Loe raamatut: «Der USB-Stick»
Über dieses Buch
Jean Detrez ist als Leiter einer Abteilung der Europäischen Kommission mit Zukunftsforschung befasst. Er ist Zukunftsexperte – aber kein Experte seiner eigenen Zukunft. Diese hat sich seit seiner Trennung von Diane in Luft aufgelöst. Die Kommission beauftragt ihn mit einer Machbarkeitsstudie: Eine rein europäische Blockchaintechnologie soll künftig die Unabhängigkeit von China und den USA gewährleisten. Nachdem Detrez seine Ergebnisse im Europäischen Parlament vorgestellt hat, wird er von zwei Lobbyisten zur Seite genommen. Aus Neugier lässt sich Detrez auf konspirative Treffen in dunklen Hotelbars ein. Nach der letzten Begegnung findet er einen USB-Stick auf dem Boden, den einer der beiden dort verloren hat. Detrez prüft den Inhalt und stößt auf Ungeheuerliches: Es geht nicht um Forschungszwecke, sondern um Bitcoins und den geheimen Auftrag einer chinesischen Firma. Um den Betrug aufzudecken, nimmt er kurzentschlossen einen Flieger nach China, statt wie geplant direkt zu einer Konferenz nach Japan zu reisen. Für 48 Stunden weiß niemand auf der Welt, wo er sich befindet.
Der Plot über internationale Cyberkriminalität erzeugt große Spannung, und doch lesen wir einen Roman von Jean-Philippe Toussaint. Sein unverwechselbarer ernster wie ironisch-humorvoller Ton bannt den Leser und öffnet zugleich romaneskere Bahnen, die in die Vergangenheit, zur Familie, zu den Kindern des Protagonisten führen, der allem und jedem misstraut und sich doch ins Zentrum der Gefahr wagt. Und sosehr sich sein Chinaaufenthalt immer mehr zu einem Alptraum entwickelt, ahnt der Leser: Die eigentliche Katastrophe steht noch bevor.
»Hält Jean-Philippe Toussaint den Schlüssel zur Zukunft in der Hand? Mit größter Genauigkeit beschreibt er unsere Welt, von der Technik dominiert und untertan gemacht.« (LE CROIX)
»Ein neues Buch von Toussaint zu öffnen, heißt immer, in ein neues Denkmodell einzutreten: In der Tarnung eines Spionageromans bringt er Fragen zur Sprache, die unsere Moderne durch Globalisierung und neue Technologien ausgelöst hat.« (LIVRES)
»Jean Detrez arbeitet bei der Europäischen Kommission über ein sensibles Thema. Zwei Lobbyisten treten an ihn heran. Bei einem konspirativen Treffen in einem Brüsseler Hotel verliert einer der beiden einen USB-Stick. Dieses Objekt macht aus dem neuen Roman von Jean-Philippe Toussaint ein Buch, das man bis zum Ende nicht mehr weglegen kann, packend wie ein Thriller.« (EAN, JOURNAL DE LA LITTTÉRATURE)
»Romanhafter denn je, durchaus auch autobiographisch und ohne dass sein Stil Leichtigkeit verliert, zeigt Toussaint in ›Der USB-Stick‹, wie die profitgierige Moderne europäische und demokratische Ideale erstickt.« (LE GUIDE LIVRES)
Inhalt
I – Eine Leerstelle, ja …
II – In den Tagen darauf …
III – Am späten Nachmittag …
I
Eine Leerstelle, ja, wenn ich daran zurückdenke, begann es mit einer Leerstelle. Im Winter gab es in meinem Zeitablauf zwischen meinem Abflug vom Flughafen Paris-Roissy am frühen Nachmittag des 14. Dezember und meiner Ankunft am 16. Dezember um 17.15 Uhr am Narita Airport eine Leerstelle von achtundvierzig Stunden. Wir wissen nie alles über das Leben uns nahestehender Personen. Ganze Momente ihres Daseins sind uns verborgen. Es bleiben immer Grauzonen in ihrem Leben, Leerstellen, Lücken, Auslassungen, Abwesenheiten. Selbst bei den Menschen, die man am besten zu kennen glaubt, gibt es unbekannte Territorien. Aber wie steht es mit uns selbst? Sollte nicht eigentlich alles von unserem Leben bekannt sein? Sollten wir nicht ständig erreichbar sein, telefonisch, per Mail oder via Facebook-App? Sind wir heute nicht gehalten, ständig lokalisierbar zu