Loe raamatut: «Guten Morgen, Mitternacht»
Jean Rhys
Guten Morgen, Mitternacht
Roman
Aus dem Englischen von Grete Felten
Mit einem Vorwort von Leslie Jamison
Kampa
Schmerz bleibt nie allein
Vorwort von Leslie Jamison
Als ich Guten Morgen, Mitternacht zum ersten Mal las, war ich zweiundzwanzig und vollauf damit beschäftigt, ein innerlich wildbewegtes Leben zu führen: Liebesaffären, die zum Scheitern verurteilt waren, hochfahrende Ambitionen, unermessliche Traurigkeit. Niemand hat unermessliche Traurigkeit besser eingefangen als Jean Rhys, und keines ihrer Bücher zeigt sie so ungeschminkt wie Guten Morgen, Mitternacht – die Geschichte einer Frau, die sich in einem billigen Hotelzimmer beinahe zu Tode trinkt. Als ich das erste Mal die Anfangsszene las, in der Sasha, die Hauptfigur, von einer Fremden getadelt wird, weil sie in einer Bar weint (»Ich bin manchmal genauso unglücklich wie Sie. Aber das heißt nicht, dass ich es alle Leute merken lasse«), wusste ich, zu wessen Team ich gehörte: Team Sasha, Team Rhys, Team Betrunken-in-der-Öffentlichkeit-Weinen.
Der Ausgangspunkt von Guten Morgen, Mitternacht ist schlicht: Sasha streift durch Paris, betrinkt sich, wird gefühlsduselig. (Meist führt Ersteres zu Letzterem, aber es funktioniert auch andersherum.) Sashas Jugend und Schönheit sind Bitterkeit und Geistern gewichen – den Geistern verflossener Liebhaber, Geistern zuversichtlicherer Versionen ihrer selbst und dem Geist ihres Sohnes, der mit fünf Wochen starb. Die verstörendsten Passagen beschwören diesen verlorenen Sohn herauf: der Muttermilchersatz, den er zu trinken bekommt, weil sie ihn nicht stillen kann; die Karte an seinem kalten Handgelenk; wie eine Krankenschwester nach der Niederkunft Sashas Körper in Bandagen wickelt, damit ihre Haut »nicht die geringste Spur, nicht die geringste Runzel, nicht die geringste Falte« davonträgt. Diese Details fahren wie Klingen durch den Nebel ihrer Erinnerung; und tatsächlich beschreibt der Roman auch die Art und Weise, wie unser Bewusstsein nie nur im gegenwärtigen Moment verweilt, sondern immer auch in der Vergangenheit. Alles geht ineinander über. Alles ist jetzt.
Dieses Verschwimmen von Vergangenheit und Gegenwart hat viel mit dem Trinken zu tun. Der Großteil der Geschichte hat mit dem Trinken zu tun. »Und wenn ich dann ein paar Gläser getrunken habe«, gesteht Sasha, »werde ich nicht wissen, ob es gestern, heute oder morgen ist.« Das Moment der Durchlässigkeit ist beinahe omnipräsent: das Ineinanderfließen von Vergangenheit und Gegenwart, von Tragischem und Absurdem, von einem sich vorankämpfenden Selbst und einem Selbst, das auseinanderfällt. »Man erklärt solche Charaktere immer damit, dass man sagt, ihre Gedankenwelt sei wie durch Schotten aufgeteilt – alles wasserdicht voneinander getrennt –, aber mir ist das nie so vorgekommen«, sinniert Sasha. »Alles wirbelt durcheinander wie das Bilgenwasser im Laderaum eines Schiffes, alles wird in demselben Raum durcheinandergespült.« Und auch die zahlreichen Ellipsen wecken das Gefühl eines in Auflösung begriffenen Bewusstseins, das ständig in die Vergangenheit abdriftet, in die Verzweiflung, den trunkenen Blackout, die endlose Schwärze.
