Loe raamatut: «Das Grab in der Ville-Close», lehekülg 4

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„Das ist das einzige jüngere Bild von ihm. Es muss so ungefähr zwei Jahre vor seinem Verschwinden aufgenommen worden sein. Ich glaube, das hat seine damalige Freundin aufgenommen, die hat ihn aber kurz danach verlassen.“

Anaïk betrachtete das Foto eines jungen Mannes, der wenig Ähnlichkeit mit seinem Vater hatte, seine äußere Erscheinung betreffend. Der junge Mann machte einen sehr gepflegten Eindruck, seine Haare waren kurzgeschnitten, er trug einen kleinen Unterlippenbart und hatte eine Tätowierung auf dem linken Oberarm.“

„Wir müssten uns im Zimmer von Mewen umsehen, ist das möglich?“

„Wenn Sie glauben dort etwas zu finden, dann machen Sie das. Die Treppe hoch, das erste Zimmer auf der rechten Seite.“

Monique und Anaïk verließen das Wohnzimmer und gingen die Treppe nach oben. Mewens Zimmer schien seit seinem Verschwinden nicht verändert worden zu sein. Das Bett war nicht gemacht, Staub lag auf dem kleinen Schreibtisch, darauf ein aufgeklapptes Notebook. Während Monique sich im Zimmer umsah, versuchte Anaïk den Computer zu starten. Das Notebook war mit einem Passwort gesichert. Anaïk klappte es zu und nahm es an sich. Das ist eine Aufgabe für Robert. Robert Gallic war der Experte für Elektronik im Kommissariat.

Im Zimmer hing ein Poster einer Heavy Metal Band, die Anaïk unbekannt war, daneben hatte der junge Mann das Bild eines hübschen Mädchens geheftet. Vermutlich war es die Freundin, von der der Vater gerade gesprochen hatte. Anaïk nahm das Foto ab und steckte es ein. Danach gingen sie wieder hinunter zu Mewens Vater.

„Haben Sie recht herzlichen Dank für das Bild, Sie erhalten es nach unseren Ermittlungen zurück. Wir nehmen das Notebook von Mewen und ein Foto seiner ehemaligen Freundin mit.“ Damit verabschiedeten sich Anaïk und Monique von Monsieur Bolloc´h und verließen das Haus. Der Regen hatte inzwischen an Intensität nachgelassen. Anaïk stieg ins Auto und wartete, bis auch Monique die Tür geschlossen hatte.

„Ein seltsamer Mensch, etwas ungepflegt“, meinte Monique, zog den Sicherheitsgurt nach vorne und ließ ihn einrasten.

„Ungepflegt ist nett formuliert. Am Anfang schien er so derinteressiert, das hat sich im Laufe der Unterhaltung etwas geändert. Immerhin wissen wir jetzt, dass Mewen Bolloc´h einen Grund hatte in die Ville Close zu gehen. Er hat dort seinen Großvater besucht. Wir müssen uns mit dem Großvater unterhalten. Möglicherweise kann der uns weiterhelfen. Auch wenn er uns vielleicht nicht sagen wird, dass er an dem Bankraub vor 14 Jahren beteiligt gewesen ist.“

„Bestimmt nicht, Anaïk“, stimmte Monique zu.

„Nehmen wir doch mal an, der Großvater von Mewen ist an dem Überfall beteiligt gewesen, dann könnte es doch sein, dass er seinem Enkel das Versteck seines Anteils an der Beute verraten hat. Die Notiz, die Dustin gefunden hat, würde dazu passen.“

„Mewen Bolloc´h hat sich auf die Suche nach dem Geld gemacht und ist dabei von einem anderen Mann beobachtet worden“, ergänzte Monique Anaïks Überlegungen.

