Loe raamatut: «Ndura. Sohn Des Urwalds»
Umschlaggestaltung © Sara García
Originaltitel: Ndura. Hijo de la selva.
Copyright © Javier Salazar Calle, 2020
übersetzt von Sabine Stork
1. Auflage
Dem Autor folgen:
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Ndura.
Sohn des Urwalds.
von
Javier Salazar Calle
Aus dem Spanischen von Sabine Stork
All jenen gewidmet, die wie ich Abenteuer erleben und reisen können, ohne sich von der Stelle zu bewegen; denn sie sorgen dafür, dass die Vorstellungskraft in dieser Welt überdauert.
Ganz besonders widme ich dieses Buch meinem besten Freund, der vor vielen Jahren gestorben ist und meinem Sohn Álex, der seinen Namen trägt und von dem ich Großes erwarte.
Inhaltsverzeichnis
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NACHWORT
ANHANG I: Glossar der Pflanzennamen
ANHANG II: Glossar der Pygmäensprache
ANHANG III: Überleben im Urwald
BIBLIOGRAFIE
WEITERE BÜCHER DES AUTORS
Über den Autor
Das Abenteuer beginnt…
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Ich bin mitten im tiefsten Afrika. Ich sitze mit dem Rücken an einen Baum gelehnt. Das Fieber ist in die Höhe geschossen, ich habe Krämpfe und Schüttelfrost, der immer häufiger kommt, ein Schmerz, den ich nicht lokalisieren kann, ist das einzige, was ich von meinem Körper wahrnehme. Ich kann nicht aufhören zu zittern. Ich befinde mich oben auf einem Hügel. Hinter mir ist der Urwald, ein dicht belaubter, wilder und unerbittlicher Dschungel. Vor mir verschwindet er wie durch Zauberhand, nur einige vereinzelte Baumstümpfe, Überbleibsel einer intensiven Forstwirtschaft, lassen erahnen, was hier früher einmal war. In der Ferne kann man die ersten Häuser, die Ausläufer einer Stadt erkennen. Lehm, Blätter und Ziegelsteine wild durcheinander. Die Zivilisation.
Ich bin tausende Kilometer von meinem Zuhause entfernt, von meinen Leuten, meiner Familie, meiner Freundin, meinen Freunden… ich vermisse sogar meine Arbeit. Das bequeme Leben, trinken können, in dem man einfach den Wasserhahn aufdreht und essen können, in dem man einfach etwas in irgendeiner Bar bestellt. … und schlafen in einem Bett, warm, trocken und sicher, vor allen Dingen sicher. Wie ich diese Ruhe vermisse! Als die einzige Ungewissheit darin bestand, herauszufinden, womit man abends nach der Arbeit seine Freizeit verbringen sollte. Wie absurd mir jetzt meine Sorgen von vorher erscheinen: die Hypothek, das Gehalt, der Streit mit dem Freund, das Essen, das ich nicht mochte, das Fußballspiel! Aber vor allem die Sache mit dem Essen…
Selbstverständlich ändert der Kampf ums Überleben den Standpunkt der Menschen. Zumindest ist es mir so ergangen. Was tue ich hier, so weit von Zuhause entfernt, sterbend, am Rande des zentralafrikanischen Urwalds? Wie bin ich in diese danteske und offensichtlich aussichtslose Lage gekommen? Wo liegt der Ursprung dieser Geschichte?