Gefangen in diesem immerwährenden »Durcheinanderspülen« aus Vergangenheit und Gegenwart, verläuft der Plot nicht bogenförmig, sondern beschreibt vielmehr einen sich ausbreitenden Wirbel: Sasha weint in einer Bar. Sie weint in einer anderen Bar. Sie weint bei der Arbeit. Sie kauft einen Hut. Sie trifft einen optimistischen Russen. Sie trifft einen Gigolo. Sie denkt an ihren Ehemann. Sie nimmt den Gigolo mit nach Hause. Sie wirft den Gigolo raus. Sie kauft einen Drink, schenkt sich einen ein, lässt sich einen ausgeben – und dann noch einen und noch einen und noch einen. Der Mangel an Handlung ist keine strukturelle Schwäche des Romans, sondern verweist auf seinen Kern. Um die Traurigkeit abzustreifen, versucht Sasha, ihren Tagen Struktur zu geben, aber ihre selbstmörderische Verzweiflung gründet in der Tatsache, dass sie an etwas wie einen »Lebensplot« längst nicht mehr glaubt. Der Alkohol liefert ihr vorübergehend ein Narrativ (die Suche nach dem nächsten Drink), aber er verhindert eine langfristige narrative Entwicklung und verflacht die Tage und Nächte zu endloser Monotonie. Sasha glaubt nicht mehr daran, dass sich Erfahrung in bedeutsamen – geschweige denn erlösenden – Bögen fassen lässt. »Hier ist dies passiert, hier ist das passiert …«, sagt Sasha. »Und dann kamen die Tage, da ich allein war.«
Als ich Guten Morgen, Mitternacht zum ersten Mal las, war ich an einem Punkt in meinem Leben angelangt, an dem ich in einem kargen Zimmer auf einem Futon schlief, jeden Morgen geweckt von gnadenlosen Sonnenstrahlen, die durch die vorhanglosen Fenster fielen. Noch vor der ersten Tasse Kaffee rauchte ich fünf oder sechs Zigaretten. Von drei Uhr nachmittags bis elf Uhr abends arbeitete ich in einem Hotel, checkte Gäste in Luxussuiten ein und klaute anschließend billigen Weißwein, um ihn mit in meine kleine Höhle zu nehmen. Zurück auf meinem Futon trank ich den zimmerwarmen Chardonnay direkt aus der Flasche und sah mir dabei Filme auf meinem Laptop an, der eifrig und fiebrig surrte und mir die Oberschenkel versengte, während ich zu einer Pfütze aus betrunkenem Stumpfsinn und filmischer Phantastereien zerfloss. Nicht gerade das romantische Elend aus Rhys’ Roman – abblätternde Tapete und krabbelnde Kakerlaken in einem Hotelzimmer nahe der Gare du Nord –, aber zumindest eine Annäherung: eine entfernte Cousine mit dem gleichen Gefühlsstammbaum. Verzweiflung nach dem Vorbild Rhys’schen Verwundetseins.
Die Freundin, die mir Guten Morgen, Mitternacht geschenkt und versprochen hatte, das Buch sei anders als alles, was ich bisher gelesen hätte, wirkte selbst wie eine Figur aus einem Rhys-Roman: Sie lebte in einer schäbigen Einzimmerwohnung in der Lower East Side, wo ihre Kaffeekanne voller Zigarettenstummel einmal Feuer gefangen hatte: ein schwelender Haufen all der einsamen Nächte, in denen sie ihre Lungen mit Rauch gefüllt hatte. Sie hatte der Maus einen Namen gegeben, die – wie eine Mitbewohnerin – in den staubigen Ecken ihres Apartments hauste.