„Oder er hat einen Freund, Kollegen oder sonst einen Intimus über das Geld informiert und um Unterstützung bei der Aushebung des Verstecks gebeten, mit der Versicherung ihn zu beteiligen.“

„Der Angesprochene hat zugesagt, und als sie das Geld gefunden haben, hat er Mewen erschlagen um die Beute für sich zu haben?“

„So könnte es gewesen sein“, meinte Anaïk und startete den Motor.

Kapitel 9

Anaïk Bruel stellte den Dienstwagen auf dem Parkplatz gegenüber der Ville Close ab und machte sich mit Monique auf den Weg in die Altstadt. Die grauschwarze Wolkendecke war in den letzten Minuten aufgerissen und hatte der Sonne ein wenig Durchblick ermöglicht. Die Ville Close schien fast ausgestorben zu sein. Nur vereinzelt waren Fußgänger in der Rue Vauban zu sehen. Die Geschäfte der Altstadt waren teilweise geschlossen und verstärkten den tristen Eindruck, den die Gasse auf die beiden Kommissarinnen machte. Die kleine Résidence lag unmittelbar neben der Chapelle de l´Hôpital. Sie öffneten das Tor, das den Vorplatz des Hauses von der Rue Vauban trennte, und gingen die wenigen Meter bis zur Eingangstür. An der Haustür gab es keinen Klingelknopf oder Klopfer. Anaïk drückte die Klinke nach unten und war erstaunt, dass die Tür sich öffnete. Sie hatten kaum den Flur betreten als eine ältere Dame auf sie zukam und nach ihren Wünschen fragte.

„Hier im Haus soll ein Monsieur Heneg Bolloc´h wohnen? Wir sind von der police judiciaire aus Quimper. Mein Name ist Anaïk Bruel, das ist meine Kollegin, Monique Dupont.“

„Sie wollen zu Heneg? Er hat schon seit Langem keinen Besuch mehr erhalten. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihm, er wird sich freuen. Seine Wohnung liegt in der ersten Etage, leider haben wir keinen Aufzug. Heneg ist nicht mehr so gut zu Fuß, müssen Sie wissen. So kann er nicht so ohne Weiteres nach unten kommen.“

Anaïk und Monique folgten der Frau langsam nach oben. Sie war bestimmt weit über 70 Jahre alt. In einem schmalen Gang blieb die Frau vor einer Tür stehen, klopfte und trat ein ohne auf eine Antwort zu warten.

„Heneg, du hast Damenbesuch, der dich sprechen möchte.“

Heneg saß in einem Schaukelstuhl und sah aus dem Fenster, das zur Vorderseite des Hauses zeigte. Er hatte also gesehen, dass sie den Garten betreten hatten. Langsam, beinahe phlegmatisch drehte er sich um und sah Anaïk an.

„Sie wollen zu mir? Ich kenne Sie nicht. Hat Mewen Sie zu mir geschickt? Er ist schon so lange nicht mehr hier gewesen. Früher ist er regelmäßig einmal in der Woche gekommen.“

„Monsieur Bolloc´h, wir sind von der police judiciaire aus Quimper. Mewen hat uns nicht zu Ihnen geschickt, aber seinetwegen sind wir hier.“

„Hat der Junge etwas angestellt?“

„Nein, Monsieur Bolloc´h, er hat nichts angestellt. Wir haben eine traurige Nachricht für Sie. Ihr Enkelkind ist vor ungefähr eineinhalb Jahren ermordet worden.“

„Mewen? Ermordet? Das kann nicht sein. Wer ermordet einen so lieben und guten Jungen? Der hat doch niemandem etwas getan.“

„Genau das müssen wir herausfinden. Dafür benötigen wir ihre Hilfe.“

„Meine Hilfe? Wie soll ich Ihnen helfen. Ich sitze in meinem Schaukelstuhl und kann noch nicht einmal ohne fremde Hilfe nach unten gehen. Sogar das Essen bringt man mir ins Zimmer.“

„Sie können unsere Fragen beantworten, das würde uns schon helfen.“

„Dann fragen Sie mich“, antwortete Monsieur Bolloc´h. Er blickte jetzt viel wacher, seine ganze Aufmerksamkeit galt den Fragen.