sein? Ist es bei Reisen nicht unentbehrlich geworden, unsere Nächsten jederzeit wissen zu lassen, wo wir uns gerade aufhalten, in welchem Land, in welcher Stadt, in welchem Hotel? Bei dem, was mir in diesen achtundvierzig Stunden passiert ist, in denen niemand aus meiner Familie oder meinem beruflichen Umfeld wusste, wo ich mich befand, handelte es sich nicht um eine jener vorsätzlichen Fluchten, wie sie in Frankreich jährlich tausendfach vorkommen. Es handelte sich auch nicht um eine dieser vorübergehenden Amnesien, eine Gedächtnislücke, ein flüchtiges Aussetzen des Erinnerungsvermögens, das einem übermäßigen Alkoholkonsum nach einem allzu feuchtfröhlichen Abend geschuldet wäre, wenn man sich beim Aufwachen nicht mehr an die Ereignisse der Nacht erinnert, die in unserem vernebelten Hirn nur bruchstückhaft wieder auftauchen, als ob die Dinge, die wir in der vorangegangenen Nacht erlebt hatten (manchmal die lustvollsten, wie etwa ein schnelles sexuelles Abenteuer), gegen unseren Willen geschehen sind und im Nachhinein aus dem Gedächtnis gelöscht worden wären. Nein, unter einem solchen achtundvierzigstündigen Blackout hatte ich nicht zu leiden. Im Gegenteil, ich erinnere mich klar und deutlich an jene beiden Tage, manche Bilder habe ich sogar in halluzinatorischer Klarheit wieder vor Augen. Aber die Leerstelle ist da, diese vorsätzlich gefasste Leerstelle in meinem Zeitplan, diese geheime Paranthese, von mir selbst organisiert, indem ich jede Spur meines Daseins auf der Welt ausradiert habe, als sei ich vom Radar verschwunden, als hätte ich mich buchstäblich in Luft aufgelöst. Von Amts wegen war ich achtundvierzig Stunden lang nirgendwo – und nie hat jemand erfahren, wo ich mich aufhielt.
Bei der Europäischen Kommission, für die ich arbeite, vermutete man mich in Japan. Auch meine Familie dachte, ich sei in Tokio. Meine Teilnahme an dem internationalen Kolloquium Blockchain & Bitcoin prospects war schon lange geplant. Ich war als europäischer Experte eingeladen, am zweiten Tag des Kolloquiums im Tokyo International Forum einen Vortrag zu halten. Professor Nakajima von der Universität Todai hatte meine Reise organisiert und das Programm für mich ausgearbeitet, mir neben meinem Vortrag beim Kolloquium einen weiteren Vortrag an seiner Universität beschafft. Seit einigen Jahren setzte ich mich im Rahmen meiner Tätigkeit für die Gemeinsame Forschungsstelle für Wissenschaftliche Beratung in Brüssel vor allem mit der Blockchain-Technologie auseinander. Ich arbeitete schon lange auf dem Gebiet der Strategischen Zukunftsforschung, zunächst für das Centre d’Étude et de Prospective Stratégique in Paris, jetzt für die Europäische Kommission. Seit mehr als zwanzig Jahren schon beschäftigte ich mich mit der Zukunft. Und in diesen zwanzig Jahren nur Missverständnisse! Wie oft hatte ich richtigstellen müssen, dass die Zukunftsforschung, soweit sie ihren Gegenstand vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, nichts mit Wahrsagerei zu tun hat. Wie oft wurde ich bei Abendessen in der Stadt, in Paris oder in Brüssel, gefragt, wo ich doch Spezialist für Fragen der Zukunft sei, was diese für uns bereithielt. Bestenfalls bezog sich die Frage, Himmel sei Dank, nicht auf die Zukunft als solche (das ist, ich weiß es aus Erfahrung, ein weites Feld), sondern auf den einen oder anderen speziellen Aspekt, die Umwelt oder die Geopolitik, also die Erwärmung der Erde oder die Entwicklung der syrischen Frage. Ich löste mit meinen Antworten in aller Regel nur Enttäuschung und stille Missbilligung aus, ja sogar kaum verhohlenes Misstrauen, weil ich im Bewusstsein meiner eng gefassten wissenschaftlichen Vorgehensweise antwortete, nichts darüber wissen