Die Ausgabe von Guten Morgen, Mitternacht, die sie mir gab, enthielt Bilder von Brassaï, einem ungarischen Fotografen, der während der wilden Zwanziger in Paris gelebt hatte; das Cover zeigte ein turtelndes Paar in der Nische eines Cafés, auf dem Tisch: Kaffeetassen und ein voller Aschenbecher. Jean Rhys’ Name war lippenstiftrot, als hätte sie ihn selbst auf eine Serviette geschrieben, und die Fotos suggerierten Heiterkeit und Melancholie. Das Coverfoto war ebenso irreführend wie passend: Zwar lachen Rhys’ Protagonistinnen tatsächlich hin und wieder in solchen Nischen, allerdings sitzen sie am Ende des Abends fast immer ein paar Nischen weiter – allein, betrunken und verbittert – und schwelgen in Erinnerungen daran, wie es sich einmal angefühlt hat zu lachen.
Gegen Ende von Guten Morgen, Mitternacht, erinnert sich Sasha, wie sie, frisch verheiratet und hoffnungsfroh, die Amsterdamer Kanäle entlangspazierte und Bilder im Rijksmuseum betrachtete, überzeugt, dass ihr eine Zukunft voller Möglichkeiten offenstand. Der Roman beschwört die Überbleibsel dieser Hoffnung im Präsens, als wäre sie noch nicht erloschen:
Ich bin in Hochstimmung. Alles ist glatt, sanft und zart. Die Liebe. Die Farben der Bilder. Die Sonnenuntergänge. Zarte, nördliche Farben, wenn die Sonne untergeht – Hellrosa, Mauve, Grün und Blau. Und der Wind sehr frisch und kalt, und die Lichter in den Kanälen wie goldene Raupen, und die Möwen stoßen aufs Wasser herab. Hochstimmung. Alles zart und melancholisch – wie das Leben manchmal ist, gerade nur einen Augenblick lang … Und wenn wir erst in Paris sind; wenn – wir – erst – in – Paris – sind …
Sie denkt an die Zukunft: »Mein wunderschönes Leben vor mir, es entfaltet sich wie ein Fächer in meiner Hand …« Aber wir Leser wissen, was Paris für sie sein wird: die Aneinanderreihung trunkener Abende, die in endloser Monotonie ineinanderfließen; nicht die kursiv gesetzten Tagträume von Wenn wir erst in Paris sind, sondern die Erinnerung an einen toten Sohn, einen Ehemann, an Ex-Liebhaber.
Und was war ich? Eine Zwanzigjährige, die in ihrer Phantasie als Vierzigjährige auf ihre verlorene Jugend zurückblickte? Guten Morgen, Mitternacht übte eine große Anziehung auf mich aus, aber nicht weil es meine Sehnsüchte erfüllte, sondern weil es auf weit komplexere Art befriedigend war: Ein kleiner Teil von mir – der sich immer fremd, verschmäht und allein gefühlt hatte – erhielt Aufmerksamkeit, einen dunklen Glanz, obsiegte.
Als Sasha in eine Buchhandlung geht, verlangt sie ein »dickes, stilles Buch über Leute mit viel Geld – ein Buch wie eine weite grüne Wiese mit Schafen, die auf ihr weiden«. Ein bezeichnender Moment, weil dieser Roman das komplette Gegenteil ist. Guten Morgen, Mitternacht ist keine Wiese mit Schafen, sondern ein Kühlraum für Hammelfleisch: oben im Nobelrestaurant pulsiert und funkelt das Leben, unten im Keller hängt totes Fleisch an Haken. Der Roman fußt auf der Erkenntnis, zu der Sasha gelangt, als das Scheitern ihrer ersten Ehe ersichtlich wird: »diesen Ausdruck in den Augen, den man bekommt, wenn man sehr erschöpft ist, wenn alles wie ein Traum ist und man plötzlich begreift, wie sehr sich die Wirklichkeit von dem unterscheidet, was die Leute einem weismachen wollen.« Guten Morgen, Mitternacht zeigt die ungeschminkte Wahrheit. Als ich den Roman zum ersten Mal las, war auch ich davon überzeugt, dass die Wahrheit finster und zerrüttet war. Der Roman schien dreierlei gleichzusetzen: Traurigkeit, Intensität und Tiefsinn – und ich war all in.
