Das Ideal des Kaputten

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Das Ideal des Kaputten
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Jessica Jurassica

Das Ideal
des Kaputten

Roman


Verlag und Autorin danken dem ça ira-Verlag (www.ca-ira.net) für die Erlaubnis, den Titel des Buches »Das Ideal des Kaputten« von Alfred Sohn-Rethel zu verwenden.

Die Autorin und der Verlag danken für die Unterstützung durch den Kanton Appenzell Ausserrhoden, die Stadt Bern und den Kanton Bern.


Jessica Jurassica

Das Ideal des Kaputten

Roman

lectorbooks GmbH, Zürich

info@lectorbooks.com

www.lectorbooks.com

Umschlagbild: Jessica Jurassica

Umschlaggestaltung: André Gstettenhofer

Satz: Peter Löffelholz

Lektorat: Patrick Schär

Korrektorat: Gertrud Germann

Gesamtherstellung: CPI Books GmbH, Leck

1. Auflage 2021

© 2021, lectorbooks GmbH

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-906913-27-8

eISBN 978-3-906913-28-5

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Zitatnachweis

Zur Autorin

1

Den ganzen Sommer über roch es irgendwie seltsam. Die Stadt roch seltsam und meine Wohnung, meine Mitbewohner, die Männer, mit denen ich schlief – mein ganzes Leben roch seltsam. Und auf meine Haut hatte sich ein glänzender Film gelegt, den ich einfach nicht wegbekam und der seltsam roch.

Ich verbrachte diesen seltsam riechenden Sommer fast durchgehend in meiner Hängematte, die ich damals in Kolumbien für die Ayahuasca-Zeremonie gekauft hatte, und während ich in dieser kolumbianischen Hängematte lag, wehte der Wind durch die Wohnung, alle Fenster offen, 34 Grad im Schatten.

In den grob gewebten Stoff der Hängematte hatte ich von Hand ein paar Worte gestickt, damals im Flash der Tage nach dem Ayahuasca-Trip, als ich gedacht hatte, dass ich wohl für immer hängen geblieben sei. rios de dolor, cascadas de amor stand da in naiver Schrift, Flüsse des Schmerzes und Wasserfälle der Liebe. Ich war damals wirklich ziemlich hängen geblieben, aber das war immer noch besser als jetzt. Ich bildete mir ein, alt und abgeklärt geworden zu sein oder erwachsen vielleicht, aber in Wirklichkeit war ich einfach nur depressiv. Mein Leben bestand aus einer Aneinanderreihung von Regelmäßigkeiten, ich bezahlte fast jeden Monat meine Miete, ich aß regelmäßig tagelang nichts und meine Menstruation ließ regelmäßig auf sich warten, um dann doch noch im ungünstigsten Moment einzutreten. Gleichzeitig wurde meine Arbeit plötzlich ernst genommen von arrivierten, einflussreichen Menschen, meist Männern, die mich nach Zürich zum Kaffee einluden. Sie sahen in mir das Nachwuchstalent, das dieses Land brauchte in Zeiten der Medienkrise, so kam es mir jedenfalls vor, vielleicht wollten sie auch nur ficken, aber das war mir eigentlich ziemlich egal. Es widerte mich alles an, was von Zürich her durch das Display in meine Wohnung schwappte.

Zürich war für mich nie mehr gewesen als ein Verkehrsknotenpunkt zwischen dem Appenzeller Hinterland und der Bundeshauptstadt, in die ich vor ein paar Jahren gezogen war, um irgendwas mit Geisteswissenschaften zu studieren, das mich meistens nur so mittel interessierte und das ich nach meinem nicht sehr erfolgreichen Bachelorabschluss bald komplett vergessen hatte. Manchmal kam mir das Diplom wieder in den Sinn, und dann fragte ich mich, wo ich es wohl hingelegt hatte.

