Dämon und Lamm

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Karla starrte mich an wie einen Geist. Sie roch nach Rauch, und ihre Nasenspitze glänzte. Ihre Augen waren rotgerändert vom Zigarettenqualm. Taubenuss ist nämlich eine starke Raucherin - ein Laster, mit dem sie gern während ihrer Lesungen kokettiert. Sämtliche Finger ihrer rechten Hand waren quittengelb vom Nikotin, und rings um den Mund hatte sie tief eingegrabene Furchen. Sie sah viel älter aus als auf den Fotos ihrer Website.

Karlas Augen flogen furchtsam zur Tür und hefteten sich dann wieder auf den Spiegel, aus dem heraus mein Gesicht sie unbarmherzig anstarrte. Schließlich schien sie sich zu einem Entschluss durchzuringen. Sie warf die Lippen auf, und ein Ausdruck anmaßenden Stolzes legte sich über ihre Züge.

Ich drehte ich mich zu meiner Feindin um und blickte ihr direkt in das leicht gedunsene Gesicht. Ein rasendes Verlangen brandete in mir auf, Karla zu packen und ihren Kopf gegen die Wand zu schmettern, wieder und wieder, doch ich kämpfte diesen atavistischen Impuls meines Reptiliengehirns nieder. Stattdessen zog ich die grauenhafteste Grimasse, zu der ich imstande bin, riss die Augen weit auf und fletschte die Zähne wie eine wahnsinnig gewordene Hyäne. Ich weiß, dass ich so wahrhaft furchterregend aussehe, denn ich habe mal in der Hitze eines Taek Wondo-Trainings eine solche Grimasse gezogen, und mein Sparringspartner, eins siebenundachtzig groß und fast hundert Kilo schwer, sprang einen Meter zurück und erstarrte vor Schreck.

Auch Taubenuss machte einen Satz zurück und erstarrte. Auf ihrem Gesicht malten sich Schock und Unglauben. Gerade als sie den Mund aufriss und loskreischen wollte, zischte ich sie an: „Denk an die Schwarze Susanna und an Wladimir!“

Die Schwarze Susanna und Wladimir sind Figuren aus meinem unveröffentlichten Roman Kälteschauer. Sie sind Spaltpersönlichkeiten der tragischen jungen Julia, die als Kind von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht wurde und darüber multipel geworden ist. Die Schwarze Susanna ist so voller Wut und Hass, dass sie am liebsten jeden Menschen im Umkreis von tausend Metern töten würde, und der Witz ist, dass die sanftmütige Julia von diesen ihren mörderischen Impulsen nicht die geringste Ahnung hat. Auch Wladimir, ihre zweite Spaltpersönlichkeit, ist ein ausgemacht brutaler Kerl. Ich würde diesen beiden nicht gern in einer finsteren Gasse begegnen.

Diese zwei Gestalten also schleuderte ich Taubenuss vor die Füße wie einen scharfkantigen Obsidian. Karla klappte den Mund zu und starrte mich angsterfüllt an. Ich drehte mich um und verließ still die Damentoilette. Die schwarze Susanna und Wladimir sind Mörder. Taubenuss aber wird auf zivilisierte Weise erledigt, schließlich bin ich kein Orang-Utan.

Karla. Als Jammerliese bei meiner Preisverleihung auftauchte und sich dreist in die erste Reihe setzte, dachte ich mir, naja, soll sie, was kann sie schon machen, das elende Gespenst. Auch als sie zum zweiten Mal mit diesem albernen Dalmatiner an meinem Haus vorbeistiefelte, hab ich mich noch nicht groß aufgeregt. Gestern aber hat mir die hässliche Missgeburt auf der Toilette der Uranus-Buchhandlung aufgelauert. Ich stand, noch ganz erfüllt vom rasenden Applaus meiner begeisterten Fans, vor dem Waschbecken, da kam Jammerliese aus einer der Toilettenkabinen, stellte sich direkt neben mich und starrte mich im Spiegel an. So ein freches Luder! Und noch ehe ich mich von meinem Schock erholen konnte, dreht sie sich zu mir um, fletscht die Zähne und rollt mit den Augen, dass man das Weiße sah. Jammerliese sah richtig wahnsinnig aus, und ein paar Sekunden lang hatte ich tierische Angst. Schließlich war außer uns kein Schwein in der Nähe. Was, wenn das dumme Luder jetzt durchdrehte und mit einem Schnappmesser auf mich losging?