Außerdem überzeugte mich die Darstellung der Feinmechanik des Sich-Betrinkens: Sashas Sehnsucht nach den Zeiten, als eine halbe Flasche Wein noch reichte, um sie »fröhlich« zu stimmen, ihre Neigung, auf leeren Magen zu trinken. Wir sehen Sasha kaum essen. Nur trinken. »Essen? Ich will jetzt nichts essen«, sagt sie. »Ich will noch dieses Gefühl auskosten – Feuer und Flügel.« Amen, dachte ich. Damals ließ ich oft das Abendessen aus. Es vertrug sich einfach nicht mit dem weit wichtigeren Unterfangen, mich zu betrinken. Wenn ich an jene Abende zurückdenke – an die Arbeit im Hotel und die Stunden danach – erinnere ich mich vor allem an das Gluckern des Weißweins in meinem schmerzenden leeren Magen. (Alles wirbelt durcheinander wie das Bilgenwasser im Laderaum eines Schiffes …) Ich wollte nicht essen, genauso wenig wie ich ein Buch über weidende Schafe lesen wollte. Ich wollte mehr von diesem Gefühl. Mehr Gefühl, Punkt. Feuer und Flügel.
Als ich Guten Morgen, Mitternacht zum zweiten Mal las, war ich fast dreißig und gerade trocken. Der Roman widerte mich an. Ich verabscheute alles, was Sasha verkörperte: ihre tränenselige Passivität, ihre krankhafte Hoffnungslosigkeit. Sie triefte nicht nur vor Selbstmitleid, sondern wirkte auch noch selbstgerecht – in der Überzeugung, dass ihre Verzweiflung wahrhaftiger sei als die vermeintliche Freude und Geschäftigkeit, hinter der sich andere Leute versteckten: … und man plötzlich begreift, wie sehr sich die Wirklichkeit von dem unterscheidet, was die Leute einem weismachen wollen. Beim ersten Lesen hatte ich in diesen Zeilen die Kraft eines Wahrheitsserums gespürt. Jetzt sah ich nur noch Narzissmus, als glaubte Sasha, sie wäre der einzige Mensch, der je lähmende Traurigkeit gekannt hatte.
In einem kleinen tabac in der Nähe des Panthéon, wo sie sich als allein trinkende Frau unwohl fühlt, rechtfertigt sich Sasha gegenüber der Welt: »Ich gebe mir solche Mühe, wie Sie zu sein. Ich weiß, dass ich’s nicht schaffe, aber sehen Sie doch nur, welche Mühe ich mir gebe … Jedes Wort, das ich spreche, trägt Ketten um die Knöchel; jeder Gedanke, den ich denke, ist mit schweren Gewichten belastet. Trägt nicht schon seit meiner Geburt jedes Wort, das ich sage, jeder Gedanke, den ich denke, alles, was ich tue, Fesseln, Gewichte, Ketten?« Ach, komm schon, dachte ich. Als wärst du die Einzige! Anscheinend konnte Sasha das »Sie«, die anderen, nur als einen Haufen unbelasteter Seelen wahrnehmen; als wäre sie blind dafür, dass auch die ihr Päckchen zu tragen hatten.
Meine Abneigung hatte eine zerstörerische Kraft. Aber sie stank nach Übertreibung – oder in den Worten von Hamlets Mutter: »Die Dame, wie mich dünkt, gelobt zu viel.« Ich zeigte dem Roman die kalte Schulter wie einem abgelegten Liebhaber. Zwar identifizierte ich mich noch immer mit Sasha, aber ich verabscheute die Eigenschaft, die wir teilten: Traurigkeit als unverrückbares Glaubenssystem. Inzwischen sträubte ich mich gegen die Gleichsetzung von Traurigkeit und Intensität, die ich im Roman entdeckt hatte. Die Entziehungskur hatte mich gelehrt, dass Intensität auch andere Quellen haben kann. Ich war inzwischen fest davon überzeugt, dass sich Tiefsinn nicht allein aus Verzweiflung und Dysfunktion speist, sondern dass es ebenso bedeutsam, ja wahrhaftig sein kann, einen jeden neuen Tag zu bewältigen, anderen beizustehen und zu erkennen, dass auch sie manchmal unvorstellbare Lasten mit sich herumschleppen.