Ich spülte alles runter mit sauer gespritztem Weißwein, die Hitze, den Nihilismus, die Medienkrise. Gegen Abend ließ ich mich manchmal die Aare runtertreiben, immer den Gedanken im Hinterkopf, einfach weiterzutreiben. Wenn man sich weit genug treiben lässt, dann ist man irgendwann tot, so hatte man mir das jedenfalls erklärt, als ich herzog. Ich stieg trotzdem jeweils bei der drittletzten Möglichkeit aus dem Wasser, weil es dort neuerdings eine hippe kleine Pop-up-Bar gab, wo man sauer gespritzten Weißwein trinken konnte, dafür nicht mehr kiffen wegen der vielen Menschen, und alle hatten noch ein Kind mit dabei. Manchmal kamen Lokaljournalistinnen und fragten, was man denn so halte von diesem Pop-up-Ding und ob es okay sei, wenn man auch auf dem Foto drauf sei für den Sommerloch-Artikel in der nächsten Ausgabe, und dann fragte ich mich, weshalb ich mich nicht doch weiter hatte runtertreiben lassen.

Ich hasste die Journalisten und Journalistinnen, sie hatten mir den Sommer versaut. Ich war da reingerutscht und schaute im Internet den Debatten zu, die mit komplett irrer Geschwindigkeit geführt wurden. Jede Woche gab es einen anderen Shitstorm oder Hype, einen Artikel, einen Facebook-Post von irgendeinem SVP-Arschloch, alle stürzten sich drauf, und ganz egal, ob sie jemanden zerrissen oder feierten, sie konnten dich innerhalb weniger Stunden zerfetzen. Sie meinten es nur gut, aber am Ende lagst du da unter der Last dieser ekligen Blase, die sich auf dich gedrückt hatte. Danach ließen sie dich wieder fallen und irgendwo liegen, sie vergaßen dich sofort, wie ein komplett gestörter Fuckboy, der dich manisch fickt und dir tausend euphorische Komplimente macht, und dann zieht er sich an, drückt dir einen Kuss auf die Stirn, geht lächelnd raus, lässt die Tür hinter sich zufallen und ghostet dich einfach. Und wenn du Glück hast, wenn du dir Mühe gibst, bist du irgendwann mal wieder interessant genug für einen One-Night-Stand. Nein, es gibt keine Liebe in Zeiten der Medienkrise.

Einmal war mir alles so langweilig, dass ich mir das Tamedia-Logo in die Leistengegend tätowierte. Ich tat es nicht gern, aber es musste sein. Wenigstens ein bisschen Punk in meinem trägen Alltag, der bereits nach Bürgerlichkeit zu stinken begann, als könnte ich überhaupt jemals bürgerlich werden oder irgendwas in diese Richtung. Das lag mir gar nicht, und doch hatte ich panische Angst davor. Na ja, und deshalb halt diese Tätowierung in der Leistengegend. Wenn man mich fickte, konnte man runterschauen und sich denken: Ich fick Tamedia. Ich fick Pietro Supino. Ich fick all die devoten Scheiß-Journos.

Ich hasste die Journalisten und Journalistinnen auch, weil ich den Eindruck hatte, dass sie sich an den Meistbietenden verkauften und nichts dagegen unternähmen, dass alles so beschissen läuft. Die meisten trauten sich nicht einmal zu klagen, manche schon, und die klagten dann jämmerlich vor sich hin, meist in einem kindlich-trotzigen Tonfall, und alle waren unzufrieden, aber niemand wollte irgendwas tun, weil sie viel zu bequem waren oder einfach nur paranoid. Und wenn dann doch mal wer was unternahm gegen die Medienkrise, gegen die Aktionäre und die Entlassungen, dann machten sie einen auf Französische Revolution. Aber ein Scheiß war das Französische Revolution. Es war nur Ausverkauf, eine berechnende Vermarktung aufgeblasener demokratischer Ideen.

Die Journalisten aus Zürich sagten mir, ich stünde am Anfang einer großen Karriere. Also konzentrierte ich mich auf diese Karriere, die noch keine war, sondern nur eine Häufung von Einladungen zum Kaffee auf Zürcher Redaktionen, während mich noch immer niemand fürs Schreiben bezahlte. Ich wusste die ganze Zeit über nicht, was es mit diesem verdammten Kaffeetrinken auf sich hatte, ob es jetzt da doch wieder ums Ficken ging, und obwohl ich überhaupt keine Lust hatte, nach Zürich zu fahren, nahm ich irgendwann die vielversprechendste Einladung an. Eigentlich hatte ich vorgeschlagen, dass man sich in Olten treffen solle, weil das genau zwischen Zürich und der Bundeshauptstadt liegt, aber diese Zürcher Edelfeder war zu beschäftigt damit, Französische Revolution zu spielen, um nach Olten zu fahren, also sollte es doch Zürich sein.

