Welcome to Borderland

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Welcome to Borderland
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Jeanette

Erazo Heufelder

Welcome to Borderland

Die US-mexikanische Grenze


»… one thing you will learn For everything the north gives it exacts a price in return«

(Bruce Springsteen, Sinaloa Cowboys)

»Aquí es todo diferente todo todo es diferente En la frontera, en la frontera, en la frontera«

(Juan Gabriel, La Frontera)

Einführung Biographie einer Grenze

I. Texas – Mexiko. Wie alles begann

Mexikanische Siedler im Wilden Norden

»In Texas herrscht Krieg«

Krieg und Vorsehung 1846–1848

Mexikaner oder Sklaven?

Landraub und Gadsden-Kauf

II. Corridos, Mythen, Pferde. Kulturgeschichtliches Kompendium

»Remember the Alamo!«

Pancho Villas Revanche

Das verdrängte mexikanische Erbe

Balladen vom Rand der Gesellschaft

Fiktion und Wirklichkeit

Die Grenze und das wahre Mexiko

Espaldas mojadas

Das Debüt des mexikanischen Nordens

III. Am Rio Grande

Die Kaufleute vom Nordufer

Vom Tabakschmuggel zum »narcotráfico«

Ciudad Mier – Horrorfilm der Gegenwart

Roma und Mier – gespenstische Städtepartnerschaften

Wenn aus Geschichte wieder Geografie wird

IV. Ciudad Juárez – die neue Stadt auf dem Hügel

Eine Stadt explodiert

Weegees Erben

Juárez – Laboratorium unserer Zukunft

Finanzkrise und totaler Drogenkrieg

›Wir und Sie‹

Die Militarisierung der Grenze

Narcos in Uniform

Die Städte der Heiligen

Die Suche nach den Verschwundenen

V. Grenzgänger in der Sonora-Wüste

Ein Jesuit aus Südtirol

Coyoten auf dem »Camino del Diablo«

Lastesel der Drogen-Mafia

Apachen und Chinesen

Chinesen und Mexikaner

Die Indianer von Sonora

El Pinacate und die Desert Rats

Grenzschutz schlägt Naturschutz

Eine Grenze wird dichtgemacht

VI. Operation ›Arizona‹

Vom Konsumenten zum Arbeitsmigranten

Die Hardliner

Demographen und Lobbyisten

»Die Jagdsaison wird eröffnet«

Abgeschoben und ausgesetzt

Tom Kiefer und der amerikanische Traum

VII. Die belebteste Grenze der Welt

Tijuana Go-Go

Wenn man sie braucht

Die Haitianer von Tijuana

Pat Nixons Traum

Ein Kanal und ein Friedhof

Zwei stolze Seelen in einer Brust

Kanonenfutter zweiter Klasse

Ein Park in San Diego

Mauer mit Tür für »good hombres«– ein Nachwort

Anhang

Anmerkungen

Glossar

Literaturliste

Dank






Einführung Biographie einer Grenze

They go north, to get south

(Terry Allen: Dialogue. The Characters. A simple story. Juárez)

Die Geografie des Rio-Grande-Tals ist ein wenig verwirrend: Roma liegt in Texas, USA, am nördlichen Ufer des Rio Grande. Miguel Aleman, die Ortschaft direkt gegenüber, befindet sich in der fronteriza-Region der Provinz Tamaulipas, Mexiko. Auf mexikanischer Seite wird aus dem Rio Grande der Rio Bravo. An dessen Südseite beginnt der mexikanische Norden, an seiner Nordseite endet der Süden der Vereinigten Staaten. Und auf beiden Seiten des Flusses breitet sich das Rio-Grande-Tal aus. The Valley, sagen die Texaner zu ihrer Hälfte. La frontera chica, die kleine Grenze, die Mexikaner zu der ihren, beziehen sich aber nur auf jenen Teil, der die Provinz Tamaulipas streift. Das Valley auf der amerikanischen Seite zieht sich hingegen über 330 Kilometer von Brownsville bis nach Laredo.

