpasste, nach oben in den vierten Stock.
„Du kannst dein Fahrrad ruhig hier im Hausflur stehen lassen“, teilte mir Angelina mit. „Auf dieser Etage wohnen nur anständige Leute. Ich habe alle, als Guido und ich eingezogen sind, zu einer kleinen Feier in unsere Wohnung eingeladen.“
Ich hoffte, dass Angelina Recht mit ihrer Einschätzung hatte, ließ mein Fahrrad samt Badetasche neben der Wohnungstür stehend zurück, ohne es abzuschließen, um Angelina nicht durch mein Misstrauen zu verärgern. Dann folgte ich ihr und Guido in den engen, dunklen Flur der Wohnung, der mit einem flauschigen weinroten Teppich ausgelegt war. Angelina schaltete die Deckenlampe an, und ich sah, dass sämtlicher Platz, den die ebenfalls weinrot tapezierten Wände boten, von Bildern eingenommen wurde. Bei einigen handelte es sich um Landschaftszeichnungen, bei anderen um Fotos von Angelina und Guido, teilweise zusammen mit Sabrina, teilweise mit anderen Personen, die ich nicht kannte.
„Geht schon einmal auf den Balkon“, forderte uns Angelina auf. „Ich mache das Eis in der Küche fertig.“
Auf den Balkon gelangten Guido und ich durch das kleine Wohnzimmer. Ich war es bereits gewohnt, dass die Zimmer anderer Leute kleiner waren als die in unserem Haus, aber dieses Wohnzimmer war auch im Vergleich zu denen in den Häusern meiner Schulkameraden winzig. Es bot gerade einmal Platz für ein braunes Sofa mit zwei dazupassenden Sesseln, einen Couchtisch, einen schmalen Schrank mit Glasfront und eine Kommode, auf der ein Fernseher stand. Dennoch wirkte der hell tapezierte Raum, nicht zuletzt wegen der vielen Bilder, die auch hier an den Wänden hingen, und der kleinen Porzellanfiguren, die überall herumstanden, sehr gemütlich.
Auch der Balkon hatte eine nur kleine Fläche, die fast komplett von einem runden weißen Tisch und vier Stühlen eingenommen wurde. An der Balkonbrüstung waren mehrere Blumenkästen befestigt, die farbenfroh bepflanzt waren. Die Aussicht über die umliegende Umgebung war fantastisch, und ich blieb einen Moment lang stehen, um sie zu bewundern, während Guido schweigend am Tisch Platz nahm.
„Na, was sagst du, Constantin?“, hörte ich auf einmal Angelina hinter mir fragen.
Schnell wandte ich mich ihr zu, als sie gerade im Begriff war, ein Tablett, auf dem sich drei mit Eiscreme gefüllte Glasschalen samt Löffeln befanden, auf dem Tisch abzustellen.
„Das ist ein toller Ausblick“, sagte ich.
„Ja, deshalb haben wir die Wohnung auch genommen, obwohl sie ziemlich klein ist. Wir haben leider nicht so viel Geld, um uns eine große Wohnung leisten zu können. Aber wir fühlen uns hier wohl. Nicht, Guido?“
Guido nickte und nahm sich eine der Eisschalen.
„Komm, Constantin, nimm dir dein Eis. Und dann erzähle Guido und mir ein bisschen davon, wie du so wohnst.“
Ich setzte mich wie Angelina zu Guido an den Tisch und hatte keine Ahnung, was ich den beiden berichten konnte. „Wir wohnen in einem weißen Haus“, sagte ich schließlich. „Es ist ziemlich groß. Eine Haushälterin macht es jeden Tag sauber. Und einen Gärtner haben wir auch. Weil der Garten auch groß ist.“
Ich fand das, was ich gerade von mir gegeben hatte, ziemlich dämlich, doch Angelina erwiderte fasziniert: „Dio mio, dann seid ihr reiche Leute, ja?“
Ich nickte und nahm einen Löffel von der Eiscreme. Es war jeweils eine Kugel Vanille-, Schokoladen- und Erdbeereis und schmeckte schön cremig.
„Und was macht deine Mama den ganzen Tag, wenn andere für euch saubermachen?“, wollte Angelina wissen.
„Sie trifft sich mit anderen im Gemeindehaus, um sich mit ihnen über wichtige Sachen zu unterhalten. Und sie sammelt oft Geld für arme Leute“, erklärte ich. „Und sie plant, wie die Zimmer in unserem Haus umdekoriert werden sollen.“
„Aha.“ Angelina schien zutiefst beeindruckt. „Und dein Papa verdient das viele Geld?“
Ich nickte. „Er arbeitet als Anwalt in der Stadt. Er ist nicht oft zu Hause.“
„Guidos Papa ist gar nicht mehr bei uns zu Hause“, berichtete Angelina, und ihre Stimme hatte einen traurigen Unterton. „Er wohnt in eine andere Stadt und hat jetzt eine andere Frau.“
Ich hielt es für klüger, nicht zu erwähnen, dass mein Vater auch andere Frauen hatte und meine Mutter damit zur Verzweiflung trieb.