Ich fuhr dann nicht hin, weil ich in der Nacht zuvor zu viel Amphetamin gezogen und zu viel Alkohol getrunken hatte und den ganzen Tag im Bett lag oder über der Kloschüssel hing. Die Edelfeder war sowieso nicht zu erreichen, als es darum ging, einen Treffpunkt zu vereinbaren. Er antwortete einfach nicht auf meine Nachrichten und meldete sich auch später nicht mehr. Aber es war mir egal, es kam mir sogar gelegen, ich hatte echt keine Lust, mich aus dieser Stadt rauszubewegen. Diese Stadt, die, wenn man ein paar Jahre hier lebte, an einem zu haften begann, als wären die Sandsteinmauern mit Klebstoff überzogen, und trotzdem traf man, sobald es warm wurde, in der Spitalgasse und im Rosengarten nur Touristen, und wie jeden Sommer verschwanden ein, zwei von ihnen in der Aare und wurden dann irgendwo unten Richtung Bremgarten tot aus dem Wasser gefischt.

 

Irgendwann in diesem Scheiß-Sommer, während ich in meiner kolumbianischen Hängematte lag, wurde ich fünfundzwanzig und ich hörte Lil Uzi Vert, der darüber rappte, dass alle seine Freunde tot waren, obwohl er erst fünfundzwanzig war.

Vor einem Vierteljahrhundert wurde ich also geboren, crazy, dachte ich. Ich kam auf einem Bauernhof fast ganz unten in einem Tal im Appenzeller Hinterland auf die Welt. Es war morgens kurz vor acht, mein Vater stand mit den Stallstiefeln in der Stube, während mich meine Mutter aus sich rauspresste und vor dem Haus die Esel schrien.

Es gab kaum elektrisches Licht in diesem Tal, keine Straßenlaternen, und nachts schien der Mond rot auf die Hügel drauf und in die Täler rein. Nur ganz unten im Tal, da schien nicht einmal die Sonne hin, dort war es immer ganz dunkel und alles ständig von einer modrigen Nässe überzogen. Im Winter schichtete sich das Eis und schloss alles in sich ein und dann wurde es jeweils ganz still – für ein paar Wochen oder Monate.

Inzwischen war ich natürlich schon lange aus diesem Tal geflüchtet, wie alle anderen auch, die nicht schwanger geworden waren als Teenager oder sich und andere gegen einen Baum und totgefahren hatten mit ihren übermotorisierten und tiefergelegten Subarus. Ich lebte nun also in Bern und hier wurde ich fünfundzwanzig, und während ich fünfundzwanzig wurde, lag ich in dieser kolumbianischen Hängematte und Lil Uzi Vert rappte in Endlosschlaufe:

All my friends are dead

All my friends are dead

All my friends are dead

Meine Freunde waren noch nicht tot, höchstens Freunde von Freunden waren tot. Jemand hatte sich mal auf Ecstasy eine Kugel in den Kopf gejagt, weiß der Teufel warum, jemand hing eines Tages im idyllischen WG-Garten am einzigen Baum, der da stand, und die von früher, also die von damals, als ich noch in diesem Tal bei meinen Eltern gewohnt hatte, die hatten sich eben totgefahren. Und meine erste große Liebe, die war auch tot.

Ich ging jedenfalls davon aus, dass meine erste große Liebe tot sein musste. M. hatte mir gesagt, dass er krank sei und wohl sterben werde und dass er ein Schmetterling sei oder irgend so ein Scheiß. Er sagte das, als wir eines Nachmittags auf MDMA in seiner Wohnung rumlagen und Portishead hörten.

Wild, white horses

They will take me away

And my tenderness I feel

Will send the dark underneath

Will I follow?

Ich lag in seinem Schoß, schaute mit großen Pupillen zu ihm hoch und weinte.

Kurz nach diesem Nachmittag, den wir verballert auf seiner Couch verbracht hatten und an dem ich, soweit ich mich erinnern konnte, zuletzt überhaupt geweint hatte, brach unser Kontakt ab. Ich war schon lange in eine andere Stadt gezogen und er hatte schon lange sein Facebook-Profil gelöscht. Und weil auch auf sonst keinem Kanal ein Lebenszeichen von ihm kam, dachte ich, dass er wohl wirklich tot sein musste, das hätte irgendwie zu ihm gepasst. Aber nach einem Jahr oder so kam dann doch wieder eine SMS: Sorry, war mal wieder Psychiatrie, haha, hast du mir die Nummer von … Ich hatte keine Ahnung, wessen Nummer er wollte, und er schrieb dann auch nicht mehr zurück, ich glaube, er war schon wieder voll in der Psychose.