Die Freundin, die mir acht Jahre zuvor meine erste Ausgabe von Guten Morgen, Mitternacht geschenkt hatte, schrieb längst nicht mehr autobiographische Kurzgeschichten, deren Erzählerinnen von herzlosen Männern besessen waren. (Seien wir ehrlich, solche Geschichten hatte ich auch geschrieben.) Sie hatte als Gewerkschaftsfunktionärin gearbeitet, dann als Journalistin, die über Lohndumping und Arbeiterproteste berichtete. In ihrer Berufswahl sah ich eine Art »Fuck you« an Jean Rhys und alles, wofür ihre Figuren standen, eine radikale Abkehr von der Sorte Frau, die durch Paris zieht und sich in ihrem Schmerz suhlt. Selbst eine von Rhys’ Biographinnen nannte sie eine der größten Selbstmitleidskünstlerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts, und ich war geneigt, ihr beizupflichten.
So stark war mein Sasha-/Selbsthass, dass ich fast froh war über die erniedrigende letzte Szene des Romans, in der Sasha einen widerlichen Mann in weißem Morgenrock in ihr Bett lässt. Damit ergibt sie sich zuletzt endgültig der männlichen Gefühlskälte, ihren eigenen Geistern, der Anonymität einer herzlosen, unerbittlichen Welt. Ich hatte den Teil meines Selbst vor Augen, der Männer in meinem Bett geduldet hatte – in verschiedenen Betten, in verschiedenen Städten, in verschiedenen Stadien trunkener Traurigkeit –, obwohl ich sie dort gar nicht haben wollte. Ich wollte nichts mit dieser jungen Frau in diesen Betten mit diesen Männern zu tun haben. Ich dachte, dass ich sie vielleicht austreiben könnte, wenn ich mir gestattete, Jean Rhys’ Protagonistin ein bisschen zu hassen. Ein unschöner Teil von mir wünschte sich Sashas Bestrafung. Wofür? Für das Verbrechen, traurig zu sein? Für das Verbrechen, dass sie sich das Recht herausnimmt, andere zu verletzen, weil sie selbst verletzt wurde? War ich zu der Frau zu Beginn des Romans geworden, die Sasha für die Zurschaustellung ihrer Traurigkeit rügt?
Am meisten ging mir Sashas hartnäckige Passivität gegenüber ihrem Gefühlsleben gegen den Strich. Als sie einen Russen kennenlernt, der ihr nahelegt, neue Freunde zu finden, um ihre Traurigkeit abzuschütteln (»Dann sind Sie nie mehr allein und viel glücklicher, Sie werden sehen«), macht sich Sasha insgeheim über ihn lustig: »Das klingt ziemlich einfach. Ich muss es probieren, wenn ich wieder nach London komme.« Auch der Roman scheint sich über ihn lustig zu machen, genau wie ich bei meiner ersten Lektüre: Als ob neue Freunde ihrer existenziellen Verzweiflung ein Ende setzen könnten! Eine völlige Fehleinschätzung von Sasha, von Freundschaft, von traurigen Frauen auf der ganzen Welt!
Aber beim zweiten Lesen meinte ich, den Russen in Schutz nehmen zu müssen. Vielleicht sollte Sasha tatsächlich neue Freunde finden. Vielleicht war ihre Ablehnung solch gewöhnlicher Lösungen reine Arroganz.