„Wann haben Sie Mewen zum letzten Mal gesehen?“

„Das ist schon lange her, lassen Sie mich nachdenken.“ Er schloss die Augen und schien intensiv nachzudenken. Dann öffnete er die Augen wieder und sah die Dame an, die die beiden Kommissarinnen zu ihm begleitet hatte.

„Gwenaëlle, weißt du noch, wann wir den Besuch von der Bürgermeisterin Grosselle hatten, du weißt schon, die neue Abgeordnete in Paris. Damals war sie noch hier in der Mairie.“

„Oh ja, das weiß ich ganz genau, sie hat uns den Zuschuss gewährt, für die Ausbesserung der Dachschäden. Das war im letzten Jahr, im März. An den genauen Tag kann ich mich auch noch erinnern, es war der Geburtstag meiner Nichte, der 23.“

„Genau an dem Tag war Mewen zum letzten Mal bei mir. Da bin ich mir ganz sicher.“

„Das würde bedeuten, dass er Sie vor 19 Monaten zum letzten Mal besucht hat. Das passt zu unseren Ermittlungen. Hat sich bei seinem letzten Besuch etwas Spezielles ereignet?“

„Hm, nicht das ich wüsste“, sagte Monsieur Bolloc´h etwas unsicher.“

„Sie haben ihm nicht zufällig ein Geheimnis anvertraut oder ihm etwas sehr Wichtiges gesagt?“

„Ein Geheimnis? Was soll ich dem Jungen für ein Geheimnis mitteilen?“

„Monsieur Bolloc´h, wenn Sie ein Interesse daran haben, dass der Mörder ihres Enkels ins Gefängnis kommt, sollten Sie offen mit uns sprechen. Wir haben in Mewens Portemonnaie einen Zettel gefunden.“

Anaïk öffnete ihre Handtasche und nahm die mitgenommene Plastiktüte heraus. Dann trat sie näher an Monsieur Bolloc´h heran und hielt ihm die Notiz vors Gesicht.

„Bitte sehen Sie sich diese Notiz an.“

Heneg Bolloc´h blickte auf das Blatt.

„Ohne meine Brille kann ich leider nichts sehen. Warten Sie.“

Heneg Bolloc´h griff zur Fensterbank, auf der seine Brille mit den dicken Gläsern lag und setzte sie sich auf die Nase.

„So jetzt geht es besser“, sagte er und sah auf den Notizzettel, den Anaïk ihm immer noch hinhielt. Jetzt konnte er die Notiz lesen.

Ca. 160 Meter von dem Quai der Fähre. Markierung an Mauer, Kreuz im Stein, 60 – 80 cm tief, in Ölpapier eingepackt

Anaïk beobachtete ihn. Seine Augen hafteten an dem Zettel, er konnte den Blick nicht abwenden. Dann nickte er ein wenig mit dem Kopf. Heneg Bolloc´h nahm die Brille wieder ab und sah ihr in die Augen.

„Ja, das habe ich Mewen gesagt, und er hat sich das wohl aufgeschrieben. Sie können mich festnehmen und ins Gefängnis bringen. Ohne Mewen macht das alles sowieso keinen Sinn mehr.“

„Was meinen Sie, Monsieur Bolloc´h?“

Heneg Bolloc´h lehnte sich in seinem Schaukelstuhl zurück und begann leicht zu schaukeln.

„Ich bin 80 Jahre alt, mein Leben geht langsam dem Ende entgegen. Ob ich noch einige Zeit im Gefängnis sitze oder nicht spielt für mich keine Rolle mehr. Ich sage Ihnen jetzt alles was ich weiß, aber finden Sie den Mörder meines Enkels.