Ich fand das immer ziemlich attraktiv an ihm, dass der so psychotisch war. Als wir das erste Mal miteinander sprachen, saßen wir irgendwann unter der Woche am frühen Abend in der Südostbahn. Die Südostbahn fuhr von Rapperswil her Richtung St. Gallen quer durchs Toggenburg und streifte dazwischen irgendwo noch kurz das Appenzeller Hinterland. M. war aus dem Toggenburg und ich aus dem Appenzeller Hinterland, also aus dem hintersten Hinterland, wo praktisch nur noch auf Acid hängen gebliebene Aussteiger-Hippies lebten und Kleinbauern in der zehnten Generation und alle hatten Alkohol- und Aggressionsprobleme. Die Bauern im Tal ertränkten im Frühling die in unkontrolliertem Ausmaße geworfenen Katzen kurz nach ihrer Geburt in den Brunnen vor den Häusern und im Sommer prügelten sie ihre Kinder auf die Heuwiesen.

Die nächste Kleinstadt lag unerreichbar weit weg, und die Kinder aus dem Dorf und von unten im Tal hingen im Winter in der einzigen Telefonzelle ab, direkt neben dem Friedhof und der Kirche, weil es sonst keinen Ort gab, an dem man hätte sein können. Der letzte Bus war schon längst gefahren und würde auch so bald nicht mehr wiederkommen. Doch die Kinder von ganz unten im Tal waren froh, wenigstens ein wenig Sonnenlicht zu haben oder den Säntis zu sehen und den Sternenhimmel. Aber nach ein paar Jahren schauten auch sie kaum mehr hin. Manchmal riefen sie aus der Telefonzelle beim Sorgentelefon an, aus Neugierde oder Langeweile. Vielleicht auch, weil sie tatsächlich Sorgen hatten. Und einmal im Jahr gab es ein großes Fest, alle waren da und betranken sich, die Kinder durften Zigaretten oder andere Rauchwaren konsumieren und übergaben sich dann in die Büsche, weil sie das Nikotin nicht vertrugen.

Ich traf also M. zwischen diesem Tal im Appenzeller Hinterland und dem Toggenburg in der Südostbahn, es war Sommer und für mich war es ein ziemlich beschissener Sommer, ich hatte soeben die Schule fertig und befand mich in einem sehr unangenehmen postpubertären Vakuum. Ich fuhr jeden Abend mit der Südostbahn nach St. Gallen, setzte mich in eine Bar an der Metzgergasse und trank ein paar Bier mit den Stammgästen da, von denen die meisten männlich, arbeitslos und gegen die vierzig waren, oder jedenfalls sahen sie so aus. Hin und wieder war einer für eine Weile weg, und wenn er wiederkam, behauptete er, in den Ferien gewesen zu sein, in Spanien oder so, manchmal sagte er auch gleich, dass er im Knast gewesen war.

M. und ich verkehrten beide in dieser Bar, von da kannten wir uns flüchtig, deshalb setzte ich mich damals in der Südostbahn zu ihm. Er erzählte, dass er soeben bei seinem im Sterben liegenden Großvater gewesen sei, er hatte gerötete Augen, er hatte geweint, und ich war nervös, weil ich ihn mit den verweinten Augen attraktiv fand. Am Bahnhof nahm er den Bus und ich ging zu Fuß, obwohl wir beide in die Metzgergasse wollten und es vom Bahnhof bis dahin nur knapp fünf Minuten sind, aber er wollte nicht zu Fuß gehen mit seiner Tasche, in der sein gesamter Besitz drin war, wie er sagte.

Ich wusste das erste halbe Jahr nicht, wo M. wohnte, ich glaube, er wohnte damals überhaupt nirgends, denn er hatte diese Tasche ständig bei sich, und wenn wir zusammen waren, schliefen wir immer in irgendwelchen Bruchbuden, bei einsamen Dealern oder im Keller der Bar an der Metzgergasse. Oder wir schliefen überhaupt nicht.