Im Kopf gehe ich die verhängnisvollen Umstände durch, die mich an den Rand des Todes gebracht haben, auf die Transitautobahn ins Jenseits, zu der mehr als wahrscheinlichen Auslöschung meiner Geschichte im Buch des Lebens…
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WIE DIESE ERSTAUNLICHE GESCHICHTE BEGANN
Ich sah auf die Uhr. Unser Rückflug nach Spanien ging in zwei Stunden. Alex, Juan und ich waren schon im duty-free-Bereich des Flughafens von Windhoek. Wir hauten das letzte Geld in Landeswährung auf den Kopf und kauften bei der Gelegenheit die letzten Geschenke, die man sich immer bis zum Schluss aufsparte. Wir hatten schon etwas gegessen und nun blieb uns nur noch der Einkaufsbummel. Für meinen Vater kaufte ich ein Taschenmesser mit einem Holzgriff, der in Form des Landesnamens Namibia geschnitzt war, und für alle anderen besorgte ich verschiedene kunstvoll geschnitzten Tierfiguren aus Holz. Für meine Freundin Elena hatte ich eine wunderschöne Giraffe, die in einem typischen Dorf der afrikanischen Savanne handgeschnitzte worden war, ausgesucht. Alex kaufte sich ein Blasrohr und viele Pfeile. Er wollte damit auf die Dartscheibe schießen, um das Spiel zu variieren und ihm dadurch einen, sagen wir mal, volkstümlicheren Anstrich zu geben. Eine Stunde lang schlenderten wir hierhin und dorthin, den Rucksack auf der Schulter und genossen die letzten Momente in diesem Land, das sich für uns als so exotisch herausgestellt hatte. Bis man uns zum Boarding aufrief. Da wir unser Gepäck schon aufgegeben hatten, gingen wir direkt zum entsprechenden Gate und saßen schnell auf unseren Plätzen in einer alten viermotorigen Propellermaschine, nicht ohne vorher noch ein paar Fotos davon gemacht zu haben. Unsere vierzehntägige Safari im Geländewagen durch die raue afrikanische Savanne ging ihrem Ende zu und obwohl uns dieses Land fehlen würde, freuten wir uns schon auf eine warme Dusche und ein anständiges Essen nach spanischer Art. Tatsächlich war es Schade zum jetzigen Zeitpunkt abzureisen, denn man hatte uns gesagt, dass es in einigen Tagen eine der beeindruckendsten Sonnenfinsternisse der letzten Jahrzehnte geben würde und dass man sie in dem Teil Afrikas, in dem wir uns befanden, am deutlichsten sehen könnte.
Ich war der draufgängerischste und abenteuerlustigste von uns dreien und am Ende hatte ich sie soweit eingewickelt, dass sie bereit waren mit mir hierherzukommen, es ist eine Sache den Geist eines Abenteurers zu haben und eine andere, allein zu reisen. Anfangs widerstrebte es ihnen, ihre Pläne für einen entspannten Urlaub in Norditalien gegen eine offensichtlich unbequeme Fotosafari einzutauschen, an einem Ort mit ganztägigen Temperaturen über 40°C und ohne Schatten, in den man flüchten konnte. Nach dem sie diese Erfahrung gemacht hatten, bereuten sie es überhaupt nicht, ganz im Gegenteil, sie würden es, ohne nachzudenken wiederholen. Die Maschine würde uns mehr als tausend Kilometer nach Norden bringen bis zum nächsten internationalen Flughafen, wo wir Anschluss an die modernen und bequemen europäischen Fluglinien hätten, um nach Hause zurückzukehren.
Nach dem Start des Flugzeugs sahen wir uns auf Alex Digitalkamera die Fotos von der Reise an. Da war ein urkomisches Foto von Alex und Juan, die entsetzt vor einem schlecht gelaunten Gnu wegrannten, das sie auf die Hörner nehmen wollte. Während sie sich die Fotos zu Ende ansahen, lachten und in Erinnerungen schwelgten, schaute ich in Gedanken versunken aus dem Fenster und sah den Wolken zu, die an uns vorbeizogen. Ich genoss es, mit meinen beiden besten Freunden, die ich seit unserer Schulzeit kannte, von diesem wunderbaren Abenteuer in einem unglaublichen Land nach Hause zurückzukommen. Es war, als wären wir in einer dieser Nation Geographic Reportagen gewesen, die ich mir so gerne beim Essen im Fernsehen ansah. Eine Safari im Geländewagen inmitten der wilden afrikanischen Savanne, auf den Spuren der großen Gnuwanderungen, bei der wir Elefantenherden fotografiert oder beeindruckende Löwen in wenigen Metern Entfernung gesehen hatten. Wir hatten kämpfende Nilpferde gesehen, lauernde Krokodile auf der Suche nach Beute, nach Aas gierende Hyänen, Geier, die über irgendeinem Kadaver kreisten, einige fremdartige Reptilien, alle möglichen Arten von Insekten. Wir hatten in Zelten inmitten des Nirgendwo übernachtet, im Schein des Lagerfeuers unter einem klaren sternenübersäten Himmel zu Abend gegessen… eine wunderbare Erfahrung. Vor allen Dingen der Blick auf den Etosha Nationalpark.