Aber nicht doch, wir kennen doch unsere Jammerliese. Alles falscher Alarm. Außer Zähne fletschen und ein bisschen Drohen hat sie nichts gemacht. Ich bin schnell aus der Toilette raus und wieder in den Lesebereich, wo meine treuen Fans mich erwarteten. So ein unverschämtes Miststück! Na, von jetzt ab hab ich auf Schritt und Tritt jemanden bei mir, selbst beim Gang zum Klo. Möglicherweise hab ich Jammerliese falsch eingeschätzt. Wenn ich an ihre Figuren Wladimir und die Schwarze Susanna denke - das sind schon verdammt gewalttätige Typen, die vor Hass und Rachsucht fast bersten. Andrerseits hat sie ja außer Grimassen schneiden nichts getan, obwohl wir allein im Toilettenraum waren. Wenn ich mir vorstelle, was ich ihr antäte, wenn sie bei mir eingebrochen wär, mich beklaut hätte und meine Werke als ihre ausgäbe: Ich würde sie bei lebendigem Leib vierteilen, ihre Viertel auf dem Rost braten und sie verschlingen.

Aber vermutlich sehe ich Jammerliese doch richtig: Die droht bloß, tut aber nichts. Mensch, es ist wirklich ein Glück, dass sie so eine blöde Pazifistin ist. Ich will mir gar nicht ausmalen, was mir passieren könnte, wenn sie mein Temperament hätte. Aber in Anbetracht ihres schwächlichen Charakters kann ich mich wahrscheinlich einigermaßen sicher fühlen.

Jammerliese ist übrigens sehr dünn geworden, richtig hundsmager. Tja, das macht die Erfolglosigkeit, Jammerliese! Du bist ein dürres, altes, vertrocknetes Huhn. Andrerseits überlege ich schon, ob ich nicht besser damit aufhöre, sie in meinen Büchern noch obendrein zu verhöhnen. Das bringt sie sicher noch zusätzlich in Wut, was aber eigentlich auch beabsichtigt ist. Ich baue in jeden meiner Romane eine Figur ein, die Jammerliese darstellen soll. In Das Fresiengespenst war es eine abgehalfterte alte Malerin mit einem lahmen Bein, die einer frechen jungen Konkurrentin weichen und ihren Liebhaber an sie abtreten muss. In Krähen im Nebel, Raben im Geäst war es eine unreife Halbwüchsige, die Konflikte mit ihrer autoritären Mama hat, und deshalb alkoholsüchtig wird. Und in Eisbären überall war es eine unerfüllte reiche Bulimikerin, die ständig mit ihrem Aussehen beschäftigt ist, ohne ihre Vitamintabletten nicht leben kann und pausenlos kotzt. Schließlich hat mir Jammerliese für all diese Personen in ihren Romanen Vorlagen geliefert. Ich reichere diese Personen bloß noch mit Details aus Jammerlieses Erinnerungen an, und fertig ist die scharfe Waffe, die ihr tief ins Herz dringen soll. Ich benutze auch immer die Originalnamen all ihrer Figuren. Natürlich nicht alle auf einmal oder in einem Buch. Aber nach und nach kommen sie alle an die Reihe. So schnell wird mir der Nachschub auch nicht ausgehen, denn bei meinem dritten Besuch in ihrer Wohnung hab ich nicht nur den kompletten dritten Band ihrer Serie auf der Festplatte gefunden, ich hab auch Jammerlieses Liste interessanter Namen, die sie für ihre Romanfiguren vorgesehen hatte, mit meinem Handy abfotografiert.