Es ist 2001 gewesen, ich war damals 65 Jahre alt und wieder einmal ziemlich abgebrannt. Sie müssen wissen, dass ich Schweißer gewesen bin auf der Werft in Lorient. Als dort die Aufträge ausgeblieben sind, weil die Reeder ihre neuen Schiffe lieber in Südkorea oder auf Taiwan geordert haben, habe ich von einem Tag auf den anderen meine Arbeit verloren. Ich hatte nicht vor meinem Sohn auf der Tasche zu liegen, der selber nicht viel verdient hat. Einige Jahre habe ich noch Arbeitslosengeld erhalten, danach eine mickrige Rente. Da traf es sich ganz gut, dass ich in einer Kneipe zwei Männer kennengelernt habe, die ihren Lebensunterhalt mit kleinen Einbrüchen und Überfällen finanzierten. Die hatten von einem Bankangestellten der BNP Paribas in Quimper erfahren, dass eine größere Lieferung Bargeld in der Bank erwartet wurde. Sie können sich vielleicht noch an die Einführung des Euro erinnern? Eine erste Lieferung der neuen Banknoten sollte also in der Bank eintreffen. Alles war streng geheim, niemand durfte davon etwas wissen. Die Beiden hatten von dem Angestellten der Bank den Tipp erhalten. Der Angestellte wollte 10% der Beute haben. Den Rest durften sie unter sich aufteilen. Die beiden Männer waren auf der Suche nach einem dritten Mann, der ihnen bei der Sache helfen würde. Sie hatten einen Plan ausgearbeitet und bereits Waffen besorgt. Ich habe nicht lange überlegt und ihnen meine Hilfe zugesagt. Wir haben die Bank überfallen. Bei dem Überfall hat einer meiner Komplizen einen Wachmann erschossen, gerade als sie die Bank mit der Beute verlassen wollten. Wir haben die Beute aufgeteilt und der Angestellte hat seine 10% erhalten. Danach habe ich die zwei aus den Augen verloren. Es war abgemacht, dass wir das Geld nicht sofort ausgeben. Mein Anteil waren 1,8 Millionen Euro. Ich habe mein Geld in der Ville Close vergraben. Ich hatte die Hoffnung, eines Tages in der Altstadt von Concarneau eine Wohnung kaufen zu können, damit wäre das Geld dann immer in meiner Nähe und ich könnte mir davon holen, falls ich welches brauchte. Ich habe mir nach einer gewissen Zeit von meinen 1,8 Millionen 300.000 genommen und mir für 200.000 Euro dieses kleine Studio hier gekauft. Die restliche Summe habe ich wieder an derselben Stelle vergraben.

Mein Sohn heiratete später und zog nach Beuzec Conq. Meine Frau starb mit 48 Jahren an Krebs. Für meinen Lebensunterhalt brauchte ich nicht viel, ich kam recht gut mit dem Geld von der Stütze aus. Wenn ich mir etwas Besonderes gönnen wollte, dann hatte ich immer noch das Geld von der Beute. Mein Geld nahm nur langsam ab. Monate nach der Einführung des Euro habe ich die mir verbliebene Summe von 100.000 Euro auf verschiedene Konten verteilt. Der Rest der Beute, es waren immerhin noch 1,5 Millionen Euro, blieb vergraben. Mewen hatte es in seinem kurzen Leben nicht einfach. Ich wollte ihm mit dem Geld einen Start in eine bessere Zukunft ermöglichen. Also habe ich ihm von dem Banküberfall erzählt und ihm genau beschrieben, wo er das Geld finden kann. Ich habe ihm gesagt, dass er nicht sofort die ganze Summe ausgeben soll, das würde auffallen. Er sollte immer nur so viel davon nehmen wie er unbedingt brauchte. Den Rest sollte er in einem sicheren Versteck verwahren. Ich habe ihm auch gesagt, dass er das Geld alleine und möglichst nach Mitternacht aus dem Versteck holen soll damit ihn niemand beobachtet. Die Ville Close ist nach Mitternacht menschenleer, da kann man in aller Ruhe graben. Ich kann mir vorstellen, dass er beim Ausgraben des Geldes überfallen worden ist. So, das ist meine Geschichte. Jetzt dürfen Sie mich verhaften und ins Gefängnis bringen.“