„Ich habe einen Stiefbruder und einen Halbbruder“, sagte Guido.
„Guidos Stiefbruder ist der Sohn von der Frau, die Guidos Papa geheiratet hat“, erklärte Angelina und kostete nun ebenfalls von ihrem Eis. „Und zusammen haben sie auch noch einen kleinen Sohn bekommen. Das ist Guidos Halbbruder.“
„Mein Stiefbruder hat schon ein Motorrad“, ließ mich Guido wissen. „Neulich durfte ich da sogar mitfahren.“
„Willst du Fotos von unsere Familie sehen?“, bot Angelina an.
Ich nickte.
Sie stand auf und kehrte kurz darauf mit zwei Fotoalben zurück. Dabei war ich davon ausgegangen, dass sämtliche Familienbilder bereits an den Wänden der Wohnung hingen. Angelina stellte das Tablett, auf dem sie die Eisbecher serviert hatte, auf den Boden und schlug eines der auf dem Tisch liegenden Fotoalben auf. Die ersten Bilder waren schon älter, teilweise noch schwarzweiß, und zeigten Angelinas Eltern. Sie sei mit fünf Geschwistern aufgewachsen, verriet sie mir.
Angelina wusste zu jedem Bild eine Geschichte zu erzählen. Die Zeit verging dabei im Nu. Zwischendurch klingelte einmal das Telefon im Wohnzimmer. Angelina verließ den Balkon und schloss die Balkontür hinter sich, als sollten Guido und ich nicht hören, was gesprochen wurde. Als sie zurückkehrte, machte sie einen enttäuschten Eindruck.
„Wer war es denn?“, fragte zum Glück Guido, denn mich interessierte es ebenfalls, aber es wäre mir zu neugierig vorgekommen, mich selbst danach zu erkundigen.
„Das war Harry. Er kann heute doch nicht kommen.“
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wer dieser Harry war, doch seine Absage schien Guido alles andere als traurig zu stimmen. Er lächelte zufrieden und zeigte dabei seine Zahnspange. Angelina kommentierte die Reaktion ihres Sohnes jedoch nicht und widmete sich wieder den Familienfotos.
Nachdem wir das erste Fotoalbum durchgeblättert hatten, sagte sie zu mir: „Ich glaube, die anderen Bilder heben wir uns für deine nächste Besuch auf. Es ist schon spät. Deine Eltern warten sicher schon auf dich.“
Da fiel mir siedend heiß Melissa ein, die ich vor Stunden am See zurückgelassen hatte. Schnell verabschiedete ich mich, versprach, nach dem Frankreich-Urlaub wieder zum Friseursalon zu kommen und verließ die Wohnung. Mein Fahrrad stand samt Badetasche zum Glück noch da, wo ich es im Hausflur abgestellt hatte.
Eilig machte ich mich, nachdem ich mit dem Aufzug endlich im Erdgeschoss angekommen war und das Haus verlassen hatte, mit dem Fahrrad auf zum See. Dabei wäre es schon höchste Zeit gewesen, auf kürzestem Wege nach Hause zu fahren. Der See lag etwas abseits von der Straße hinter einigen Bäumen. Ich machte mir noch die Mühe, bis ans Wasser heranzufahren, obwohl ich schon ahnte, dass sich dort niemand mehr aufhielt. Und richtig: Der See sowie das Ufer waren menschenleer. Sicher war Melissa zusammen mit ihren Freundinnen schon vor einer Weile nach Hause gefahren. Das hätte ich Blödmann mir auch gleich denken können. So hatte ich nun unnötigerweise einen Umweg auf mich genommen, der mir den Ärger meiner Eltern einbringen würde.
Ich geriet bei der Geschwindigkeit, die ich nun auf der Rückfahrt an den Tag legte, etwas außer Atem, doch es ging um jede Minute. Jede Minute, die ich früher zu Hause ankäme, würde die Panik, die meine Mutter jetzt sicher schon empfand, mildern, redete ich mir ein. Dann fiel mir ein, dass Samstag und mein Vater daher vermutlich sogar zu Hause war. Es würde ein Donnerwetter geben, egal wie sehr ich mich beeilte. Das Hochgefühl, das ich bei dem Besuch bei Angelina Angelo empfunden hatte, wurde von einem unguten Gefühl verdrängt, das sich nun in meinem Magen breitmachte und mich wünschen ließ, ich hätte das Eis nicht gegessen.