 

Die topografische Verwirrung setzt sich in den Ortsnamen fort. Südlich der Grenze begann man nach 1848 neuen Siedlungen die Namen von Ortschaften zu geben, die auf der nördlichen Seite des Rio Bravo bereits existierten. Nur gehörten sie, nachdem das Land die Hälfte seines Staatsgebiets an die Vereinigten Staaten verloren hatte, plötzlich nicht mehr zu Mexiko. Die nordamerikanischen Städte spanischen Ursprungs sind deshalb in jedem Fall älter als ihre Gegenstücke auf mexikanischer Seite. Das zeigt exemplarisch der Fall der beiden Laredos, bei dem das ursprüngliche Laredo am Nordufer durch eine Siedlungsneugründung auf der mexikanischen Seite des Flusses einfach gedoppelt wurde. Außerdem ging man in Mexiko nach 1848 dazu über, Städte auf die Namen von Unabhängigkeitskämpfern und Staatspräsidenten umzubenennen. Die alten Städte und Gemeinden, die schon zu Zeiten des spanischen Vizekönigreichs gegründet wurden, sind also nicht unbedingt verschwunden, wenn sie nicht mehr zu finden sind. Sie heißen nur anders. Wie zum Beispiel Miguel Aleman. Der Ort hat 1950 zu Ehren des damals amtierenden mexikanischen Präsidenten dessen Namen erhalten und dafür seinen historischen – nämlich San Pedro de Roma – aufgegeben, weshalb sich nicht mehr automatisch die enge Verbindung zu Roma auf der gegenüberliegenden Flussseite erschließt. Beide Ortschaften gingen aus ein und derselben hacienda hervor, die im Zuständigkeitsbereich einer Gemeinde namens Mier lag. 1871 wurde aus dieser Gemeinde, die sich auf mexikanischer Seite zehn Kilometer westlich des heutigen Miguel Aleman befindet, eine Stadt, worauf sie so stolz war, dass sie darauf sogar in ihrem Namen aufmerksam machte: Mier hieß fortan offiziell Ciudad Mier.

Der mexikanische Autor David Toscana schreibt in seinem Essay Fronteras movedizas1, dass Grenzen nur so lange ein Gegenstand der Geografie blieben, wie sie stillhielten. Sobald sie sich bewegten, würden sie zu einem Gegenstand der Geschichte. In der Geschichte Mexikos hat sich die nördliche Grenze gleich mehrmals gen Süden bewegt. Das erste Mal 1836, nachdem sich Texas von Mexiko abgespalten hatte, wenngleich Mexiko die politische Unabhängigkeit seiner ehemaligen Provinz offiziell nie anerkennen sollte. Das nächste Mal 1848 nach der Niederlage gegen die USA, als Mexiko die Hälfte seines Staatsgebiets verlor. Und schließlich 1853 beim sogenannten Gadsden-Kauf, durch den die USA auch noch die südlichen Gebiete des heutigen Arizona erwarben. Damit hatte die Grenzlinie ihren gegenwärtigen Verlauf erreicht: Auf ihrem ersten Drittel folgt sie dem Rio Grande/Bravo flussaufwärts. Hinter Ciudad Juárez und El Paso führt sie westlich in Richtung Yuma weiter. Südlich von Yuma läuft sie schließlich in gerader Linie auf den westlichen Rand des amerikanischen Festlandes zwischen Tijuana und San Diego zu.

Im Unterschied zu einer rein geometrischen Linie oder geologischen Barriere ist eine historische Grenze eine politische Erfindung. Sie hat zur Voraussetzung, dass es irgendeine Art von Beziehung zwischen den beiden angrenzenden Ländern gibt. Im Fall der US-mexikanischen war die Herausbildung einer überaus komplexen Grenzbeziehung auf 3144 Kilometer Länge keineswegs so zwingend wie es heute im Rückblick erscheint. Denn die gemeinsame Grenze, die von ihrem Ausgangspunkt am Golf von Mexiko quer über den Kontinent durch Wasser, Schluchten, endlose Plains und ausgetrocknetes Land bis zum Pazifik verläuft, hätte beide Länder räumlich ebenso gut voneinander trennen können. Eine Möglichkeit, die von Sebastián Lerdo de Tejada – Präsident Mexikos von 1872 bis 1876 – als Argument gegen eine transnationale Eisenbahnverbindung ernsthaft in Betracht gezogen wurde. Er schlug vor, die Wüste so zu belassen wie sie war, um einen möglichst großen Abstand zum starken Nachbarn im Norden zu schaffen. Mexiko sollte in Ruhe seinen Entwicklungsrückstand zu ihm aufholen können.