zu können. Dem einverständlichen Schmunzeln, dem Austauschen verstohlener Blicke und den amüsierten Gesichtern, die ich am Tisch wahrnehmen konnte, setzte ich nichts entgegen. Ich versuchte weder mich zu erklären, noch weniger zu überzeugen. Allenfalls machte ich das Eingeständnis, dass zuweilen die Intuition mir zu Hilfe käme. Ich forschte über die Zukunft, ja, wie großartig. Selbst meine Kollegen in der Europäischen Kommission hatten gemeinhin keine Ahnung, worum es dabei ging. Nicht selten kam es vor, dass der eine oder andere Generaldirektor mich wegen der rätselhaften Abteilung, die ich leitete, in meinem Büro besuchte, um mich zu fragen, was es denn genau mit der Zukunftsforschung auf sich habe, um dann wie nebenbei hinzuzufügen, denn das war oft der eigentliche Grund des Besuchs: »Und wie könnte mir das zu Nutzen sein?« Und jedes Mal nahm ich mir die Zeit, gebetsmühlenartig zu erklären, was Zukunftsforschung nicht bedeutete, ich begann, sie negativ zu definieren. Denn was die Zukunftsforschung nicht war, das wusste ich zu Genüge – aber zu wissen, was sie war?
Was die Zukunftsforschung nicht war, nichts einfacher als das. Die Strategische Zukunftsforschung ist keine Hellseherei. Es geht keineswegs um Weissagung oder um Prophezeiung. Sie ist in keinem Fall Wahrsagerei, noch nicht einmal, was die Allgemeinheit im mindesten von ihr erwartet, Prognose. Nein, die Strategische Zukunftsforschung sagt nicht die Zukunft voraus. Die Zukunft ist lediglich der Gegenstand ihrer Forschung, und um sie zu erforschen, verfügen wir über ein breites Spektrum bestens ausgearbeiteter methodologischer Verfahren, die nach dem zweiten Weltkrieg entstanden und seither perfektioniert wurden, Instrumente wie zum Beispiel die Delphi-Methode, Modellierungen, Extrapolationen und Szenarien. Die Zukunftsforscher bilden eine recht eng begrenzte Gemeinschaft, in der wir uns nur auf Englisch verständigen, obwohl wir alle polyglott sind und jeder von uns zwei, manchmal sogar drei oder vier Sprachen beherrscht. Man begegnet zwangsläufig mehr oder weniger immer denselben Gesichtern auf den Symposien und internationalen Konferenzen, bei denen wir uns zwei oder drei Mal im Jahr treffen, etwa beim jährlichen Kongress der World Future Society oder bei der Association of Professional Futurists. Mein Freund Peter Atkins veranstaltet jedes Jahr eine Sommerfrische vor der hochherrschaftlichen ländlichen Kulisse von Hartwell House unweit von London. Wir unsererseits empfangen in Brüssel an die vierhundert Experten aus der ganzen Welt zu unserer Konferenz Analyse Technologique de la Prospective (die das hübsche Akronym ATP ergibt, welches an das der Association of Tennis Professionals erinnert). Wir bilden eine relativ homogene Truppe, und wie jede Gemeinschaft sind wir durch ein unsichtbares Netz von Sympathien und Antipathien, von Freundschaften und Feindschaften verbunden, durch versteckte Eifersüchteleien und Animositäten, Sippschaften und Cliquen, ein Netz, das tief unter der Oberfläche unsere Gemeinschaft durchzieht, ebenso wenig sichtbar wie dessen Verbindungen auf der Oberfläche. Auch wenn wir in einem geschlossenen System leben, sind wir dennoch weniger inzestuös als etwa eine königliche Familie oder ein Philharmonieorchester. Vielfältig Eingebrachtes von außen, von Wissenschaftsexperten, Ingenieuren und Politikern, durchlüftet regelmäßig unseren begrenzten Kreis, und durch den immer wieder erneuerten Mestizenbeitrag von Gedanken wird unser Sumpf unaufhörlich aus seiner Erstarrung gerüttelt. Und diese ganze schöne Welt hat natürlich allein die Zukunft im Sinn. Um es jedoch gleich vorwegzunehmen, die Zukunft existiert nicht – zumindest noch nicht.