Bei meiner Ankunft zu Hause stand zum Glück weder meine Mutter noch mein Vater an der Straße. Ich wertete das als mögliches Zeichen, dass sich ihre Aufregung noch in Grenzen hielt. Ich stieg von meinem Fahrrad und klingelte an der Pforte, da sich diese von außen nicht öffnen ließ. Der Summer erklang ohne Nachfrage, und ich schob mein Fahrrad an der Hauswand entlang bis zur breiten Garage, die bis zu drei Wagen beherbergte und in deren Nebenraum ich es abstellte. Der Sportwagen meines Vaters fehlte, also war er wieder einmal unterwegs. Allerdings wunderte es mich schon, dass auch meine Mutter mich noch nicht an der Haustür erwartete. Daher klingelte ich dort erneut. Es dauerte einen Moment, bis die Tür durch Frau Hubertus, die Haushälterin, geöffnet wurde. „Hallo Constantin“, begrüßte sie mich. „Du bist gerade rechtzeitig zum Abendessen zurück. Deine Eltern haben sich kurzfristig mit Bekannten in einem Restaurant verabredet, soll ich dir und Melissa ausrichten.“ Ein Stein fiel mir vom Herzen. So würde mir die Strafpredigt vermutlich heute erspart bleiben. Die Erleichterung schwand sofort, als Frau Hubertus fragte: „Wo ist Melissa überhaupt?“
Mir fiel nichts Besseres ein als zurückzufragen, während ich Frau Hubertus in den geräumigen Flur folgte: „Ist Melissa denn noch nicht zu Hause?“
„Nein. Ich dachte, ihr wärt zusammen unterwegs. So sagte es mir jedenfalls deine Mutter. Na ja, vielleicht habe ich da auch etwas falsch verstanden.“
„Nein“, widersprach ich hastig. „Melissa und ich waren zusammen unterwegs. Aber sie wollte lieber bei ihren Freundinnen am See bleiben, und ich ... hatte keine Lust mehr zum Baden.“
„Ach, dann wird Melissa wohl bei einer ihrer Freundinnen sein“, meinte Frau Hubertus unbekümmert. „Dann hast du das Essen gleich für dich allein.“
Während ich kurz darauf allein am Esstisch sitzend auf dem Hackkloß herumkaute, den Frau Hubertus zusammen mit Kartoffelpüree und Erbsen serviert hatte, dachte ich darüber nach, dass das gar nicht Melissas Art war, einfach so mit zu einer Freundin zu fahren, ohne zu Hause Bescheid zu sagen. Sie wusste doch, wie schnell sich unsere Mutter ängstigte, und dass alleinige Unternehmungen nach so einer Aktion verboten werden könnten, konnte sie sich wohl auch denken. Ich ließ meinen noch halb vollen Teller zurück und ging in die Küche, in der Frau Hubertus noch mit Putzen und Aufräumen beschäftigt war. Wahrscheinlich hatten meine Eltern sie gebeten, länger zu bleiben, damit Melissa und ich nicht allein wären. „Frau Hubertus“, sprach ich die Frau an, die so in das Scheuern der Arbeitsplatte vertieft war, dass sie mein Eintreten gar nicht bemerkt hatte.
„Constantin. Was ist los? Willst du noch einen Hackkloß haben? Oder lieber noch etwas von dem Kartoffelpüree?“
Ich schüttelte energisch den Kopf. „Nein, Frau Hubertus. Aber wir müssen herausfinden, wo Melissa steckt.“
In einer Kommode im Flur lag ein Heft, in dem meine Mutter unter anderem die Telefonnummern von Melissas und meinen Klassenkameraden notiert hatte. Ich überredete Frau Hubertus, bei Melissas Freundinnen anzurufen und sich zu erkundigen, ob sich meine Schwester dort aufhielt. Die Haushälterin, die nun einen leicht beunruhigten Eindruck machte, kam meiner Bitte nach und wählte vom Telefon im Flur aus nacheinander fünf Nummern, um immer wieder dasselbe in Erfahrung zu bringen: Melissa wurde zuletzt am Badesee gesehen.
„Jetzt mache ich mir langsam Sorgen“, murmelte Frau Hubertus, als sie den Hörer nach dem fünften Telefonat auf die Gabel legte. „Vielleicht ist es doch besser, wenn ich deine Eltern verständige.“
Meine Eltern pflegten für die Haushälterin oder die Babysitterin, die Melissa und mich manchmal abends betreute, immer eine Telefonnummer zu hinterlassen, wenn sie gemeinsam unterwegs waren. Frau Hubertus wählte die Nummer des Restaurants, das meine Eltern an diesem Abend besuchen wollten, und ließ meinen Vater ans Telefon kommen. Sie fasste für ihn die Situation zusammen. Dann legte sie auf. „Deine Eltern kommen sofort nach Hause“, teilte sie mir mit.