Irgendwann hatte er sich dann doch eine Wohnung gemietet, sah jedoch weitgehend davon ab, sich Möbel anzuschaffen. Ein Bett besaß er nicht. Anfangs schliefen wir in einer Hängematte, die er im Wohnzimmer der kleinen Dachwohnung zwischen den Dachbalken montiert hatte, später kamen zwei Sofas dazu, und irgendwann besorgte er sich eine Luftmatratze, die er in seinem winzigen Schlafzimmer unter das Dachfenster legte und regelmäßig mit einer automatischen Pumpe aufpumpte. Dieses Zimmer war ihm heilig. Wenn er rausging, drehte er den Schlüssel im Schloss und nahm ihn mit. Bald begann sich dort alles Mögliche zu schichten: haufenweise Kleider, leere Bierdosen, Kisten mit Antennen und Geräten, von denen er vage sagte, dass sie etwas mit dem Darknet, einer Höhle im Tessin und einem Verstorbenen zu tun hätten, und fein säuberlich aufgehäuft eine beeindruckende Menge an Schalen von Sonnenblumenkernen am Fußende der Luftmatratze. Irgendwann war eine der leeren Dosen unter die Luftmatratze geraten und hatte ein Loch verursacht. Von da an lagen wir auf den Schafsfellen und der unbrauchbar gewordenen Luftmatratze und er sagte Dinge wie dass ich zu jung und zu unschuldig sei, um mit jemandem wie ihm zu sein.

Ich lebte damals noch bei meinen Eltern in diesem Tal auf dem Land. Einmal, da war ich, nachdem ich eine Nacht mit M. verbracht hatte, nach Hause gefahren, wir hatten uns wohl ordentlich was geballert gehabt und ich weiß nicht, ob ich überhaupt geschlafen hatte, obwohl, ich glaube schon, ich bin auf der Couch weggedriftet in einen flimmernden MDMA-Schlaf und er spielte auf dem E-Piano sanft irgendwelche Melodien, und dann, gegen Abend, als schon wieder eine weitere Nacht anzubrechen drohte, brach ich auf. Ich saß im Zug mit zwei Flaschen, in der einen Wasser, in der anderen irgendein Multivitaminfruchtsaft. Im Abteil nebenan saß ein Kind, es fragte seine Mutter, warum die Frau da zwei Getränke habe, und die Mutter antwortete, dass die Frau halt sehr durstig sei, und ich sagte zur Mutter: »Nein, die Frau hat einfach zu viele Drogen genommen, und außerdem hat sie das Gefühl, dass ihr linkes Auge nicht mehr funktioniert«, oder vielleicht dachte ich das auch nur und sagte nichts. Später saß ich mit meinen Eltern und meiner Schwester am Küchentisch und war tatsächlich auf einem Auge blind, ich sah wohl grauenhaft aus und fiel fast vom Stuhl, aber ich würgte ein paar Bissen runter, an meinen spröden Lippen vorbei, über die geschwollene Zunge hinweg, und dann legte ich mich in meinem Kinderzimmer ins Bett und schlief achtzehn Stunden lang.

Ich verbrachte also diesen Sommer fast durchgehend in meiner kolumbianischen Hängematte, dachte über all diese Dinge nach, während es die ganze Zeit so seltsam roch. Weißweinnebel klebten an mir, die Stadt roch seltsam. Meine Wohnung, meine Mitbewohner, die Männer, mit denen ich schlief – mein ganzes Leben roch seltsam. Und auf meine Haut hatte sich ein glänzender Film gelegt, den ich einfach nicht wegbekam und der seltsam roch. Dieser seltsame Geruch wurde erst weniger, als der Herbst kam.

2

Irgendwann im Herbst, Ende Oktober oder so, saß ich mit meiner Familie in einem Zug, der mit 300 km/h durch die Po-Ebene Richtung Napoli raste, wo wir eine Woche verbringen wollten, also eigentlich in Torre del Greco, einem Ort in der Nähe von Napoli, wo es eine alte Fischfabrik gab und sonst nichts, direkt am Meer und am Fuße des Vesuvs. Die Luft im Zug war schlecht und ich schlecht gelaunt. Unter meinen Augen lagen Schatten.