Lerdo de Tejadas Überlegung, die Wüste als Puffer zwischen Stärke und Schwäche einzusetzen, geistert als oft zitiertes Aperçu durch die Geschichte. Denn tatsächlich hatten sich beide Länder zu dem Zeitpunkt schon längst auf ihre gemeinsame Grenze zubewegt. So machte der US-amerikanische Historiker Frederick Jackson Turner Ende des 19. Jahrhunderts in der Expansion Richtung frontier sogar den Wesenskern der amerikanischen Identität aus. Und für den mexikanischen Historiker Justo Sierra – ein Zeitgenosse Turners – waren die Erfahrungen mit eben dieser Grenze entscheidende Faktoren für die Herausbildung eines mexikanischen Nationalgefühls. Schon immer war die gemeinsame Grenze für beide Länder eine Projektionsfläche, auf der sich gleichermaßen symbiotische Beziehungen und mentalitätsgeschichtliche Verschiedenheiten sowie traditionelle Ängste spiegelten. Immer wieder wird vor allem das Trennende und Problematische beschworen, in Gestalt von Arbeitsmarkt- und Sicherheitsproblemen durch unkontrollierte Einwanderung sowie Drogenschmuggel und Gewalt. Mexiko und die USA haben sich dabei des Öfteren schon die Argumente des jeweils anderen zu eigen gemacht. Mexiko zum Beispiel das von dem allzu mächtigen Nachbarn, an dessen Seite man selbst zu schwach sei, um von ihm unabhängig existieren zu können. Mit genau diesem Argument hatte im mexikanisch-amerikanischen Krieg ein Teil der US-amerikanischen Öffentlichkeit die Annektierung von ›ganz Mexiko‹ gefordert.2 Und umgekehrt hatten die USA die Annektierung der einstmals nur dünn besiedelten Gebiete Kaliforniens, Arizonas und New Mexicos damit begründet, dass Mexiko das Land nicht zum Nutzen der Menschheit bewirtschaften könne.

Vor 170 Jahren hatte Mexiko tatsächlich Probleme damit, seine abgelegenen Grenzprovinzen für Siedler dauerhaft attraktiv zu machen. Inzwischen gehört die mexikanischstämmige Bevölkerung nördlich der Grenze jedoch zur am schnellsten wachsenden Minderheit der Vereinigten Staaten und gilt nun gerade deshalb als gesellschaftliches Entwicklungshemmnis. Mit dem Ruf nach einer unüberwindbaren Mauer wird von US-amerikanischer Seite also nicht nur auf eine Bedrohung von außen reagiert, sondern auch auf das als nicht minder bedrohlich empfundene erstarkte Selbstbewusstsein jener Grenzregion, die einst zu Mexiko gehörte und heute die nationale politische Hegemonie zu gefährden scheint. In Mexiko verlief der Prozess historisch genau umgekehrt: Hier entstand zuerst ein Bewusstsein für die historische Gefährdung der Nationalstaatlichkeit durch Kriegsniederlage und Landverlust, bevor daraus eine Selbstwahrnehmung als Nation erwuchs. Was heute für Spannung sorgt, ist also mitnichten das Ergebnis einer Entfremdung. Es steckt im Kern dieser Verbindung. Ob man der Grenze von Ost nach West oder von West nach Ost folgt, ob man sie von den Ufern des Rio Grande oder des Rio Bravo aus betrachtet: Sie entstand durch einen Schnitt, der einen Organismus in zwei Hälften trennte. Es ist deshalb kein bloß geografischer Perspektivenwechsel, ob man die Geschichte der Grenze mit Blick auf den Rio Bravo oder den Rio Grande erzählt, selbst wenn es sich dabei um ein und denselben Fluss und um die gleiche Geschichte handelt. Die Grenze ist die Narbe eines Konflikts, der zwar historisch ist, aber nicht bewältigt wurde. Je nachdem also, aus welcher Perspektive man auf die Grenze blickt, ist sie la frontera oder the Border – mit den damit verbundenen politischen, geschichtlichen und kulturellen Unterschieden. Die Geschichte der Grenzbeziehung zeigt aber zugleich auch, dass sich in der Betonung des Trennenden in Wirklichkeit schon immer das Wissen um die Unauflösbarkeit dieser Beziehung offenbart hat.