So exzellent unsere Methoden auch sein mögen, die Zukunft lässt sich nicht vorhersagen. Wie könnten wir etwas vorhersagen, das noch nicht existiert? Die Zukunft, wenn wir sie vom Heute ausgehend erforschen (und wovon sonst als der Gegenwart könnten wir ausgehen?), bleibt etwas sich ständig Änderndes, Instabiles, Unbestimmtes, Unschlüssiges, wie ein unendlicher, ewig sich im Wind wandelnder Himmel, der eben noch ruhig war, dann plötzlich stürmisch ist. Sie kann verschiedenste Formen annehmen, ihre Konturen dehnen sich in kontinuierlichem Wechsel, vermischen sich, ihre Grenzen werden verschoben, während ihr eigentliches Wesen uns gänzlich unbekannt bleibt. In dem Moment, in dem wir die Zukunft beobachten, ist sie noch nicht erschienen. Durch die grundlegende Ungewissheit und ihre bedrohliche Unbestimmtheit war die Zukunft seit jeher für den Menschen eine Quelle des Unbehagens. Unbehagen, ja. Der Mensch (und ich im Besonderen) hat angesichts der Zukunft schon immer ein irrationales Unbehagen empfunden. Er dachte seit jeher, die Zukunft könne eine Gefahr in sich bergen, und um diese abzuwenden, brachte man seit der Antike alle möglichen Praktiken und Abwehrrituale in Stellung, um diese Angst zu bannen. Jahrhundertelang glaubte der Mensch, die Zukunft erschließe sich ihm nicht, dass sie Gott gehöre, dass sie eine Sphäre sei, die für Mächte reserviert ist, die über seinen Verstand gehen. Um etwas von der Zukunft zu erahnen, um einen Zipfel des Schleiers von dem zu lüften, was sie für uns bereithielt, manchmal etwas vom Besten, meist etwas vom Schlimmsten, zog man Auguren oder Orakel zu Rate. Heute blicken wir mitleidig auf solch archaische Praktiken. Unsere Vorgehensweise versteht sich rationaler, wissenschaftlicher. Wir versuchen nicht, die Zukunft vorherzusagen, sondern nur, sie vorzubereiten, was uns zu der Überlegung führt, das Zukünftige nicht als ein zu erforschendes, sondern als ein zu bebauendes Gebiet zu betrachten. Dem französischen Philosophen Gaston Berger verdanken wir die wesentliche Einsicht, dass die Zukunftsforschung untrennbar mit Handeln verbunden ist. Wenn man sich mit der Zukunft beschäftigt, dann nicht als Ästhet oder passiver Beobachter, sondern in zweckorientierter Absicht, im Dienste des Handelns und der politischen Entscheidung. Die Zukunft darf nicht als etwas bereits Feststehendes betrachtet werden, vielmehr als etwas Offenes, noch zu Konstruierendes, etwas, worauf heutige Entscheidungen noch einen Einfluss haben. Aber der wirkliche Patron der Zukunftsforschung ist der Amerikaner Herman Kahn. Herman Kahn ist Wegbereiter und Legende der Strategischen Zukunftsforschung. Er ist Begründer der berühmten Methode der Szenarien. Als Kahn Mitte der 1950er Jahre einen Überbegriff für seine hypothetischen Darstellungen suchte, die er im Rahmen seiner Zukunftsforschung anwandte, und nach einer Diskussion ein Drehbuchautor aus Hollywood ihm erzählte, der Begriff scenario sei beim Film zugunsten von screenplay fallen gelassen worden, übernahm er einfach den Begriff, um damit seine fiktiven Forschungsberichte zu benennen, die Situationen beschreiben, die sich in der Zukunft ereignen könnten. Wie mein Freund Peter Atkins oft anmerkte, behaupten Franzosen gerne, Amerikaner seien rigide und deterministisch in Sachen Zukunftsforschung, liest man jedoch die Schriften Herman Kahns, wird klar, dass Kahn viel entspannter ist, als man es ihm allgemeinhin zutraut, hatte er doch die Traute besessen, ein aus Hollywood stammendes Wort als Überbegriff der in der Zukunftsforschung ausgearbeiteten Fiktionalisierungen zu wählen. Als Autor des äußerst umstrittenen Buches Über den Nuklearkrieg, mit dem er in den 