Als ich einen Wagen in der Auffahrt zur Garage hörte, zog sich mein Magen unangenehm zusammen. Das Donnerwetter, das nun folgen würde, mochte ich mir gar nicht ausmalen. Kurz darauf betraten mein Vater und meine Mutter den Flur. Meine Mutter trug ein grünes kurzes Kleid, das ihre schlanke Figur sehr gut zur Geltung brachte, und mein Vater eine helle Stoffhose, dazu ein Jackett in derselben Farbe über einem hellblauen Oberhemd. „Was ist mit Melissa?“, fragte er mich ruhig, während meine Mutter den Eindruck machte, als werde sie gleich in Ohnmacht fallen, und sich kraftlos auf einen Stuhl im Flur fallen ließ.
„Ich weiß es nicht“, gab ich zu. „Sie wollte nicht mit mir fahren.“ Ich verschwieg, dass es schon Stunden zurücklag, dass sie mir das mitgeteilt hatte. „Ich konnte sie nicht überreden mitzukommen und dachte, sie würde gleich mit ihren Freundinnen fahren. Ich habe auf dem Rückweg noch kurz angehalten und mich mit Guido, dem Sohn der Friseurin, unterhalten.“
„Und bei ihren Freundinnen ist sie nicht?“
„Nein, Herr Hart“, antwortete nun Frau Hubertus. „Dort habe ich schon angerufen.“
„Sagen Sie mir genau, wen Sie angerufen haben“, verlangte mein Vater und ließ es sich von Frau Hubertus in dem Heft, in dem diverse Telefonnummern notiert waren, zeigen.
„Ich werde noch einige weitere anrufen“, entschied mein Vater. Dann sah er zu meiner Mutter. „Marianne, vielleicht ist es das Beste, wenn du dich etwas hinlegst.“
Meine Mutter nickte. Sie wollte sich vom Stuhl erheben, doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. Mein Vater beachtete sie nicht weiter, während sie auf Frau Hubertus gestützt den Flur verließ.
Mein Vater führte noch einige Telefonate, durch die er den Aufenthaltsort meiner Schwester ebenfalls nicht in Erfahrung brachte. Mit jedem Gespräch wurde mir mulmiger zumute. Dann wandte er sich an mich. „Wie spät war es, als du Melissa zum letzten Mal gesehen hast?“
„Kurz bevor ich nach Hause gefahren bin“, log ich aus Angst, damit bestraft zu werden, nicht mehr allein mit dem Fahrrad unterwegs sein zu dürfen.
„Also etwa um halb sechs?“, wollte mein Vater wissen.
Ich nickte.
Er nickte verstehend. Die Nummer, die er dann wählte, war die der Polizei.
Die nächsten Stunden waren die schlimmsten meines Lebens. Frau Hubertus wurde gebeten, am Telefon zu wachen, während sich mein Vater erneut mit seinem Wagen auf den Weg machte, um die Gegend nach Melissa abzusuchen. Meine Mutter hatte auf Drängen meines Vaters ein Beruhigungsmittel genommen und war zu Bett gegangen.
Voller Unruhe saß ich in meinem Zimmer, ohne etwas Gescheites mit mir anfangen zu können. Wie gern würde ich für Melissa jetzt den verliebten Aristokraten spielen, wenn sie nur wohlbehalten zurückkäme. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, ging hinaus in den Flur und öffnete leise die Tür von Melissas Zimmer, das auf ihren Wunsch hin vorrangig in Rosa und Weiß gehalten war. Wie oft hatte ich sie wegen der Farbwahl geneckt und es ein Babyzimmer genannt. Was würde ich dafür geben, wenn meine Schwester jetzt zur Tür hereinkäme und mich wütend beschimpfte, weil ich sie am See allein zurückgelassen hatte. Ich setzte mich auf den rosafarbenen Stuhl, der meiner Schwester als Thron diente, wenn sie die Prinzessin spielte, um deren Gunst ich als Aristokrat warb. Lange saß ich ganz still. Das Einzige, was ich wahrnahm, war das leise Ticken der rosafarbenen Kinderuhr an der Wand und das ängstliche Klopfen meines Herzens.
Ich saß noch auf dem kleinen rosa Stuhl in Melissas Zimmer, als ich Schritte die Treppe nach oben kommen hörte. Inzwischen war es draußen stockdunkel, doch hatte ich kein Licht eingeschaltet. Ich erhob mich und ging hinaus in den Flur, wo ich meinem Vater begegnete. An seinem Gesichtsausdruck erkannte ich sofort, dass seine Suche nach Melissa erfolglos geblieben war. Ich musste einen sehr verstörten Eindruck gemacht haben, denn mein Vater kam schweigend auf mich zu und drückte mich an sich, was er normalerweise nie tat. „Die Polizei wird Melissa schon finden“, sagte er schließlich leise. „Geh jetzt schlafen. Wir sollten alle versuchen, uns etwas auszuruhen.“