Diese Liste ist überaus nützlich. Überhaupt macht Jammerliese für mich all die zeitaufwendigen Vorarbeiten und zweckdienlichen Recherchen, was sehr bequem ist. Auch Michelangelo hat ja nicht alles selbst gemalt, sondern die Umrisse und Grundierungen von seinen Schülern machen lassen. Ich glaub, ich werde sie in meinen Werken auch weiterhin aufs Korn nehmen. Es ist wichtig, sie richtig zu demoralisieren, denn so halte ich sie unter Kontrolle. Wenn sie sich bis aufs Blut quält, hat sie keinen Mumm mehr, sich mir in den Weg zu stellen. Deshalb hab ich ihr auch indirekt angedroht, sie bis auf die Knochen bloßzustellen, wenn sie mir in die Quere kommt. Das war im zweiten Band meiner Serie um Judy Krawik, die zufällig genauso aussieht wie Lara Andernach und sich auch genauso benimmt, haha. Sowieso hab ich Jammerliese mit ihren Erinnerungen fest an den Eiern. Da stehen nämlich total peinliche Sachen drin.

Siri. Gestern habe ich Karlas Haus besprüht. Ich kam in tiefster Nacht mit zwei Dosen Lackfarbspray, eine in Giftgrün und die andere in blutigem Rot. Außerdem hatte ich einen starken Handstrahler. Ich war von Kopf bis Fuß in Schwarz und trug uralte, an der Sohle komplett blankgewetzte Turnschuhe. Dicht bei Karlas Haus stank es elendig nach Katerurin – eine durchdringende, widerwärtige Ausdünstung, bei der ich mir am liebsten die Nase zugehalten hätte.

Ich sprühte Diebin! und Einbrecherin! in Blutrot auf die Stirnwand ihres Hauses, und darunter Plagiatorin! und Hochstaplerin! in Giftgrün. Es war nicht gerade einfach, im Stockdunklen sauber zu arbeiten, aber ich führte die Spraydose mit der Rechten und ließ mit der Linken den Lichtstrahl des Handstrahlers parallel wandern, sodass ich einigermaßen sehen konnte, was ich tat. Obwohl ich es wegen der Dunkelheit nicht richtig beurteilen konnte, hoffe ich, dass die brandroten und giftgrünen Farben auf Karlas pissgelber Wand eine schauerliche Wirkung entfalten werden. Die Beschriftung dürfte jedenfalls von der Pfauenstraße aus gut zu sehen sein, ich habe riesige Drucklettern gesprüht.

Anschließend huschte ich wie ein Schatten zu meinem betagten Mercedes zurück, den ich weit weg von jeder Straßenlaterne unter den tiefhängenden Zweigen einer Trauerweide versteckt hatte. Diesen Mercedes habe ich noch aus besseren Zeiten, doch ich fahre ihn selten. Das Benzin ist einfach zu teuer. Bevor ich in den Wagen sprang, zog ich mir den schwarzen Overall und das lange schwarze T-Shirt aus. Ich streifte auch die abgewetzten Schuhe und die Schirmmütze ab, die ich über meine zusammengenestelten Haare gestülpt hatte. Dann stopfte ich den ganzen Kram in eine geräumige Plastiktüte und raste mit dem Wagen heim. Essen konnte ich nichts; alles, was ich probierte, schmeckte wie ranziges Mehl. Ich ließ meine Spiegeleier auf dem Küchentisch erkalten und verkroch mich mit einem Malventee ins Bett, wo ich über mein weiteres Vorgehen nachgrübelte.