I.
Texas – Mexiko. Wie alles begann

Mexico will poison us.

(Ralph Waldo Emerson: Journals 1845–1848)

Mexikanische Siedler im Wilden Norden

Hundert Jahre bevor in den USA die ersten Siedlertrecks gen Westen zogen, hatten sich in der neu-spanischen Provinz Nuevo León ganze Familienverbände mit ihren Planwagen Richtung Norden in Bewegung gesetzt. Sie waren unterwegs zum Rio Bravo. Unter der Bedingung, dass sie sich dort mit ihren Familien dauerhaft niederließen, hatte die Real Audiencia jedem dieser Siedler eigenes Land in Aussicht gestellt. Entgegen den sonst üblichen langwierigen Verfahren erfolgten diese Landschenkungen relativ unbürokratisch. Zum einen lag das an den bourbonischen Reformen; einem Bündel kolonialpolitischer Maßnahmen, mit denen Mitte des 18. Jahrhunderts die Verwaltung im neuspanischen Vizekönigreich wirtschaftlich effizienter gestaltet werden sollte; zum anderen aber war das Siedlungsprojekt José de Escandón zu verdanken, der 1746 zum Gouverneur der neu gegründeten Provinz Nuevo Santander ernannt worden war. Als solcher verantwortete er die Erschließung der bisher in ihrer ursprünglichen Wildheit belassenen nordöstlichen Außengrenze des neuspanischen Vizekönigreichs. Die neue Provinz erstreckte sich im Norden bis hoch zum Sabina-Fluss und umfasste den Teil des ›mexikanischen Busens‹ am Golf von Mexiko, in den der Rio Grande mündete, der damals noch den Zusatz ›del Norte‹ trug. Da sich der Rio Grande del Norte, bevor ihm im 20. Jahrhundert durch den Bau der Falcon- und Amistad-Staudämme die Wassermassen entzogen wurden, in Regenperioden regelmäßig in einen wilden, reißenden Fluss verwandelte, wurde er in der Korrespondenz mit der Audiencia auch als Rio Bravo bezeichnet.

Die Erschließung des Rio-Grande-Tals, an dessen nördlichem Ufer das heutige Texas beginnt, schien Mitte des 18. Jahrhunderts aus Sicht der spanischen Krone aus mindestens zwei Gründen notwendig geworden zu sein: das Rio-Grande-Delta am Golf von Mexiko hatte sich in ein Rückzugsgebiet nomadisierender Indianerstämme entwickelt. Außerdem drangen die Franzosen vom angrenzenden Louisiana immer häufiger in spanisches Territorium ein. Es schien also ratsam, das Gebiet durch gezielte Besiedelung als Eigentum der spanischen Krone zu markieren. Bis 1747 hatten die Kartographen 120.000 Quadratmeilen Land vermessen, eine Fläche, die von der Stadt Laredo im Westen bis zur Küste am Golf von Mexiko reichte und sich von Monclova im Süden bis nach San Antonio de Bexar im Norden erstreckte.3