Im Gegensatz zu dem, was wir bisher gesehen hatten, befand sich unter uns ein einziger riesiger grüner Fleck, wir überquerten gerade die äquatorialen Gebiete. Der Urwald bedeckte alles. Ein endloses üppiges grünes Blattwerk. Etwas in der Art würde unser nächstes Reiseziel sein, eine Bootsreise den Amazonas hinauf mit Aufenthalten, um die vielfältigen Lebensformen der Gegend zu genießen. Wir hatten bereits die Weite der baumlosen Savanne gesehen und jetzt wollte ich das überwältigende Meer aus Bäumen mit seiner unglaublichen Vielfalt an Leben sehen. Sich mit Machetenhieben einen Weg durch den fast unpassierbaren Urwald bahnen, lernen, wie man Nahrung findet, von der Zivilisation vergessene Urvölker treffen, exotische Tiere und Pflanzen sehen… Na gut, das wäre erst im nächsten Jahr, wenn ich es wieder schaffen sollte, meine Freunde zu überzeugen, und wenn nicht, dann wäre Norditalien auch gar nicht schlecht.
Ein lautes Geräusch, wie eine Explosion, gefolgt von einer heftigen Bewegung des Flugzeugs holte mich aus meinen Träumereien. Die Maschine begann Bocksprünge in der Luft zu machen und plötzlich hatte ich den Eindruck, ich befände mich in einer Achterbahn. Ich fiel mitten im Gang auf den Boden, über eine Frau. Ich stand so gut es ging auf, versuchte nicht wieder zu stürzen und kehrte zu meinem Platz zurück. Von allen Seiten erklangen Panikschreie. Es herrschte ein totales Durcheinander.
“Feuer, Feuer, sie haben die Tragfläche getroffen!“, rief jemand auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges.
„Auf der rechten Seite!“, ein anderer Passagier deutete in die Richtung.
Zuerst wusste ich nicht, was er meinte, aber als ich aus dem Fenster an der rechten Seite sah, konnte ich eine dichte Rauchwolke sehen, die den Himmel verdunkelte als wäre es Nacht, eine tragische Nacht. Das Flugzeug hüpfte immer heftiger. Einige Passagiere begannen zu schreien. Aus dem Lautsprecher erklang die nervöse und kaum verständliche Stimme des Piloten, der uns mitteilte, dass wir eine Notlandung machen würden, weil wir von einer Boden-Luft-Rakete einer kongolesischen Miliz getroffen worden seien, deren Gebiet wir gerade überflogen. Eine Frau bekam einen hysterischen Anfall und man musste sie zwischen zwei Flugbegleiterinnen und einem Mann, der seine Hilfe anbot, setzen und sie festschnallen. Wir drei setzten uns schnell hin, legten die Sicherheitsgurte an und nahmen die Position ein, die uns die Flugbegleiterin beim Einsteigen gezeigt hatte, den Kopf auf den Knien mit Blick auf den wenig beruhigenden Metallboden. Wir hatten Todesangst. Während ich in dieser unbequemen Position verharrte, erinnerte ich mich, dass sie in den Nachrichten von diesen Rebellen berichtet hatten. Sie finanzierten sich durch die Kontrolle einiger Diamanten- oder Coltan-Minen des Kongo. Coltan, ein wertvolles Roherz, das ein für die Fertigung von Handy-Platinen, Microchips oder Bauelemente für Kernkraftwerke unerlässliches Metall enthält. Es handelte sich um eine Art blutigen Bürgerkrieg, in dem alle umliegenden Länder wirtschaftliche und militärische Interessen hatten, der schon mehr als zwanzig Jahre andauerte und der nie zu enden schien.