Wir hatten bei einem Faschisten namens Pio für eine Woche eine Wohnung gemietet. Der Code zum Tresor, in dem der Schlüssel zur Wohnung bereitlag, war 1921, und deshalb, sagte mein Vater, während die Po-Ebene mit 300 km/h an uns vorbeiraste, sei Pio bestimmt ein Faschist. Später stellte sich heraus, dass der Code für das WLAN 1923 war, auch irgendein Eckdatum aus dem italienischen Faschismus. Die Fascho-Wohnung war ganz nett, aber mit den denkbar hässlichsten Ikea-Möbeln ausgestattet, und so saß mein Vater in einem Ikea-Sessel vor einer Ikea-Tapete und las in Die Ästhetik des Widerstands. Meine Mutter saß draußen auf dem Balkon und strickte in der Sonne Socken und meine Schwester neben ihr rauchte Zigaretten und starrte aufs Meer raus. Meine Schwester war fünf Jahre jünger als ich und rauchte inzwischen drei Zigaretten, während ich eine rauchte.

Ich bewohnte das Eckzimmer. Nachts, wenn es stürmte, schien der Wind die Fassade und die Fensterläden wegzutragen und es pfiff durch die Ritzen, alle Wände knarrten. Tagsüber sah ich von meinem Ikea-Bett aus und wenn ich rauchend am Balkongeländer lehnte und über die Wellen hinweg aufs Meer rausschaute, so wie ich es am liebsten den ganzen Tag getan hätte, weit draußen im Dunst: die Insel Capri. Ich machte mir ständig Gedanken über diese Insel, aber ich kam auf keinen Punkt. Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Scheiß-Insel.

Wenn man auf der vom Meer abgewandten Seite der Wohnung rausschaute, blickte man auf einen kleinen, ordentlichen Innenhof, da lagen ein paar Taschen gefüllt mit Früchten auf einem Tisch. Dahinter ragte der Vesuv mitten aus der Landschaft raus, manchmal hatte er etwas Bedrohliches, manchmal etwas Schützendes und manchmal auch beides gleichzeitig. Ich schaute mir diesen riesigen Krater an und fragte mich, wie das wohl so war, wenn der ausbrach und dann über alles drüberejakulierte: über Sorrento, Torre del Greco, Napoli, einfach über alles drüber und ins Meer hinein.

Täglich fuhren wir mit Sammeltaxis von der Fascho-Wohnung zur Haltestelle der Circumvesuviana, jener heruntergekommenen Bahn, die nach Napoli und an der Küste entlang um den ganzen Vulkan herumfuhr. Aus den Boxen in diesen Sammeltaxis dröhnten manchmal irgendwelche Best-of-Reggaeton-Playlists und ich starrte raus auf den Verkehr, den ich nicht verstand.

 

Vier Jahre zuvor war ich gerade eben in Lima angekommen und fuhr mit Gabriela in Bussen und Taxis durch die verstopften Straßen der absurd großen Millionenstadt, aus den Boxen dröhnten entweder Cumbia-Klassiker oder die aktuellen Reggaeton-Hits. Manchmal durchquerten wir so die ganze Stadt, um an der Promenade entlangzugehen und irgendwo Ceviche zu essen, während vom Meer her Wind kam und man draußen vor Lima eine schwarze, felsige Insel liegen sah, die nur von Vögeln bewohnt und vor hundertfünfzig Jahren Grund für einen Krieg zwischen Peru und Chile gewesen sei, wie mir Gabriela erklärte.

Einmal fuhren wir in die Anden und Gabriela heiratete in einem ländlichen Amtsgebäude, in dem es von der Decke tropfte und die Wände Risse hatten, einen Peruaner. Aus einem alten Radio schepperte traditionelle Musik, die hauptsächlich aus unerklärlich hohen Jauchzern bestand. Diese Musik erinnerte mich an das Appenzell und Gabriela erzählte mir später, dass es hier in der Gegend Bräuche gebe, die ganz ähnlich seien wie das Silvesterklausen, mit Masken und Tänzen.

Bei der Hochzeit war ich Trauzeugin und unterschrieb ein Dokument, von dem ich kein Wort verstand. Danach aßen wir Pachamanca, das traditionelle Gericht dieser Region, es bestand aus drei verschiedenen Fleischarten und ebenso vielen Kohlenhydraten: Schwein, Meerschwein, Hühnchen, Kartoffeln, Yucca und Mais. Dazu tranken wir trüben, lauwarmen Kräuterschnaps, die Sonne brannte auf uns nieder, und jedes Mal, wenn sich eine Wolke davorschob, wurde es augenblicklich sehr kühl. Gabriela spielte mit ihrem Ehemann eine Runde Tischtennis im Garten des Restaurants, hinter ihnen tat sich eine weite Ebene auf, am Horizont türmten sich Wolken und eine Bergkette. Ich saß auf einem Plastikstuhl an einem Plastiktisch mit der Familie des Bräutigams und verstand kein Wort von dem, was sie sagten.