1960er Jahren in den Medien Aufsehen erregte, hat Kahn viel Zeit darauf verwandt, mögliche Szenarien eines Atomkrieges mit der Sowjetunion zu entwerfen und kühl unter Zuhilfenahme verschiedener Tabellen mögliche Strategien zu entwickeln, mit denen die Vereinigten Staaten einen Atomkrieg »gewinnen« könnten. Er unterschied zehn Arten von Krisen und bemühte sich, den Nachweis zu erbringen, dass ein Überleben der Vereinigten Staaten bei einer vorgeschalteten guten Vorbereitung mit einiger Wahrscheinlichkeit denkbar sei. Die klinisch sauberen Hochrechnungen der Toten in jeder der von ihm erarbeiteten Szenarien, methodisch exakt in Grafiken ausgewiesen, gingen von der niedrigsten Hypothese (zwei Millionen Tote), bis hin zur höchsten (160 Millionen Tote), was bei Veröffentlichung des Buchs einen Aufschrei der Empörung auslöste. Seine Kritiker warfen ihm die Leichtfertigkeit vor, mit der er mit dem nuklearen Feuer spielte, und klagten ihn an, zu einem Massenmord aufzurufen. Kahn war zu diesem Zeitpunkt aber schon zu verstrickt in seine Obsessionen und seine makaberen Hochrechnungen und stand am Ende da wie ein monomaner Illuminat, so sehr, dass er zu einem der Vorbilder wurde für Doktor Seltsam in Stanley Kubricks Film Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben.
Meist weniger berühmt als die legendären Kunstfiguren wie Doktor Seltsam oder Citizen Cane sind die bedeutenden Köpfe der Zukunftsforschung, die dem großen Publikum im Allgemeinen unbekannt bleiben. In diese Porträtgalerie bizarrer Persönlichkeiten gehört das einzigartige Bildnis von Pierre Wack. Der Franzose Pierre Wack, der nicht nur ein Franzose war (also per definitionem leicht verrückt, wie mein Freund Peter Atkins es zu sagen pflegt), sondern ein wahres Original (ein unkonventioneller Franzose, wie es einer seiner Biographen etwas schönfärberisch schreibt), war ein richtiger Hippie, der nach Indien pilgerte, um seinem Guru Swami Prajnanpad einen Besuch abzustatten, und der seine Tage im Büro im Lotussitz meditierend zubrachte. Und diesen komischen Kauz beauftragte die Geschäftsführung von Royal Dutch Shell Mitte der 1960er Jahre, ein neues System für die weltweiten Aktivitäten der Ölfirma einzuführen, von der Förderung des Erdöls bis hin zum Vertrieb des Benzins an den Tankstellen. Pierre Wack (dessen witziger Name an den französischen Komödianten Pierre Dac erinnert) bezog darauf in London im neuen Shell-Hochhaus ein privates Büro, in dem beständig eine Räucherkerze brannte und unser Experte in weißem Kimono und thailändischer Hose barfuß und nachdenklich über den Teppichboden entlang der verglasten Fensterfront des Shell-Hochhauses wandelte, das das Südufer der Themse überragt. Da er die bisher üblichen Fünfjahrespläne von Shell als Auslaufmodell betrachtete und erkannte, dass in den bis dahin zur Anwendung gebrachten Zukunftsmodellen zu wenig die äußeren Gegebenheiten auf diese Industrie mit ins Kalkül einbezogen wurden, führte Pierre Wack von nun an Shell auf den Weg der Szenarien, die von 1971 an schließlich an die Stelle der traditionellen quantitativen Vorhersagen des multinationalen Konzerns traten. Und auch wenn es möglicherweise nur am Weihrauchdunst lag, der der Gestalt Pierre Wacks beim Verlassen des Aufzugs einen Heiligenschein verlieh, begannen die Entscheider bei Shell langsam, sich an seine intuitiven Szenarien und seine Vorstellungen zu gewöhnen, die man anfangs für absurd erachtet hatte, dass der Weltölmarkt Mitte der 1970er Jahre eine gewaltige Schieflage erleben würde und demzufolge einen brutalen Anstieg der Erdölpreise, eine Intuition, die sich mit dem ersten Erdölschock 1973 auf eklatante Weise bestätigen sollte.