Taubenuss ist nämlich überzeugt, sie hätte mich mit meinen überaus persönlichen Erinnerungen fest unter dem Daumen, und ich würde es nicht wagen, etwas gegen sie zu unternehmen. Das geht aus ihren Machwerken und den darin eingeflochtenen vorsichtigen Drohungen klar und deutlich hervor. Dabei kräht doch nach dem, was in meinen Erinnerungen steht, heute kein Hahn mehr. In jedem ins Internet gestellten Teenagererguss liest man viel schärfere Sachen. Aber klar, in ihrem Herzen ist Karla natürlich eine kleine Spießerin und findet meine Erinnerungen deshalb so spektakulär. Und natürlich rührt ihre lächerliche Fehleinschätzung auch daher, dass sie glaubt, die Welt interessiere sich für Schriftsteller. Arme Karla. Die Welt interessiert sich für Paris Hilton, Dieter Bohlen und Angelina Jolie, nicht für Schriftsteller. Deine vermeintliche Waffe ist stumpf, Taubenuss, und wenn du endlich begriffen hast, was wirklich auf dich wartet, wird es zu spät sein.

 

Am nächsten Morgen schlang ich ein Croissant herunter und trank drei Tassen schwarzen Kaffee. Dann flitzte ich mit dem Rad zum Hauptbahnhof, um von einer Telefonzelle aus die Kulturredaktion des Kölner Reports anzurufen. Der Kulturredakteur ist ein sensationslüsterner Kerl namens Bert Randow, den ich bei der Vernissage der naiven Malerin Veronique Sarkowski kennengelernt hatte. Sarkowski malt grauenhaft schlechte Bilder, aber das gehört nicht hierher. Von Randow meldete sich mit einer tiefen heiseren Stimme, der man den jahrzehntelangen Whiskykonsum deutlich anhörte. „Am Haus von Karla Taubnessel gibt es eine Sensation zu sehen“, haspelte ich in den altmodischen Hörer.

„Karla wer?“

„Karla Taubnessel, die bekannte Literatin.“

„Ach die“, brummte Randow. „Und worin besteht die Sensation?“

„An ihrem Haus stehen wüste Schmähungen, die sollten Sie sich nicht entgehen lassen.“

„Hören Sie“, begann Randow und machte ein schlürfendes Geräusch; offenbar trank er gerade Kaffee. „Zunächst mal brauche ich Ihren Namen und anschließend-“

„Taubnessel wohnt im Pfauenweg 9“, unterbrach ich ihn und hörte, wie er mit Papier raschelte und geräuschvoll zu kauen begann. „Und mein Name ist Cindy Ribbentrop.“

„Ach nee!“, sagte Randow feixend.

Ich hängte den Hörer ein und stürzte aus dem Bahnhof. Zu blöd, diese Sache mit von Ribbentrop. Warum ich ausgerechnet auf den Namen einer Nazigröße verfallen war, konnte ich mir selbst nicht erklären. Aber immerhin hatte ich das von weggelassen und meine Stimme verstellt. Tatsächlich hatte ich versucht, die blecherne Mickymausstimme von Taubenuss nachzuahmen, indem ich höher sprach als normal und etwas atemlos und piepsend, was mir aber nicht recht gelungen ist.

Doch Bert Randow hatte offenbar trotz allem angebissen, denn am nächsten Morgen waren die Schriftzüge an Karlas Haus der Aufmacher des Kölner Reports. Auf der Titelseite prangte ein Foto von Taubenuss, die mit empörter Miene auf ihre geschändete Hauswand starrte. Ich verschlang den Artikel mit hungrigen Augen. Er war ein wenig hämisch geraten, also scheint auch Randow Taubenuss nicht gerade ins Herz geschlossen zu haben. Der beigefügte zweite Schnappschuss war auch nicht viel schmeichelhafter. Karla sah aufgeblasen aus und noch dicker als sonst, und ich erspähte einen Anflug von Hamsterbacken.

Zum ersten Mal, seit ich Taubnessels Schandtaten entdeckt hatte, atmete ich frei durch. Ich schlenderte mit dem Kölner Report in der Hand in meine Küche, wo Kalamaki aufgekratzt um meine Knöchel strich. Ich köpfte einen Piccolo und trank das erste Glas im Stehen, mit genüsslich zurückgelegtem Kopf, während Kalamaki seine rosa Nase gegen meine Waden stupste, um mir klarzumachen, dass er mitfeiern wollte.