„Monsieur Bolloc´h, das ist nicht unsere Aufgabe. Wir werden die Information an das Raubdezernat weitergeben. Sie werden dann von unseren Kollegen hören. Ob Sie ins Gefängnis müssen wird ein Gericht entscheiden. Die Tat liegt zwar schon lange zurück, aber leider ist sie noch nicht verjährt.“

„Ich bin bereit, eine Strafe für meine Tat zu erhalten.“

Henan Bolloc´h hatte aufgehört zu schaukeln.

„Haben Sie etwas mit der Tötung des Wachmanns zu tun?“, fragte Anaïk.

„Nein, das habe ich nicht. Der Tod des Wachmanns ist aufgeklärt worden. Mein damaliger Komplize hat die Tat gestanden. Mich haben die beiden, die gefasst worden sind, weil sie zu viel von dem Geld ausgegeben haben, nie verpfiffen. Ganovenehre, Sie wissen schon!“ Henan zwinkerte mit dem rechten Auge.

„Dann bedanken wir uns für das Gespräch, Monsieur Bolloc´h“, sagte Anaïk und stand auf. Auch Monique, die während der ganzen Zeit zugehört hatte, erhob sich. Die Kommissarinnen verabschiedeten sich von dem alten Mann. Henan Bolloc´h lehnte sich in seinem Schaukelstuhl zurück und nickte ihnen zu. Wären sie länger geblieben, so hätten sie zusehen können, wie der Mann innerlich zusammenbrach. Mewen war seine Hoffnung gewesen, die letzten Jahre seines Lebens nicht alleine verbringen zu müssen. Diese Hoffnung war in den letzten Minuten erloschen.

Kapitel 10

Das Wetter hatte ein Einsehen mit den beiden Kommissarinnen. Ein wolkenloser, strahlend blauer Himmel empfing sie beim Verlassen der Récidence Vauban. Sie verließen die Ville Close durch die Rue Vauban, die zwar immer noch recht spärlich besucht war, aber immerhin hatten einige Geschäfte ihre Kleiderständer bereits wieder vor die Türen gestellt.

„Das Gespräch mit Bolloc´h hat sich gelohnt. Jetzt wissen wir definitiv, dass in dem Grab eine Menge Geld gewesen ist. Das könnte das Motiv für den Mord sein. Dann suchen wir also einen Raubmörder“, meinte Monique als sie durch die Gasse zum Ausgang der Altstadt gingen.

„Das Motiv für den Mord wird das Geld gewesen sein. Da stimme ich dir zu. Und wie finden wir den Täter? Immerhin liegt die Tat mindestens 19 Monate zurück. Wir haben bis jetzt keinerlei DNA oder Fingerabdrücke des Mörders gefunden, wir haben keine Zeugen, keine Hinweise, wo sollen wir suchen?“

„Vielleicht gibt es doch einen Hinweis“, meinte Monique und sah Anaïk verschmitzt an.“

„Was meinst du?“

„Lass uns herausfinden, ob die Banknoten für die Bargeldlieferung registriert worden sind. Wenn das der Fall ist, könnten wir gezielt nach Euroscheinen suchen, die in den letzten Monaten aus der Beute in Umlauf gebracht worden sind.“

„Das ist eine gute Idee. Auf einen Versuch können wir es ja ankommen lassen.“

Die Fahrt zurück nach Quimper war deutlich angenehmer als die Hinfahrt. Am Rande der Voie Express erglänzte jetzt im Sonnenschein ein dunkelrotes Buchweizenfeld, das herrlich mit dem Grün des Nadelwaldes und dem Blau des Himmels kontrastierte. Das war das Wetter in der Bretagne. Es konnte so schnell wie Ebbe und Flut wechseln.