Das Gerüttel war so heftig, dass ich immer wieder mit solcher Wucht nach vorne geschleudert wurde, dass der Sicherheitsgurt mir den Magen quetschte, so dass mir die Luft wegblieb und mein Kopf gegen den Sitz vor mir schlug. Ich bemerkte, wie sich die Nase des Flugzeugs nach unten neigte und ein schwindelerregender Sinkflug begann. Der Lärm war ohrenbetäubend, wie von tausend Motoren, die alle gleichzeitig mit voller Kraft arbeiteten. Kurz bevor wir den Boden erreichten, machte der Pilot eine letzte Lautsprecherdurchsage, er würde eine Notlandung auf einer Lichtung, die er entdeckt hatte, versuchen. Wir würden alle beim Aufprall sterben, war das Letzte, was ich dachte. Danach herrschte völlige Verwirrung, laute Geräusche, Stöße, Dunkelheit…
Als ich wieder zu Bewusstsein, kam hatte ich fürchterliche Kopfschmerzen. Ich hob die Hand an die Stirn und stellte fest, dass sie blutete. Außerdem hatte ich am ganzen Körper Prellungen und Kratzer und vor allen Dingen eine große Schürfwunde und sehr geröteter Haut, dort, wo mich der Sicherheitsgurt zurückgehalten hatte. Ich fuhr mit den Fingern darüber und spürte ein heftiges Brennen, so dass ich die Zähne fest zusammenbeißen musste. Ich sah zu meinen Freunden. Juan schien unter Schock zu stehen, er stieß so etwas wie ein klagendes Wimmern aus und bewegte sich ein bisschen. Alex, … Alex bewegte sich kein bisschen, sein Gesicht, das sonst immer so fröhlich und voller Leben war, war kalkweiß, der Gesichtsausdruck starr, das Blut lief ihm in Strömen vom Nacken. Voller Verzweiflung rief ich seinen Namen, wieder und wieder. Ich berührte sein Gesicht, es war ganz steif, ich nahm ihn an den Schultern und schüttelte ihn sachte, rief ihn, flehte ihn an. Alex war tot, tot. Dieses Wort hallt in meinem Kopf wider, als wäre es sein eigenes Echo. Tot.
Verängstigt und von der Situation überwältigt, versuchte ich zu reagieren. In meinem Kopf dröhnte ein Bum-Bum-Bum, wahrscheinlich vom Aufprall. Augenblick! Das war nicht in meinem Kopf, in der Ferne hörte ich den Klang von Trommeln mit einer wiederkehrenden Melodie. Jemand schien in einiger Entfernung zu kommunizieren.
“Scheiße!”, dachte ich.
Ich stand taumelnd auf. Ein Gedanke machte sich in meinem Kopf breit. Wenn wir von Milizen abgeschossen worden waren, würden sie hierkommen und uns gefangen nehmen und vielleicht sogar töten. Wir mussten sofort weg von hier. Mein erster Gedanke war, Alex Bescheid zu sagen, aber als ich den Kopf drehte und ihn wieder ansah, wurde mir erneut bewusst, dass er tot war. Einige Sekunden lang war ich wie erstarrt, bis ich es schaffte mich wieder loszureißen. Ich ging zu Juan, der noch immer auf seinem Platz saß und sich ein paar Mal geschüttelt hatte, wie jemand der schläft und einen Albtraum hat.
“Juan”, stammelte ich, “wir müssen von hier verschwinden.“
„Und Alex?“ murmelte er, ohne die Augen zu öffnen.