Ich gab Kalamaki ein kleines Stück Camembert, sein derzeit bevorzugtes Lieblingsleckerli, und zog mich mit dem Kölner Report und einem frisch gefüllten Sektkelch ins Wohnzimmer zurück, wo ich auf mein Cordsamtsofa sank. Kalamaki folgte mir geräuschlos und sprang auf meine Knie. Er trampelte eine Weile mit den Pfoten auf mir herum, ehe er es sich bequem machte und in einem tiefen, fast grollenden Ton zu schnurren begann. Ich schloss meine Hände um meinen Kater und lächelte gelöst. Zum ersten Mal seit mehr als einem Jahr fühlte ich mich von dem rasenden Schmerz befreit, den Taubnessel mir mit ihren bösartigen Teufeleien zugefügt hat.

Wie ein Flashback blitzte ihre Website vor meinen Augen auf. Ein nicht sehr attraktives Foto von ihr hängt über dem aufgeblasenen Text wie eine düstere Gewitterwolke. Karla twittert auch gern und häufig. Dabei erläutert sie ihren Lesern, in welch einsamen Qualen sich eine Künstlerin winden muss, um ein Werk zu gebären. Was in ihrem Fall besonders peinlich ist, da sie noch nie etwas anderes geboren hat als ungelenke Dialogversatzstückchen, die ihre von mir geklauten Texte mehr schlecht als recht aneinanderbinden. Wirklich erstaunlich, dass sie ihren Lesern noch nicht erzählt hat, wie oft sie am Tag Pipi macht.

Ich lächelte und hob mein Glas in der Parodie eines Trinkspruchs.

Du wirst noch Heulen und Zähneknirschen, Taubenuss!

Karla. Als ich die Schmierereien an meinem Haus sah, war mir sofort klar, dass die nur von Jammerliese sein konnten. Von diesem armseligen Plasma, das sich nicht mal wehrt, wenn man ihr alles klaut, was sie je verzapft hat. Dieses Geschmiere an meiner Frontwand ist doch bloß das Werk einer wütenden Maus, das nehme ich überhaupt nicht ernst. Ich werd das der Presse gegenüber auch gar nicht weiter kommentieren. Dieser ekelhafte Randow, der wie aus dem Nichts heraus plötzlich vor meiner Haustür stand, schien sich über meine Fassungslosigkeit auch noch zu amüsieren. Na, ich habe den unverschämten Burschen stehenlassen, bin ins Haus gerannt und habe Martin im Büro angerufen. Diese verdammten Pressefuzzis sind doch richtige Aasgeier. Alle wollen sie einem ans Leder.

Leider kriege ich im Moment sowieso ziemlich viel Gegenwind. Für meinen Roman Eisbären überall hab ich ein paar unglaublich unverschämte Kritiken kassiert, da musste ich echt schlucken. Dolf Klöver, der Cheflektor des Hauschildtverlags, behauptete, mein Zeug sei mechanisch zusammengehauen und ein total seelenloses Geschreibsel, das man sofort vergäße, sobald man das Buch aus der Hand gelegt hat. Da käme einfach gar nichts rüber, kein sinnvoller Gedanke und kein lebendiges Gefühl. Dieser widerliche Schmierfink! Der kommt ganz oben auf meine Hassliste. Leider haben auch noch ein paar andere Kritiker in das gleiche Horn getutet. Natürlich muss man diesen Kritikermist nicht wirklich ernst nehmen, aber er macht mich wütend. Was fällt diesen jämmerlichen Typen ein? Die sind doch alle bloß giftig, weil ich erfolgreich bin. Die wären selbst gern Schriftsteller, können es aber nicht. Diese Kerle sind einfach grün und gelb vor Neid.