Als sie vor dem Kommissariat eintrafen stand ein Citroën DS auf Anaïks Parkplatz. Sie unterdrückte ein leises Fluchen und den Ärger, dass ihr reservierter Parkplatz besetzt war und stellte den Dienstwagen auf einen freien Stellplatz, etwas weiter entfernt.

„Wer steht denn auf deinem Parkplatz?“, fragte Monique und stieg aus.

„Bestimmt irgendein Besucher des Kommissariats, der nicht gelesen hat, dass der Platz reserviert ist. Wenn er länger hier stehen bleibt, lassen wir ihn abschleppen.“

Der Polizist am Eingang grüßte freundlich und ließ die beiden Kommissarinnen ohne Kontrolle ins Gebäude.

„Eigentlich könnte die Wache auch auf die Parkplätze achten“, meinte Anaïk. Sie stiegen die Treppe in die zweite Etage hoch.

Anaïk betrat ihr Büro und staunte, einen ihr völlig unbekannten Mann vor der Pinnwand stehen zu sehen, der sich in aller Ruhe die Eintragungen und Fotos ansah.

„Wären Sie so freundlich und erklären mir, was Sie in meinem Büro suchen?“ Anaïk war noch von der Besetzung ihres Parkplatzes verärgert und jetzt das ungenierte Verhalten dieses Fremden in ihrem Büro. Wie konnte ein Mann einfach so das Kommissariat betreten, vorbei am Wachpersonal und sich frei im Haus bewegen?

„Oh, verzeihen Sie, Madame, ich darf mich Ihnen vorstellen. Kerber, Ewen Kerber, ich habe, zugegebenermaßen ohne Genehmigung, ihr Büro betreten. Es ist über viele Jahre mein Büro gewesen. Der kriminalistische Instinkt hat mich beim Eintreten sofort zur Pinnwand geführt. Viele Jahre lang habe ich davorgestanden.“

„Monsieur Kerber? Mein Name ist Anaïk Bruel, ich habe ihre Nachfolge angetreten, es freut mich Sie zu sehen. Ich habe Sie einmal in der Klinik gesehen als Sie angeschossen worden waren. Später habe ich nur mit Ihnen telefoniert. Ich habe Sie heute nicht wiedererkannt. Es ist mir eine Ehre, dass Sie mich hier im Kommissariat besuchen. Dann ist es wohl ihr Wagen, der auf dem Stellplatz des Leiters der Mordkommission steht?“

Ewen griff sich an die Stirn und nickte.

„Aus alter Gewohnheit, bitte verzeihen Sie, dass ich ihren Stellplatz belagere. Yannick hat mich angerufen und mir von einem längst vergangenen Fall erzählt. Er hat berichtet, dass Sie einen aktuellen Fall bearbeiten, der mit dem alten wohl in Verbindung steht. Da ich gerade in der Stadt gewesen bin, bin ich einfach schnell vorbeigekommen. Vielleicht kann ich ja doch noch nützlich sein.“

„Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich glaube, dass Sie uns nicht weiterhelfen können. Es geht nicht unbedingt um den alten Fall, obwohl wir gerade mit einem der drei beteiligten Männer gesprochen haben. Der Enkel eines der damals verdächtigten Männer ist bei Ausbesserungsarbeiten in der Ville Close tot aufgefunden worden. Der junge Mann ist vor ungefähr 19 Monaten ermordet und in der Ville Close verscharrt worden. So wie es aussieht, hat der Großvater unserem Opfer, seinem Enkel, das Versteck seines Anteils der Beute verraten. Damals sind 6 Millionen Euro gestohlenen worden.“