“Alex, … Alex ist tot, Juan.”, antwortete ich und versuchte nicht zusammenzubrechen. „Komm, Alex ist tot und wir werden es auch sein, wenn wir nicht gehen. Er ist tot.“
Stolpernd suchte ich in dem Chaos solange nach meine Rucksack, bis ich ihn endlich fand. Ich nahm ihn und ging in den hinteren Teil des Flugzeugs. Hier hinten brannte eine Seite und es war sehr heiß. Im ganzen Flugzeug lagen Menschen in unnatürlichen Positionen, einige verletzt, andere versuchten etwas zu unternehmen und wieder andere waren tot. Von überall her hörte man Schreie, Stöhnen, Gemurmel. Ich erreichte die Bordküche und stopfte alles, was ich finden konnte in den Rucksack: Dosen mit Erfrischungsgetränken, belegte Brötchen, Päckchen, mit undefinierbarem Inhalt, eine Gabel. Als er voll war, ging ich zu Juan zurück und nahm mir seinen Rucksack, der auf einer Frau lag und packte einige Flugzeugdecken hinein. Dann erinnerte ich mich an den Verbandskasten und kehrte noch einmal in die Bordküche zurück. Da war er, auf dem Boden, geöffnet und der Inhalt auf der Erde verstreut. Ich sammelte alles ein, was in meiner Nähe war und ging Juan holen.
“Komm, Juan, lass uns von hier abhauen.“
„Ich kann nicht”, flüsterte er, „mir tut alles weh.“
„Komm schon Juan, du musst aufstehen oder sie werden uns alle töten. Ich bringe die Rucksäcke raus und dann komm ich dich holen.“
„Okay, okay, ich versuche es“, antwortete er mir und rutschte ein bisschen auf seinem Platz herum.
Ich nahm die beiden Rucksäcke und ging nach draußen, wegen der Erschütterung durch den Aufprall taumelte ich dabei immer noch ein bisschen. Ich musste mich sehr anstrengen, nicht stehen zu bleiben, um den anderen Menschen zu helfen, aber ich wusste nicht, wie viel Zeit mir blieb und ich wollte nur leben. Einen weiteren Tag leben, um die nächste Morgendämmerung zu erleben. Wir befanden uns auf einer Seite der Lichtung inmitten des Waldes. Offensichtlich hatte der Pilot versucht hier zu landen, weil hier keine Bäume standen, aber er war etwas vom Weg abgekommen. Das Flugzeug hatte die linke Tragfläche verloren, als es gegen die großen Bäume gestoßen war. Eine dichte Rauchwolke, die jeder in einem Umkreis von vielen Kilometern sehen konnte, stieg aus dem Flugzeug auf. Ich ging ein Stück weit in das Dickicht und stellte die Rucksäcke am Fuß eines großen Baumes ab. Dann drehte ich mich um, um zum Flugzeug zurückzugehen, aber in diesem Augenblick stürmte eine Gruppe bewaffneter schwarzer Männer von der mir gegenüberliegenden Seite her auf die Lichtung. Schnell ging ich in die Hocke und versteckte mich hinter einem Baumstamm. Ein heftiger Schmerz stach mir in den Magen. Die Milizen, von denen einige Tarn- und andere Zivilkleidung trugen, umzingelten das Flugzeug, zielten mit ihren Waffen darauf und schrien pausenlos. Ich verstand nichts von dem, was sie sagten, aber wenn man berücksichtigte, in welchem Gebiet wir uns befanden, musste es Suaheli sein, oder wer, weiß was sonst.
“Nitoka!”, schrien sie immer wieder, “Enyi!, nitoka!, maarusi!1“
Sofort begannen einige bestürzte und verwirrte Passagiere das Flugzeug zu verlassen. Sie wurden rücksichtslos auf den Boden geworfen und gründlich durchsucht. Weitere Rebellen tauchten auf. Einer der Passagiere, der Mann, der vor mir gesessen hatte, wurde nervös, stand auf und versuchte wegzulaufen. Die Milizen schossen mehrere Maschinengewehrsalven auf ihn ab, so dass er fast augenblicklich tot zusammenbrach. In diesem Moment der Verwirrung kam Juan aus dem Flugzeug und rannte in die gegengesetzte Richtung, weg von dem Ort, auf den alle ihre Aufmerksamkeit gerichtet hatten.