Siri. Es ist mir ehrlich gesagt schleierhaft, warum Taubenuss unbedingt Schriftstellerin sein will, da sie doch zum Schreiben so gut wie keine Begabung zeigt. Warum sattelt sie nicht auf Einbrecherin um? Als Gesetzesbrecherin ist sie nämlich ein beachtliches Talent. Aber natürlich muss man sich bei einer kriminellen Karriere im Schatten halten, während Taubenuss doch auf Teufel komm raus ins Rampenlicht will. Wenn man ihr Internet-Tagebuch liest, begreift man sofort, dass sie sich für einen verkappten Rockstar hält.

Es ist wirklich jammerschade, dass ich Karlas kriminelle Machenschaften erst nach fünf Jahren entdeckt habe. Und wenn sie nicht so dreist gewesen wäre, eine meiner Figuren - die dänische Ärztin Mathilda Palmgren - komplett zu übernehmen, hätte ich es vermutlich nie gemerkt. So aber stolperte ich bei einer Internetrecherche über die Rezension eines Romans namens Krähen im Nebel, Raben im Geäst, in dem die dänische Ärztin Mathilda Palmgren eine tragende Rolle spielt. Und so kam alles ans Tageslicht.

Danach hockte ich wie betäubt vor dem Monitor und fühlte mich, als hätte mir ein Mastodon den Huf in den Solarplexus gerammt. Doch das war nichts gegen das Grauen, das mich erfasste, als ich nach und nach den Umfang ihrer Diebstähle erkannte. Erst ganz allmählich begriff ich nämlich, dass sich alles, was ich in rund dreißig Jahren geschrieben hatte - vieles davon noch unveröffentlicht -, in Taubnessels dreckigen Diebeshänden befand.

Das verursachte mir eine rasende Seelenpein. Es fühlte sich an, als vergewaltige Taubnessel ohne Unterlass mein Gehirn, während ich von den Flammen des Hasses, die in meiner Brust wüteten, langsam aufgezehrt wurde. Nach dem ersten Einbruch haben Taubnessel und ihr Helfer übrigens ein Schlüsselset von mir mitgenommen, was ich wiederum erst Jahre später merkte. Das Schlüsselset lag griffbereit in einem Messingkästchen in meiner obersten rechten Schreibtischschublade. Danach sind die kriminellen Schweine noch zweimal wiedergekommen und haben meine Festplatte erneut kopiert; schließlich brauchte Taubnessel ja Nachschub. Karla ist nämlich völlig fantasielos. Sie kann sich nicht mal die simpelsten Dinge ausdenken und schreibt ungelenk wie ein Schulkind. Wenn sie mal eine kleine Passage selbst schreibt. Die erkennt man immer auf Anhieb, weil ihr Stil gegenüber dem von mir Abgekupferten so unsäglich abfällt. Ich habe nie verstanden, wieso ihrer Lektorin diese Brüche nicht auffallen, aber vermutlich ist die Dame mit von der Betrugspartie. Schließlich muss ja irgendwer Karla mein an den Kondorverlag gesandtes erstes Romanmanuskript in die Hand gedrückt haben.

Übrigens habe ich mir jetzt selbst einen Einbrecher gemietet. Mein Einbrecher heißt Victor, was ich als gutes Omen ansehe. Ich habe Victor im Hauptbahnhof aufgestöbert, wo man Pistolen, Huren, Heroin und sogar Auftragskiller bekommt, falls man welche möchte. Victor ist aber kein Halsabschneider, sondern nur ein routinierter Einbrecher mit erfreulich langer Berufserfahrung. Ich habe ihn mit meinen letzten Kröten dafür bezahlt, in Taubnessels schwefelgelben Bungalow einzusteigen, von dem meine hübsche und äußerst treffende Beschriftung inzwischen abgewaschen wurde. Taubenuss ist seit zwei Wochen auf einer Lesereise durchs Ruhrgebiet, während der ergebene Martin einen Kurzurlaub auf Ibiza macht. Also eine äußerst günstige Zeit für einen Einbruch.