In den vergangenen Jahren habe ich hin und wieder Science-Fiction-Romane gelesen. Ich erinnere mich auch, im Kino mehrere Episoden von Star Wars gesehen zu haben. Eine schon vor längerer Zeit, noch im 20. Jahrhundert, vielleicht war es 1999. Was für ein seltsam anmutendes Datum, dieses 1999, mit dieser langsam und still in der Zeit versiegenden Schleppe von Neunern, wie ein Kometenschweif im interstellaren Raum. Und doch haben wir diese Zeit, als wir den Moment lebten, als völlig normal betrachtet, vielmehr die Jahre, die mit 2000 begannen, damals als unnatürlich empfunden. Ich habe die erste Episode von Star Wars, Die dunkle Bedrohung, in Rom mit meinem älteren Sohn Alessandro gesehen, der zu dieser Zeit etwa neun oder zehn Jahre alt gewesen sein dürfte. Ich war für ein langes Wochenende nach Rom gekommen, um Alessandro zu sehen, der dort nach unserer Trennung mit seiner Mutter lebte, und ich hatte ihn mit in Star Wars genommen. Es war ein unerträglich heißer Augusttag, und ich erinnere mich noch an die wohltuende Kühle, die im Dunkel dieses klimatisierten Kinosaals in der Nähe der Piazza Barberini herrschte. Alessando saß neben mir in Shorts und einem Trikot von AS Rom und schaute fasziniert auf die mönchischen Gestalten der Jedi-Ritter, die sich, vermummt in Kapuzen und braunen Wollmänteln, mit Laserschwertern bekämpften. Ich meinerseits schaute gleichermaßen auf die Filmleinwand wie auch auf meinen Sohn, dessen kleine Augen ich in der Dunkelheit kaum wahrnehmen konnte und der mit offenem Mund und starr mit einer Eistüte in der Hand in fast religiöser Hingabe den weisen Sprüchen von Meister Yoda folgte. Il paura è la via per il lato oscuro. Wir sahen einen italienisch synchronisierten Film. Mein Sohn konnte die Untertitel noch nicht fließend lesen. La paura porta a la rabbia. La rabbia porta all’ odio, l’odio conduce alla sofferenza, fuhr Meister Yoda fort (das ist gut, was?, wandte ich mich von Zeit zu Zeit zu meinem Sohn, um ihn zum Zeugen zu nehmen).
Erst vor kurzem, als ich nach einem Arbeitstag in Brüssel abends nichts vorhatte, schaute ich mir gedankenlos im Programm eines flämischen Senders eine neuere Episode von Star Trek in der Originalfassung mit holländischen Untertiteln an. Doch in den Tagen danach, wenn ich über die Art und Weise nachdachte, in der im Film die Zukunft dargestellt worden war, fing auch ich an zu überlegen, wie unsere Welt in einer weit entfernten Zukunft tatsächlich aussehen könnte, wobei ich versuchte, die wirklich denkbaren Entwicklungen der Menschheit hochzurechnen, um in einem idealen Zukunftsfilm einen realistischeren Überblick über die Zukunft zu bekommen. Das war in der Tat genau das, was ich besser hätte sein lassen sollen. Das war die völlige Abkehr von dem, was ich ständig vermeiden wollte, wenn man mich danach fragte, was die Zukunft für uns bereithielt. Aber ich wollte, weil ich schon einmal dabei war, mit meinen Träumereien noch nicht aufhören, trotz des (begründeten) Vorwurfs, den ich mir selbst hätte machen können. Auch wenn die Erkenntnisse, zu denen ich, gestützt auf die neuesten Forschungen der Wissenschaft, gelangt war, sicherlich von keiner großen Bedeutung waren (ich habe sie übrigens alle recht schnell vergessen), war ich doch mit meiner eigenen Schlussfolgerung ziemlich zufrieden, die darauf hinauslief, dass alle Elemente, die man in einen Science-Fiction-Film einbauen kann, alle nur vorstellbaren technologischen Extravaganzen, ob Maschinen, Roboter, Weltraumschiffe oder interstellare Reisen, alle biotechnologischen und transhumanen Spielarten, all dieser futurologische, mit Spezialeffekten vollgestopfte Klimbim nicht an das Wirkungsvollste und wirklich Verblüffendste heranreichen, was es auf der Leinwand zu sehen gibt – denn das Glaubwürdigste und am meisten Bewegende, das Schönste und auch Zauberhafteste sind die Szenen, in denen es regnet.