”Basi!2, Basi!”, riefen einige der Rebellen als sie ihn entdeckten.
„Nifyetua!3” schrie der, der anscheinend der Anführer war, als Juan fast den Rand der Lichtung erreicht hatte.
Da nahmen zwei von ihnen ihre Maschinengewehre und schossen ihm, ohne zu zögern in den Rücken. Eine der Kugel flog pfeifend direkt an mir vorbei. Ich zog den Kopf ein und kniff ganz fest die Augen zu, in dem aberwitzigen Glauben, dass mich das vor den Kugeln retten könnte. Knapp fünf Meter von der Stelle, von der aus ich alles beobachtete, sank er auf die Knie und bevor er vollständig zusammenbrach, sah er mich zusammengekauert dahocken und schenkte mir sein letztes Lächeln.
“Nitoka, maarusi!”, schrien sie weiter in Richtung Flugzeug.
Es kostet mich keine große Anstrengung nicht zu schreien, denn ich war gänzlich verstummt und wie gelähmt. Ich weiß nicht, wieviel Zeit ich so zubrachte, aber als ich wieder reagieren konnte, wusste ich, dass es nur einen Ausweg gab: fliehen, um mein Leben zu retten. Ich ergriffe die beiden Rucksäcke und entfernte mich, drang in das dicht belaubte Dickicht des Urwalds ein, so vorsichtig, wie es mir eben möglich war, was nicht viel war, denn ich taumelte, hatte Schmerz am ganzen Körper und war unfähig ihn vollständig zu kontrollieren. Ich wusste nicht, in welche Richtung ich mich wenden sollte, aber mir war klar, dass meine Überlebenschancen umso größer wurden, je mehr Entfernung ich zwischen diese Barbaren und mich bringen konnte.
Ich ging fast zwei Stunden lang, angetrieben von dem Schreck und der Todesangst, bis meine Beine nachgaben und ich erschöpft auf den Boden fiel. Die Rucksäcke fühlten sich an, als wären sie mit Steinen beladen. Mein linkes Knie schmerzte heftig. Seit ich mich beim Fußballspielen verletzt hatte, war es nicht wieder richtig verheilt und ab und an hatte ich immer noch Probleme damit, wenn es überbeansprucht wurde. Ich öffnete meinen Rucksack und holte eine Getränke-Dose heraus. Sie war noch etwas kühl und ich trank gierig. Ich schwitzte extrem, Schweißtropfen liefen in Sturzbächen von meinem Kinn, als hätte es gerade geregnet oder als wäre ich soeben aus dem Schwimmbad gestiegen. Ich bekam keine Luft und versuchte in tiefen Zügen durch den Mund einzuatmen. Ich verschluckte mich an einem zu hastigen Schluck, begann schrecklich zu husten und dachte, ich würde ersticken. Als ich es geschafft hatte, mich etwas zu beruhigen, stellte ich immer noch keuchend fest, dass das Licht abgenommen hatte, die Nacht brach an. Alex tot durch den Unfall, Juan von Kugeln durchlöchert. Ich hatte meine beiden besten Freunde in einem einzigen Augenblick durch einen dämlichen Bürgerkrieg verloren, den ich nicht verstand und der mir egal war. Warum bringen sie sich nicht gegenseitig um? Warum uns? Warum meine Freunde, Alex und Juan? Dreckskerle! Wenn es nach mir ginge, könnte sie alle gemeinsam in die Luft fliegen. Ihretwegen war ich jetzt allein in diesem feuchten, ermüdenden, stickigen Drecksloch. Ohne meine Freunde. Warum sie? Warum ich? Juans Tod, niedergemäht von diesen Barbaren, ging mir ein ums andere Mal durch den Kopf, als wäre es ein Film. Wie das Licht in seinen Augen erstarb, als er mir seinen letzten Blick schenkte…Ich versuchte nicht daran zu denken, es in einem geheimen Winkel meines Gehirns zu verstecken, aber es ging nicht. Vor einigen Stunden waren wir zusammen, haben gelacht, während wir uns an die Ereignisse auf unserer Reise erinnerten, und jetzt…