Als der Gigolo sie fragt, wovor sie Angst habe, sagt sie unverblümt: »Ich habe sehr große Angst vor der ganzen verdammten menschlichen Rasse …«, aber innerlich antwortet sie mit einer träumerischen Vision: »Du gehst friedlich eine Straße entlang«, denkt sie. »Du stolperst. Du fällst in die Dunkelheit. Das ist die Vergangenheit – oder vielleicht auch die Zukunft. Und du weißt, es gibt keine Vergangenheit, keine Zukunft, es gibt nur diese Dunkelheit, die sich kaum merklich langsam verändert und doch immer dieselbe bleibt.« Bevor ich vom Alkohol loskam, glaubte ich an ein inneres Leben, das dieser Vision sehr ähnlich war: Gefühle passieren. Sie befördern dich mit einem Tritt in den Gully. Du fällst in die Dunkelheit. Dagegen kann man nichts tun, außer eine Existenz aus Täuschung und Lügen aufzubauen: Ich bin noch auf der Straße; nein, wirklich, das bin ich! Sonst müsste man die Wahrheit zugeben: Es gibt keine Hoffnung. Ich bin gefallen.
Aber während der Wiedereingliederung sagten die Leute: »Gefühle sind keine Tatsachen.« Sie sagten: »Ein Tag nach dem anderen.« Sie setzten auf schlichte Überlebensmechanismen. Sie waren überzeugt, dass man sich entscheiden könne – dafür, für Freunde und Familie da zu sein, bei der Arbeit zu erscheinen, sich seiner Verantwortung zu stellen, den Nachwehen seiner Leidenschaften und seinen Fehlern – und dass diese Entscheidungen sich irgendwie auf die Dunkelheit auswirken. Ich glaubte nicht mehr an die Dunkelheit als einzige Wahrheit. Ich glaubte auch an andere Wahrheiten: Man konnte zurück auf die Straße klettern und weiterlaufen.
Als ich Guten Morgen, Mitternacht zum dritten Mal las, war ich fünfunddreißig und quetschte die Lektüre in ergaunerte Zeitfenster: auf meinem morgendlichen Weg zur Arbeit in einer überfüllten Subway, wo ich mit einer Hand die Seiten umblätterte und mich mit der anderen an die kalte Haltestange der Linie 3 nach Harlem klammerte; oder schnell noch ein Kapitel fertig lesend, bevor ich meine kleine Tochter vom Babysitter abholte, damit wir den ganzen Nachmittag geröstete Süßkartoffeln essen und Bilderbücher über sprechende Bären anschauen konnten. Kurz: Beim dritten Mal gab es etwas mehr Kontext.
Auch Kontext zu Jean Rhys. Ich hatte eine 735 Seiten schwere Biographie gelesen, deren Autorin über weite Strecken von Rhys genervt wirkte. »Jeans Leben schien aus ein paar wenigen Szenen zu bestehen, die sich immer und immer wieder zutrugen«, schreibt die Biographin – übrigens eine recht treffende Beschreibung des Plots von Guten Morgen, Mitternacht. Ich hatte noch eine (etwas kürzere) Biographie gelesen, deren Verfasserin das regelrecht krampfhafte Bedürfnis zu haben schien, Rhys in Schutz zu nehmen: »Selbstmitleid sehe ich nicht bei ihr, weder in ihrem Werk noch in ihrem Leben.« (Wirklich?) Ich war im Rhys-Archiv der University of Tulsa gewesen, wo ich mir eine zerkratzte Aufnahme anhörte, auf der Rhys mit ihrer schwermütigen, kehligen Stimme die kreolischen Lieder ihrer Jugend singt, und die Notizen sichtete, die eine ihrer Pflegerinnen in den letzten Jahren von Rhys’ sehr langem Leben pflichtbewusst gemacht hatte: wie man sie vom übermäßigen Trinken abhalten könne, ohne sie zu verärgern (mehr Eiswürfel), und wie man sie am besten von Schwermut und Trübsal ablenkte, wenn sie wieder einmal darin versank.