„Also 2 Millionen Euro? Konnten Sie das Geld beschlagnahmen?“

„Nein, das Geld hat unser Mörder wohl mitgenommen. Der Enkel von Monsieur Bolloc´h muss bei der Ausgrabung des Geldes ermordet worden sein. Es handelt sich übrigens nur um 1,5 Millionen. Ein Bankangestellter, der den Verbrechern den Tipp gegeben hat, hat 10% der Beute erhalten. Das hat uns Monsieur Heneg Bolloc´h gerade erzählt. Die restlichen 5,4 Millionen sind geteilt worden. Bolloc´h hat von seinem Anteil im Laufe der letzten Jahre 300.000 Euro ausgegeben. Das heißt, im Versteck lagen noch 1,5 Millionen Euro.“

„Ich kann mich noch sehr genau an den Fall erinnern. Damals ist ein Wachmann erschossen worden. Wir haben den Schützen eindeutig überführen können, und er hat seine gerechte Strafe erhalten. Monsieur Bolloc´h ist damals auch vernommen worden, aber wir haben ihm keine Beteiligung nachweisen können, und die beiden anderen haben geschwiegen. Mit dem Tod des Wachmanns hatte er definitiv nichts zu tun. Jetzt ist sein Enkel ermordet worden, sagen Sie?“

„Genau, jetzt haben wir die Leiche seines Enkels gefunden. Das Geld ist verschwunden. Wir hoffen, über das Geld unseren Täter finden zu können.“

„Ja, ja“, sagte Ewen und dachte nach.

„Über das Geld könnte man den Täter vielleicht finden“, meinte er dann.

„Das haben wir uns auf der Fahrt von Concarneau ins Kommissariat auch überlegt. Vorausgesetzt, die Banknoten sind registriert gewesen.“

„An eine Registrierung der Banknoten habe ich jetzt nicht gedacht. Eher habe ich an eine Information aus dem Verbrechermilieu gedacht. Wenn der Täter auch entsprechend jung gewesen ist, wird er wahrscheinlich nicht sehr besonnen gehandelt haben. Er hat sein Geld ausgeben wollen. Teure Autos kaufen, den Frauen imponieren und was es sonst noch so alles gibt. Vielleicht findet sich jemand im Milieu, der im letzten Jahr von einem, nennen wir ihn neureichen, jungen Burschen gehört hat, der auf großem Fuß lebt. Aber auf diese Idee sind Sie bestimmt auch schon gekommen. Ich möchte mich nicht in die Ermittlungen einmischen.“

„Wenn ich ehrlich bin, muss ich das verneinen. Ans Milieu habe ich bis jetzt nicht gedacht. Ich besitze noch nicht so viele Kontakte zur Szene von Quimper oder Concarneau.“

„Das hatte ich am Anfang auch nicht, Madame Bruel. Aber die Kollegen vom Rauschgift- oder aus dem Einbruchsdezernat haben gute Kontakte. Fragen Sie bei den Kollegen einfach mal nach.“

„Danke für den Tipp, ich werde mich darum kümmern.“

Anaïk unterhielt sich noch eine ganze Weile mit Kerber, fragte ihn nach seiner begonnenen Tätigkeit als Autor von Kriminalromanen und nach seinen sonstigen Beschäftigungen. Danach erkundigte sie sich nach seiner Frau Carla, die Anaïk im Krankenhaus kennengelernt hatte und bat ihn, ihr liebe Grüße mitzunehmen.

„Kommen Sie doch einfach demnächst zum Essen zu uns, meine Frau freut sich bestimmt“, meinte Ewen und verabschiedete sich von Anaïk.

„Die Einladung nehme ich gerne an. Ich melde mich bei Ihnen, dann können wir etwas ausmachen.“

Ewen Kerber verließ das Kommissariat. Zielstrebig ging er zu dem reservierten Parkplatz des Leiters der Mordkommission. Es fiel ihm immer noch ein bisschen schwer zu realisieren, dass diese Ära seines Lebens vorbei war. Er schloss die Wagentür auf, setzte sich in seinen Wagen und verließ das Kommissariat von Quimper, sein Kommissariat.

Tasuta katkend on lõppenud.

Žanrid ja sildid
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