Ich weinte eine ganze Weile, wie lange weiß ich nicht, aber es tat mir sehr gut. Als ich endlich aufhören konnte, ging es mir viel besser, auf jeden Fall hatte ich mich etwas beruhigt. Jetzt war sah man deutlich, dass die Nacht anbrach, der dämmerige Urwald betrat die Welt der Finsternis. Ich musste mir einen Platz zum Schlafen suchen. Ich hatte Angst davor, auf dem Boden zu schlafen, vor allen Dingen, falls mich die Rebellen finden sollten. Aber auf einem Baum zu schlafen, gefiel mir auch nicht, denn da waren Schlangen, diese kreischenden Affen oder was weiß ich denn noch für anderen wilden und hungrigen Raubtiere. Für irgendetwas musste ich mich entscheiden. Schlangen oder vor Wut rasende bewaffnete Männer? Die Schlange schienen mir die bessere Wahl zu sein, wenigstens hatten sie mir bis jetzt noch nichts getan. Ich suchte mir einen Baum, auf den ich leicht klettern konnte, die Schlangen aber nicht, und der irgendwo einen Platz bot, an dem ich es mir zum Schlafen bequem machen konnte.
In diesen Moment wurde mir bewusst, welche unglaubliche Artenvielfalt an Bäumen und Pflanzen es hier gab. Beginnend mit den kleinsten, fast winzigen Pflanzen bis hin zu über fünfzig Meter hohen Bäumen, deren Stämme alle anderen überragten ohne das ich ihr Ende sehen konnte. Ein einziges Durcheinander von unterschiedlichsten Pflanzen, wohin man auch sah. Ebenso gab es riesige Palmen mit zerfransten grün-gesprenkelten Blättern von mehreren Metern Länge und kompakten und dichten Blütenständen4. Die oberste Baumschicht erreichte ungefähr dreißig Meter, aus der aber einige Bäume weit hinausragten. Die mittlere Schicht erreichte zehn oder zwanzig Meter mit ihren länglich geformten Bäumen, die den Zypressen ähnelten, die bei uns auf Friedhöfen stehen. Die Bäume der untersten Schicht erreichten fünf bis acht Meter, hier kam deutlich weniger Licht an. Es gab auch Büsche, alle möglichen jungen Bäume, wenn auch nur wenige, und eine Moosschicht, die an manchen Stellen fast alles bedeckte, genauso wie eine Unmenge an Lianen, die an allen Stämmen hinaufkletterten, von allen Ästen hingen. Überall waren Blumen und Früchte, vor allem in den obersten Schichten, die für mich unerreichbar waren. Auch konnte man alle möglichen Tiere erahnen, sie waren nicht leicht zu sehen, aber ich konnte unzählige unterschiedliche Vogelrufe und Schreie von Affen hören. Über mir zitterten die Äste, wenn sie sich darüber bewegten. Überall in der Luft und um die Blumen herum summten Insekten. Ich konnte sogar einige auf dem Boden lebende Tiere, deren Schritte ich wie ein entferntes Geräusch hörte wahrnehmen. Schmetterlinge und andere Insekten schwirrten überall herum. Ich hätte diesen herrlichen Ort genießen können, wenn ich nicht in dieser Situation steckte, aber im Augenblick war alles ein potentielles Hindernis für mein Überleben. Und alles machte mir Angst.