Auf die künftigen Siedler wartete ein hartes Leben in extremer Abgeschiedenheit. Der Boden war nur in Uferzonen für die Landwirtschaft geeignet. In Regenperioden bildeten sich an manchen Stellen des Rio Grande ganze Seen. Wenn sich das Wasser wieder zurückzog, hinterließ es fruchtbares Land. Doch jenseits dieser grünen Oasen breiteten sich Ebenen aus, auf denen nur Büsche und Gras wuchsen. Chaparral ist der gängige Name für diesen Vegetationstyp. Die harten Lebensbedingungen und die sengende Hitze der Sommermonate wurden von den Neu-Siedlern in Kauf genommen, da ihre Situation trotz allem eine Verbesserung erfuhr. Sie stiegen von Soldaten, Handwerkern und Landpächtern zu Landbesitzern auf – mochte das Land noch so knochentrocken, das Klima noch so heiß und das Leben noch so anstrengend sein. Bereits die erste Generation konnte große Flächen urbar machen. Im Gegensatz zu den traditionellen Latifundien-Kasten – Kirche und Adel – hatten sich diese Siedler ihre Verdienste als einfache Soldaten im Heer der spanischen Krone erworben. José de Escandón hatte die Audiencia davon überzeugt, diesen neuen Typ Siedler zu fördern; der Einzige, der wirklich bereit war, sich auf die Mühen des Pionierdaseins einzulassen. Um den Preis, dass sie sich im Falle eines Indianerangriffs selbst verteidigen mussten. Denn presidios, befestigte Garnisonen, waren aus Gründen der Sparsamkeit ebenso wenig vorgesehen wie kirchlicher Gemeinschaftsbesitz.

In jeder neu gegründeten Siedlung gab es nur ein einziges Amt, dessen Gehalt die Audiencia übernahm: das des capitán, dem sowohl militärische wie zivile Aufgaben zukamen. Da das Funktionieren der dörflichen Selbstverwaltung von den Fähigkeiten dieses Gemeindevorstehers abhing, war das Amt stets der Person zugedacht, die in der Gemeinschaft das größte Ansehen besaß – in der Regel waren das die Siedlungsgründer. Aber unabhängig davon, dass er in der Gemeinde das Amt mit dem höchsten Sozialprestige bekleidete, lebte auch ein capitán auf engstem Raum mit seinen peones zusammen. Für Angehörige des spanischen Adels und für kirchliche Würdenträger wäre das undenkbar gewesen. Die peones, die die einfachsten und mühsamsten Arbeiten in den rancherías verrichteten, waren Angehörige indianischer Ethnien, die vor Ankunft der spanischen Siedler in kleinen Familienverbänden am Rio Grande vom Fischfang gelebt hatten. Mit der Parzellierung der fruchtbaren Böden in den Uferzonen und Überschwemmungsgebieten in sogenannte porciones – handtuchförmige, relativ schmale, aber dafür bis zu 18 Kilometer lange Grundstücke –4 und deren Vergabe an Einzelpersonen war ihnen ihre bisherige Lebensgrundlage entzogen worden. Sie mussten nun für ihren Lebensunterhalt bei den Ranch-Besitzern arbeiten. Ihre eigenen Unterkünfte befanden sich in der Nähe der Pfarreien oder etwas abseits der Siedlungen.5

 

Insgesamt 6000 Siedler waren in wenigen Jahren zu eigenem Land gekommen. Kaum war alles verteilt, begannen sich die ersten wieder davon zu trennen, was anderen die Gelegenheit bot, sich noch mehr Land anzueignen. Begünstigt durch das Belohnungssystem der Krone bildeten sich so in den Siedlungen am Rio Grande von Anfang an große Besitzunterschiede. Die rancherías spezialisierten sich auf Rinder- und Schafwirtschaft. Der Absatzmarkt wurde ihnen von der Audiencia vorgegeben. So verboten die Gesetze der spanischen Kolonialverwaltung Produktion und Handel von Gütern, die auch in Spanien hergestellt werden konnten. Nur einige Grundnahrungsmittel waren unter bestimmten Auflagen von den strengen Gesetzen ausgenommen. Die Gemeinden zum Beispiel durften Felle, Wolle und sonstige Tierprodukte auf regionalen Märkten verkaufen. Handel mit Ländern, die nicht der spanischen Krone gehörten, wurde bestraft. Zum Ausgleich erhielten die Siedler am Rio Grande von der Krone Steuernachlässe. Doch wenn sie ihr Land verkauften und weiterhin im Ort leben wollten, verloren sie alle Rechte und Privilegien.6