In der Strategischen Zukunftsforschung spannt sich die Vorhersage allgemeinhin über Zeiträume bis zu etwa fünfzig Jahren, wobei man nie über das Jahr 2100 hinaus forscht, das ist unsere längste Zeitspanne, der nicht zu überschreitende Horizont. Aber der Begriff der längsten Zeitspanne ist sehr relativ, die Experten der IAEO, der Internationalen Atomenergie-Organisation, rechnen bei Halbwertszeiten nuklearer Abfälle mit einem Zeithorizont von hunderttausend Jahren. Das Problem mit diesem in großer Tiefe gelagerten radioaktiven Atommüll liegt darin, wie man künftigen Generationen auf verständliche Weise die Information übermitteln, wie man sie darauf aufmerksam machen soll, dass im Boden hochgiftige nukleare Abfälle mit einer Verfallszeit von einhunderttausend Jahren oder mehr lagern. In welcher Sprache beispielsweise soll man an der Erdoberfläche Hinweise zur Lokalisierung hinterlegen, wie technische Empfehlungen zur Behandlung dieser Abfälle abfassen? Es ist vielleicht ein wenig zu kurz gegriffen, wenn man sich damit begnügt, mit: »auf Chinesisch« zu antworten, wie ich es letztens bei einer internen Sitzung mit einem Augenzwinkern vorgeschlagen habe. Keine Organisationsform der Menschheit ist auf eine solche Zeitspanne hin angelegt. Selbst den Vatikan, eine der am längsten bestehenden, gibt es erst seit dem vierten Jahrhundert. Andererseits heißt in der Welt der neuen Technologien sechs Monate bereits Ende der Vorstellung, so viele Dinge können in diesem sich derart schnell entwickelnden Bereich in nur sechs Monaten passieren. Als ich einmal mit verantwortlichen IT-Experten großer Industriefirmen in Sachen Cybersicherheit zusammenarbeitete, hatten diese größte Schwierigkeiten, sich einen Zeithorizont bis zum Jahr 2020 vorzustellen. Es gab heftigen Protest, es sei völlig unmöglich, sich in eine derart trügerische Zukunft zu versetzen (vier Jahre bedeuteten für sie Jahrhunderte).
Seit einigen Jahren arbeite ich über Quantencomputer, eine Technologie, die eine rasante Entwicklung erlebt und über die man viel Widersprüchliches hört. Auf der einen Seite gibt es Leute, die glauben, es handele sich um einen neuen Godot, der niemals kommen würde. Und auf der anderen Seite gibt es Wissenschaftler, die der festen Überzeugung sind, dass das schon morgen der Fall sein würde, dass ein solcher Quantencomputer in weniger als zehn Jahren zum Einsatz kommen könnte. In kürzester Zeit könnte uns also die Entwicklung des Quantencomputers in ungeahnte Dimensionen katapultieren, ausgestattet mit einer Rechenleistung, die sämtliche vermeintlich als sicher geltende Codes knacken und die Grundprinzipien der Sicherheit der Informationstechnologie auf den Kopf stellen kann. Nach einer ersten Sachverständigentagung im Berlaymont-Gebäude der Europäischen Kommission in Brüssel haben wir die Entscheidung gefällt, uns ernsthafter mit dieser Frage zu befassen. Ein sehr detaillierter, sechzehn Abschnitte umfassender Fragebogen (Software, Finanzierung, Stärken und Schwächen Europas, technische Anwendungen et cetera) wurde in der Folge an zweihundert Experten weltweit verschickt. Real-time Delphi, die Echtzeit-Delphi-Methode, ist eine Variante der konventionellen Delphi-Methode, ein Befragungsverfahren, das über eine freigeschaltete Plattform ermöglicht, dass alle an der Befragung beteiligten Fachleute die nach und nach eingehenden Antworten auf ihren Bildschirmen in Echtzeit einsehen und jeweils ihre eigenen Einschätzungen gegebenenfalls korrigieren können. Die erste Phase der Befragung war jetzt abgeschlossen und das Sichten der Ergebnisse im Gange, wir waren dabei, sie für unseren Schlussbericht zusammenzufassen.