Nach einer kurzen Suche fand ich einen Baum, den ich für geeignet hielt und kletterte mit beiden Rucksäcken auf dem Rücken hinauf. Sie schienen mir höllisch schwer zu sein und mein Knie flehte um eine Pause. Als ich hoch genug war, um mich sicher zu fühlen, aber noch nicht so hoch, dass ich mich bei einem Sturz in der Nacht schwer verletzt oder umgebracht hätte, machte ich es mir so gut es ging zwischen zwei dicken fast parallel verlaufenden Ästen bequem. Ich deckte mich mit einer der kleinen Decken, die ich aus dem Flugzeug mitgebracht hatte etwas zu und benutzte eine andere als Kopfkissen. Am Himmel konnte ich eine unglaubliche Menge von großen dunkelbraunen Fledermäusen ausmachen. Sie schlugen auf diese für sie typische Weise mit den Flügeln, was wie ein herumirrendes Geflatter wirkte und bewegten sich wie durch Impulse5. Ich hatte keine Ahnung, wie ich sie hätte zählen sollen, aber es waren bestimmt tausende, die vor allem die Palmen anflogen, um deren Früchte zu fressen, so dachte ich, oder um die Insekten zu jagen, die die Früchte fraßen.
Ich hatte vielleicht zwei Stunden in kleinen Intervallen von fünfzehn oder zwanzig Minuten geschlafen. Die Geräusche setzten mir von allen Seiten zu. Ich hörte nur noch Schritte, Stimmen, Schreie, Krächzen, schrilles Gekreische, Gesumme, Geraune, ein andauerndes Gewisper, das unaufhörlich an- und abschwoll. Ich meinte sogar mehrmals den Todesschrei eines Kindes zu hören und das Trompeten von Elefanten. Ich wusste nicht, ob es sich nur so anhörte oder ob es wirklich so war. Ab und an war ein sehr beunruhigendes Brüllen zu hören, das mich an ein wildes Raubtier denken ließ, das mich im Schlaf fressen würde. Zeitweise nahm mir die Angst den Atem und drückte mir derart aufs Herz, das es fast wehtat. Jeder Laut, jede Bewegung, alles, was sich in meiner Umgebung abspielte war eine Qual, erzeugte ein erdrückendes, erstickendes Gefühl. Sobald es mir gelang einzuschlafen, war da wieder irgendetwas, so dass ich erneut erschrocken aus dem Schlaf hochfuhr. Manchmal sah ich in der unheimlichen Nacht Augen leuchten. Um mir Mut zuzusprechen, sagte ich mir, dass es nur ein einfacher Uhu war oder sein nächster in diesen Gefilden heimischer Verwandter. Aber diese Versuche, eine positive Einstellung zu behalten, waren nur von kurzer Dauer und am Ende sah ich immer Raubkatzen mit rücksichtslosen Absichten oder gefährliche Schlangen auf der Jagd. Dann wieder glaubte ich, in der Nähe Schüsse zu hören, wiederkehrende Gewehrsalven, aber wenn ich aufmerksam lauschte konnte ich nichts hören.
“Javier”, hörte ich Alex rufen.
“Ja, wo bist du?“, sagte ich, während ich aus dem Schlaf hochschreckte.
”Javier”, hörte ich wieder.
Ich guckte in alle Richtungen, ängstlich, erwartungsvoll, begierig meinen Freund zu sehen. Bis mir klar wurde, dass Alex tot war, und dass ich mich allein und ohne Hilfe inmitten des Urwalds befand. Das war es, was mich erschreckte: dass ich mit niemandem rechnen konnte, der mir zu Hilfe kommen würde, dass da niemand war, mit dem ich den Schmerz dieses Momentes, meine Verzweiflung teilen konnte. Ich durfte nicht in Panik geraten, ich musste die negativen Gedanken aus meinem Kopf verbannen, um zu überleben. Aber ich konnte es nicht. Ein beklemmendes Gefühl der Einsamkeit führte dazu, dass ich in meine Ängste abtauchte.
“Javier, Javier.”
Sein steter, fragender und lockender Ruf erklang die ganze Nacht. Ich wäre mit ihm gegangen, wenn ich gewusst hätte wohin.