Kurz darauf trennte sich Gabriela von ihrem Ehemann und wir reisten Richtung Norden, die beiden liebten sich zwar, aber die Heirat war nur fürs Papier gewesen und Gabriela wollte nach einem Jahr endlich raus aus Lima, dieser unerträglichen Stadt.

Gabriela und ich waren ein halbes Jahr zusammen unterwegs, meistens war noch eine dritte Person dabei und meistens war das ein Mann, den wir irgendwo aufgelesen hatten, ein Argentinier, ein Ecuadorianer oder ein Peruaner. Wir hatten es immer gut, und manchmal hatte Gabriela mit diesem Argentinier, Ecuadorianer oder Peruaner Sex, während ich im selben Bett lag und tief schlief.

Nachdem wir im kolumbianischen Urwald zwei lange Nächte lang auf Ayahuasca getrippt hatten, begannen wir, Städte zu meiden, und hingen nur noch in kleinen, halbtouristischen Dörfern ab. Einmal landeten wir in einem dieser Dörfer, das sehr klein war und rundherum in den Hügeln Kaffeefarmen, so weit das Auge reichte. Damals war es ein Mexikaner, der uns begleitete und der Nacht für Nacht zwischen uns schlief. C.s linke Körperhälfte war voller Tätowierungen und Narben und in seinem Bein steckten noch ein, zwei Kugeln, die man nicht entfernt hatte und die seither unter der Haut ertastbar waren und ihm bei jeder Flughafenkontrolle Probleme bereiteten, weil die Metalldetektoren ausschlugen. Seine rechte Körperhälfte war unerklärlicherweise unversehrt. Das Hostel, in dem wir wohnten, befand sich etwas außerhalb des Dorfes und war eigentlich kein Hostel, sondern eine ziemlich abgefuckte Hippiekommune. Die Hippies nannten diesen Ort Casa del Duende, Zwergenhaus, es bestand aus zwei Hütten mit eingeschlagenen Fenstern, es gab insgesamt nur dreieinhalb Gabeln in der improvisierten Küche und die Dusche war ein Schlauch neben dem Klo, draußen stand ein Zitronenbaum und in der Nähe gab es einen kleinen Fluss, an dessen Ufern wilder Ingwer wuchs.

Das Casa del Duende war also ziemlich romantisch und heruntergekommen, die kolumbianischen Hippies ganz nett, sie trugen Shirts mit Pilzen drauf, abends kifften sie und spielten Djembe und tagsüber gingen sie ins Dorf, um sich an eine Ecke zu setzen und ihren handgemachten Makrameeschmuck zu verkaufen. Wir gingen dann jeweils mit ins Dorf, setzten uns zu ihnen oder in die Smoothiebar am oberen Ende der Straße, wo wir die verschiedenen grünen Smoothievariationen durchprobierten, und wenn wir Lust hatten, stiegen wir noch auf den Hügel über dem Dorf, auf dem ein Denkmal stand. Alle Touristen stiegen dort hoch, und meistens war ein junger Kolumbianer da und verkaufte Galletas, selbst gemachte Haferkekse, die waren nicht besonders gut, aber ich kaufte trotzdem immer welche, weil mir der Kolumbianer gefiel. Manchmal stieg ich auch nur auf den Hügel, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln, und dann kaufte ich Kekse. Aber meistens waren wir zu dritt unterwegs, Gabriela, C. und ich, in der Smoothiebar, in einem der zwei Kaffees, in den umliegenden Hügeln zwischen den Kaffeefeldern oder in dem abgefuckten Hostel. Während wir Smoothies oder Kaffees tranken, erzählte uns C. von einem Mexiko, das er nicht mehr gesehen hatte, seit er die Zeit im Gefängnis überlebt hatte und nach seiner Freilassung direkt nach Indien geflogen war, um sich für ein Jahr im Osho-Ashram in Pune niederzulassen.