Aber die Frage, der in letzter Zeit meine ganze Aufmerksamkeit galt, war die Blockchain. Die Blockchain ist in der Vorstellung der meisten Leute verbunden mit dem Bitcoin. Aber worum geht es wirklich? Die Blockchain ist eine Speichertechnologie, Äquivalent eines Buchführungsjournals – ein immenses anonymes und manipulationssicheres Register –, das die Historie sämtlicher zwischen den Nutzern jemals durchgeführter Transaktionen dokumentiert. Die Arbeit, einen neuen, gültigen Block zu erstellen, die darin besteht, als Erster eine komplexe mathematische Gleichung zu lösen, nennt man Mining, das Schürfen. Der Schwerpunkt in der Anwendung dieser Technologie und der bei weitem bekannteste sind bislang Zahlungssysteme, wie die in den vergangenen Jahren schnell wachsenden Kryptowährungen, weil diese Systeme absolutes Vertrauen schaffen und den Wert der jeweiligen Währung garantieren. Als der Bitcoin 2008 die Weltbühne betrat, geschah dies nicht auf spektakuläre Weise, sondern im Gegenteil bemerkenswert diskret. Die Identität seines Erfinders Satoshi Nakamato ist noch immer mysteriös. Der Name Satoshi Nakamato ist sicher ein Pseudonym, hinter dem sich eine oder mehrere Personen verbergen, möglicherweise sogar eine ganze Gruppe unsichtbarer Manipulatoren, seine wahre Identität bleibt weiterhin ein Rätsel. Aber außer für den Bitcoin kann die Blockchain eben auch in vielen anderen Geschäftsfeldern eingesetzt werden, und ich erhielt vor wenigen Monaten den Auftrag, einen Bericht über die zukünftigen Perspektiven der Blockchain für das Europäische Parlament zu verfassen. Eine erste Fassung dieses etwa fünfzig Seiten langen, in Englisch geschriebenen Berichts (Is blockchain technology our future?) schickte ich meinem Freund Peter Atkins, der ihn las und mir ein Dutzend Änderungen in Details vorschlug, die ich bei der Veröffentlichung berücksichtigt habe.
Im Herbst 2016 fand die öffentliche Vorstellung meines Berichts im Europäischen Parlament statt. Woraufhin ich von Lobbyisten angesprochen wurde. Es ist gut denkbar, dass dies ein normaler Vorgang ist, aber ich für meinen Teil wurde in den mehr als zehn Jahren meiner Tätigkeit in Brüssel (ich bin 2004 zur Europäischen Kommission gekommen) niemals auf eine derartige Weise angegangen. Natürlich trifft man im Laufe der Jahre auf den Straßen des Europaviertels häufiger auf einen Lobbyisten. Nichts in seiner Haltung oder Wortwahl unterscheidet den Lobbyisten von einem Europabeamten. Sie haben das gleiche Erscheinungsbild, haben dasselbe studiert, wissen genau, wie die Institutionen funktionieren. Wie alle anderen hier sprechen sie ein mehr oder weniger globalisiertes Englisch und teilen mit uns dieselben sprachlichen Gewohnheiten, eine für normale Menschen undurchsichtige, weil kodierte Sprache, die wie ursprünglich jeder Dialekt dazu dienen soll, eine klar umrissene Gruppe zu bilden und ihren Zusammenhalt zu festigen. Bei Lobbyisten – die sich gerne in aller Bescheidenheit als »Interessenvertreter« bezeichnen – handelt es sich nebenbei bemerkt häufig um frühere Kollegen, die in die Privatwirtschaft gewechselt sind, die gemäß dem hübschen Ausdruck »Drehtür-Effekt« den Sprung geschafft haben und aus dem paradiesischen Licht der Europäischen Kommission (die, wie jeder weiß, das Gemeinwohl schützt) in den mephistophelischen Schatten des Schutzes privater Interessen gewechselt sind. Lobbyisten üben unsichtbare Einflüsse aus. Sie stellen persönliche Verbindungen bis in höchste Kreise her, sie steuern unsichtbare Initiativen und handeln im Verborgenen, um für spätere Dossiers Vorteile zu schaffen, wenn nicht für die Privatinteressen, die sie vertreten, dann für das öffentliche Gemeinwohl, das sie in Ehren halten. In Brüssel gibt es dreißigtausend Lobbyisten, fast so viele wie in Washington, der Stadt mit der höchsten Anzahl weltweit, und sie sind verpflichtet, in der Ausübung ihrer Aufgaben bei jeder Gelegenheit und an jedem Ort zuvorkommend und höflich lächelnd aufzutreten (oder hat man jemals unsympathische Schwindler gesehen?).