Und es gab den Kontext meines eigenen gereifteren Lebens – nicht nur die Jahre des Trinkens und Trockenwerdens, von den nüchternen Tagen voll Verbitterung und Selbstgerechtigkeit bis zu den Phasen von Demut und Dankbarkeit, nicht nur meine passive Einstellung zu Gefühlen oder meine aktive, sondern die Einsicht, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen lag. Man konnte dem Rat des Russen folgen, aber es half nicht unbedingt. Man konnte von der Straße in die Dunkelheit fallen, und man konnte wieder hochklettern, aber möglicherweise fiel man erneut hinab. Ich hatte mich selbst bemitleidet, während ich betrunken war. Und ich hatte mich selbst bemitleidet, während ich nüchtern war. Ich war egoistisch und ich war freigiebig gewesen. Die für mich einzig gültige Wahrheit war die Tatsache, dass die Dinge letztlich immer vertrackter waren als in der Vorstellung.
Jetzt, als Mutter, konnte ich es kaum ertragen, von der Karte am winzigen Handgelenk des Babys zu lesen. Nicht dass ich mir jetzt, da ich meine eigene fünf Wochen alte Tochter im Arm hielt, den Schmerz, ein fünf Wochen altes Baby zu verlieren, besser ausmalen konnte. Vielmehr wusste ich, dass ich mir diesen Schmerz unmöglich ausmalen konnte. Unmöglich, sich dem zu stellen.
Diesmal konnte ich zugeben, dass ich den Roman streckenweise ein wenig langatmig fand. Sashas Verzweiflung hatte etwas Klaustrophobisches und Repetitives, was kein moralisches Versagen war, aber anstrengend. Wie Rhys’ Leben, wie das Leben aller.
Aber unter meiner Ermattung spürte ich auch eine neue Zärtlichkeit für Sasha, vor allem für ihren inneren Kampf. An einem Punkt beginnt sie zu weinen – na ja, an etlichen Punkten –, betrachtet ihr Spiegelbild und denkt:
Außerdem ist das gar nicht mein Gesicht, diese gequälte und gefolterte Maske. Ich kann es abnehmen, wann immer ich will, und an einen Nagel hängen. Oder soll ich einen tollen Hut mit einer grünen Feder daraufsetzen, einen Schleier darüberhängen und ach so fröhlich durch die dunklen Straßen ziehen? Trotzig singen ›Du magst mich nicht, aber ich mag dich auch nicht … Don’t like jam, ham or lamb, and I don’t like roly-poly …‹
Sasha weiß, dass ihre Traurigkeit sowohl Gefühl als auch Darbietung ist, und sie findet Gefallen daran, sich vorzustellen, auf wie viele verschiedene Arten sie darauf Bezug nehmen kann: Sie putzt sie heraus, macht sich über sie lustig, trägt sie zur Schau, bittet sie, ein Lied anzustimmen. Sie ist sich der Tropen der traurigen Frau bewusst und spielt damit: (»Ja, ich bin traurig«, denkt sie, »traurig wie eine Zirkuslöwin, traurig wie ein Adler ohne Schwingen, traurig wie ein Geiger mit einer einzigen, noch dazu zerrissenen Saite …«) Bei meinen früheren Lektüren war mir diese Distanz völlig entgangen – dieser Humor und Spott, dieses Unter-Tränen-nach-Reimen-Greifen –, weil ich mich selbst so stark mit Sasha und durch Sasha mit Rhys identifiziert hatte, oder weil ich sie beide so eindeutig in ihrem Leid baden sah.
Beim dritten Mal erkannte ich, dass die Beziehung zwischen Rhys und Sasha komplizierter war: Sasha offenbarte Bruchstücke von Rhys’ eigenem Leben, erlaubte ihr aber gleichzeitig, aus sich herauszutreten, mit sich selbst zu zanken und über sich zu lachen. Ich erkannte Rhys als tief verwundete Frau mit einem komplizierten Verhältnis nicht nur zu ihren verwundeten Figuren, sondern auch zu ihrem eigenen Verwundetsein. Nachdem im Guardian ein Artikel über Jean Rhys mit dem Titel »Fated to be Sad« (»Zur Traurigkeit bestimmt«) erschienen war, schrieb Rhys einer Freundin, dass es sie ärgere, immer in die Rolle des Opfers gedrängt zu werden. Am Ende des Briefs stellt sie eine an ihre Interviewer gerichtete »Declaration of Rights« auf:
Ich bin keine leidenschaftliche Frauenrechtlerin
Oder ein Opfer (für immer und ewig)
Oder eine verdammte Närrin.