Als erste der berühmten sieben Siedlungen des José de Escandón war am südlichen Ufer des Rio Grande 1749 Camargo gegründet worden. Dann folgten die Gründungen von Reynosa, Refugio, Dolores, Mier, Revilla und Laredo. Wie Perlen an einer Kette reihten sich schließlich sieben Siedlungen und einige haciendas beidseitig des Rio Grande/Bravo aneinander. Dass es die Einzigen im weiten Land zwischen dem Golf von Mexiko und Santa Fe im heutigen New Mexico waren, stärkte von Anfang an die Bindung untereinander.7 Diesseits und jenseits des Rio Grande existierte bald ein mehrere hundert Kilometer umfassendes Wegenetz. Die Gemeinden bauten außerdem ihr Selbstverteidigungssystem weiter aus, da die Überfälle von Comanchen und Lipan-Apachen nicht abnahmen.8 Die Stämme waren Mitte des 18. Jahrhunderts von den nordöstlichen Plains zu ihren in Chihuahua lebenden Stammesverwandten aufgebrochen. Auf ihrem Weg in den Süden stießen sie am Rio Grande/Bravo auf die Siedlungen, die als Schutzmaßnahme unter anderem ihre Dörfer an Stellen verlegt hatten, die mehr Überblick boten. Außerdem ersetzten sie beim Bau von Häusern Holzmaterialien durch den in der Region vorkommenden Fluss-Sandstein und bauten auf diese Weise ihre rancherías zu presidios aus.

Dass es auch um 1800 immer noch so häufig zu Überfällen kam, war ein Indiz, dass die spanische Krone nie die völlige Kontrolle über das Gebiet erlangt hatte und ihre Autorität zudem immer weniger gefürchtet wurde. Die Gemeinden am Rio Grande wandten sich in dieser Zeit kommerziell stärker den nordöstlichen Außengrenzen des Kolonialreichs zu. Von den Siedlungen führten versteckte Maultierpfade und Trampelwege durch endloses Chaparral bis zum Sabina-Fluss, wo seit der Annexion Louisianas 1803 die Vereinigten Staaten begannen. In den Jahrzehnten vor dem endgültigen Zusammenbruch des spanischen Vizekönigreichs hatten die drastischen Strafen, die Warenschmugglern drohten, ihre abschreckende Wirkung verloren. Und wer mit Rindern, Schafen, Wolle, Fellen, Kattun, Baumwolle und Tabak zu Wohlstand gekommen war, begann sich ohnehin über so etwas wie Freiheit Gedanken zu machen.

Wie Bernardo Gutiérrez de Lara. Der Schmied und Händler aus der Gemeinde Revilla strebte die Unabhängigkeit seiner Provinz von der spanischen Krone an und sprach schon von Texas, als es noch Teil Nuevo Santanders war. Mit Gutiérrez de Lara kämpfte bereits 1812 ein spanischstämmiger Mexikaner für die Befreiung der texanischen Provinz von der spanischen Kolonialherrschaft. Viele Jahre bevor der Angloamerikaner Stephen Austin auf der Bildfläche erschien, reiste Gutiérrez de Lara nach Washington und bat den US-Kongress um Unterstützung für den texanischen Freiheitskampf. Die USA reagierten zurückhaltend. Denn sie verhandelten mit den Spaniern gerade über die Westgrenze von Louisiana und den Erwerb Floridas. Immerhin sicherten sie Gutiérrez de Lara zu, seine Aktionen zu dulden. Also verbündete sich Gutiérrez de Lara mit französischen und US-amerikanischen Abenteurern. Mit ihrer Hilfe baute er die 1400 Mann starke »Republikanische Armee des Nordens« auf, belagerte 1813 San Antonio und rief den unabhängigen Staat Texas aus.9 In Medina kam es zur Schlacht mit den Streitkräften der spanischen Krone, die für die Armee der Aufständischen tödlich endete. Wer nicht im Kampf fiel, wurde hingerichtet. Die Konfrontation ging als blutigste Schlacht auf texanischem Boden in die Geschichte ein. Die Massenhinrichtungen, die der spätere mexikanische Präsident Antonio López de Santa Anna als junger spanischer Soldat auf Seiten der Royalisten erlebte, lieferten Historikern die Erklärung für sein späteres Handeln in Alamo (1836) und anderen Schlachten, wo er als mexikanischer Präsident und oberster Kriegsherr ebenfalls keine Gefangenen machte.