Wir verbrachten ein paar Tage in diesem Dorf und reisten an jenem Tag ab, als im Casa del Duende das Wasser ausfiel und sich ein unangenehmer Gestank auszubreiten begann.

Wir fuhren dann direkt mit dem Bus nach Bogotá, wegen unserer Rückflugtickets. Von Bogotá flogen wir nach Spanien, um von da aus über Land zurück in die Schweiz zu reisen. Wir dachten, dass der Kulturschock nach diesen ganzen Monaten Südamerika etwas geringer sei, wenn wir nicht direkt in die Schweiz, sondern erst nach Spanien flögen, schließlich sprach man da ja auch Spanisch. Europa traf uns trotzdem wie eine Faust ins Gesicht. Wir fanden die Spanier unfreundlich und herzlos, ihr Spanisch ziemlich hässlich, die Luft irgendwie seltsam und sowieso alles zu teuer.

C. hatte sich uns spontan angeschlossen, er war noch nie in Europa gewesen und also begleitete er uns erst nach Spanien, dann nach Frankreich und am Ende in die Schweiz, Geld für die Reise hatte er mehr als genug, schließlich war er Erbe eines der größten Drogenkartelle Mexikos. Aber zuerst irrten wir in Madrid umher, und weil es uns da überhaupt nicht gefiel, fuhren wir nach Barcelona, wo wir bei einer kolumbianischen Salsalehrerin mit Schilddrüsenfehlfunktion unterkamen, die ziemlich überdreht und außerdem Buddhistin war und täglich laut irgendwelche Mantras herunterratterte. Durch sie lernten wir eine französische Hippiefrau kennen, die in der Nähe von Carbonne, einer unscheinbaren französischen Kleinstadt, auf einem Hof lebte und uns zu sich einlud. Also fuhren wir da hin. Es lag sowieso einigermaßen am Weg.

Der Ayahuasca-Trip hatte zur Folge gehabt, dass ich das Schreiben wiederentdeckte, schließlich musste ich das Erlebte irgendwie verarbeiten, es drohte mich zu erdrücken. Also schrieb ich die ganze Zeit manisch, und manchmal schrieb ich so lange, dass ich an Orte driftete, an die ich lieber nicht gedriftet wäre, und dann trat ich aus meinem Körper raus, sah mich von oben, und ein ohrenbetäubendes Dröhnen schwoll in mir an. Manchmal schrieb ich auch einfach zwanghaft jedes Detail dessen nieder, was ich erlebte, wenn ich nicht gerade schrieb. Und so schrieb ich auch ununterbrochen, als wir diese Hippiefrau in Frankreich besuchten, die uns auf ihren Hof eingeladen hatte.

Nach den Tagen in San Sebastian brachen Gabriela und ich nach Frankreich auf. Ich war in dieser Zeit öfters und immer wieder abgedriftet in ein warmes Gefühl der Gedankenlosigkeit und hüllte mich zufrieden in mich selbst. Wir beschlossen, den Weg nach Carbonne per Anhalter zurückzulegen, und bald hatten wir die Grenze überquert, fuhren durch die Landschaft vor den Pyrenäen, standen an Autobahneinfahrten, ohne Wasser und Essen in der Hitze, 34 Grad im Schatten und kein Hauch eines Luftzuges.

Den letzten Teil der Reise legten wir mit dem Zug zurück und ließen uns von Elisabeth am Bahnhof in Carbonne abholen. Bei ihr zu Hause erwarteten uns C., vier Freundinnen von Elisabeth und ihre Tochter. Als es dämmerte, aßen wir alle gemeinsam in der Küche, das große Fenster umrahmt von Efeu und sperrangelweit offen. Von draußen drang von Zeit zu Zeit ein Schwall trockener Landluft herein und mit ihr der Geruch der gemähten, austrocknenden gelben Felder, ein Duft, der demjenigen von C.s Haar ganz ähnlich war.

Nach dem Essen ließen wir C. mit dem schmutzigen Geschirr in der Küche zurück und folgten Elisabeth und ihren Freundinnen zu einer kleinen Weidenhütte, wo sie monatlich ein Leermondritual durchführten. Wir stellten uns vor der Hütte im Kreis auf und reinigten unsere Chakren mithilfe von brennendem Salbei, Eulenfedern und Tambourenschlägen. Dann traten wir dem Alter nach abfallend ein.

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