Ich liebe diesen Klammerausdruck: Sie wollte nicht für immer und ewig ein Opfer sein. Aber sie wollte sich das Recht vorbehalten, manchmal ein Opfer zu sein. Wie sie zu einem Journalisten sagte: »Jeder ist doch auf irgendeine Weise ein Opfer, oder?« Sie sah sich vielmehr als Einzige bereit, offen darüber zu sprechen: »Ich bin unmaskiert auf einem Maskenball, die Einzige ohne Maske.«
Beim dritten Lesen erkannte ich, dass der Roman eine breite Palette an Gefühlsnuancen bietet, dass Sasha komplexer und sich ihrer selbst viel mehr bewusst war, als ich gedacht hatte. Sie war nicht bloß in ihr eigenes Leiden verliebt. Beim dritten Lesen sah ich in ihrer Figur weder die naive Bejahung, dass Verzweiflung durch reine Willenskraft besiegt werden kann – das wäre ein gewaltiges Missverständnis! –, noch die Verkörperung von Gefühlspassivität, sondern eine nuancierte Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Handlungsmacht und Emotion. Sie versucht, ihrer Londoner Traurigkeit zu entfliehen, und muss erkennen, dass diese in Paris schon auf sie wartet. Sie versucht, ihren Tagen Struktur zu geben, um ihre Traurigkeit abzuschütteln, aber die Traurigkeit füllt jede dieser neuen Strukturen. Sie füllt jedes vor ihr stehende Glas. Sie hasst, wie Männer den Anblick weinender Frauen hassen, aber sie hasst es auch, eine weinende Frau zu sein. Sie macht sich über den Russen lustig, der meint, sich besser zu fühlen sei so leicht. Sie will sich auch besser fühlen. Oder vielmehr, sie kann sich an eine Zeit erinnern, da sie sich besser fühlen wollte. Einst hat sie ein Straßenkätzchen bemitleidet, das eine Wunde am Hals hatte. Dasselbe Kätzchen schmiss sie aus ihrem Zimmer. Ein Teil von ihr glaubt, dass ein Drink Abhilfe schaffen könne. Ein anderer weiß es besser.
Beim dritten Lesen ging ich nicht vor Sasha als Schutzheiliger aller traurigen Frauen in die Knie, tat sie aber auch nicht als lächerliche Heulsuse ab. Ich huldigte nicht länger ihrem Schmerz. Aber ich verabscheute ihn auch nicht. Ich respektierte ihn für die Bereitschaft, verabscheuenswert zu sein. Wenn Sasha von den Ketten um ihre Worte spricht, will sie damit vielleicht gar nicht ihren Schmerz als außergewöhnlich darstellen, sondern ausdrücken, wie viel Anstrengung es kostet, überhaupt irgendetwas zu sagen. Vielleicht gibt es auf der Welt genug Platz für weinende Frauen und für Gewerkschaftsfunktionärinnen. Vielleicht kann man Schmerz als überwältigend verstehen und zugleich als dynamisch, als überraschend.
Letztlich liebe ich das am meisten an Guten Morgen, Mitternacht: die Erkenntnis, dass Traurigkeit, so sehr sie alles andere verdecken mag, immer verbunden ist mit dem, was dahinterliegt. Schmerz bleibt nie allein. Er muss es aufnehmen mit der Welt in all ihrer Fülle, mit ihren Zwängen, ihren zerbrechlichen Sehnsüchten, ihrem absurden Humor, ihren gnadenlosen Erinnerungen, ihren Schnapsgläsern und kalten Nächten und ihrer beharrlichen, gnadenlosen Schönheit.
Aus dem amerikanischen Englisch von Nora Petroll