Karla. Jammerliese ist doch wirklich ein Geschenk des Himmels. Seit ihren Schmierereien an meiner Frontwand hat der Verkauf meiner Bücher nämlich wieder ein bisschen angezogen. Uff! In den Klappentexten verkauft mich mein Verlag zwar als Bestsellerautorin, aber tatsächlich laufen meine Bücher gar nicht so toll. Dass ich davon leben kann, wie ich auf meiner Website behaupte, ist jedenfalls gelogen. Aber die Leute sind ja so leichtgläubig. Die schlucken einfach alles, was gedruckt ist oder im Internet erscheint. Denen fällt auch nicht auf, dass meine Biografie frei erfunden ist, und dass die Experten, bei denen ich mir angeblich Rat geholt habe, zum größten Teil überhaupt nicht existieren. Jammerliese merkt es natürlich, weil ich alle Experten mit den Vornamen ihrer Protagonisten ausgestattet habe, aber sonst merkt es offenbar keiner. Es ist wirklich ein Segen, dass Martin mit seinem Schlüsseldienst so gute Geschäfte macht, sonst wäre unser Lebensstandard nämlich ganz schön armselig. Aber der Schlüsselladen ist einfach eine Goldgrube.

Jetzt hat mir Jammerliese mit ihren Beleidigungen doch tatsächlich noch eine Auflagensteigerung verschafft. Tja, sie ist eben eine hirnlose Kuh. Erst lässt sie sich wie ein Gimpel beklauen und merkt es erst nach fünf Jahren, und dann tut sie trotzdem nichts. Ich hab das natürlich vorausgesehen; schließlich steht in ihren Erinnerungen, dass ihr Vater sie als Kind ständig schwer geprügelt hat. Das hat ihr anscheinend das letzte bisschen Mumm ausgetrieben. Falls Jammerliese jemals so was wie Mumm besessen hat, was ich bezweifle. Die hat sich ja auch von ihren Schulkameraden klaglos verdreschen lassen. Und heute ist sie eine New Age-Anhängerin und Esoterikerin, die daran glaubt, dass man verzeihen muss. Na, sie ist eben eine Idiotin. Ihr Romanmanuskript über eine Kindheit zwischen Prügeln, sexueller Belästigung und brutaler Unterdrückung ist allerdings wirklich prima. Und ich hab es in meinem Besitz, ha! Ehe Jammerliese es schafft, auch nur ein Wort davon zu veröffentlichen, hab ich ihr auch diesen Stoff schon dreimal geklaut.

Natürlich muss man das ein bisschen verändern, es verharmlosen und ein bisschen Kitsch einbauen. In Jammerlieses Original ist das doch einfach viel zu brutal. So was will kein Schwein lesen. Aber zum Ausschlachten sind ihre Texte durchaus brauchbar. Fantasie hat sie, unsere Jammerliese. Andrerseits ist es ja nicht so, als ob sie eine tolle Schriftstellerin wär. Ich meine, sonst würd doch irgendwer ihr Zeugs drucken, oder? Ich nehme einfach ihr Rohmaterial, mit dem sie ja sowieso nichts Gescheites anfängt, und mache daraus zeitgemäße, heitere Romane auf einem Niveau, das die Durchschnittsleserin versteht. Deshalb findet sich auch meine Judy Krawik zu dick und ihr Haar strähnig und struppig, denn den meisten Frauen geht’s ganz genauso. Damit können die sich identifizieren.

 

Siri. Victor hat ein paar interessante Details zutage gefördert. Zwar ist der größte Teil meines Notgroschens jetzt weg, aber dafür weiß ich, dass Taubenuss in Gütertrennung lebt, vierzehn Jahre älter ist als ihr Kerl und spießige weiße Baumwollschlüpfer trägt. Sie hat Kleidergröße achtundvierzig und ist nicht siebenunddreißig, wie sie in ihren Klappentexten behauptet, sondern siebenundvierzig. Victor hat alle interessanten Dokumente, an die er herankam, fotografiert. Man kann nie voraussagen, wozu man so etwas nochmal braucht. Er hat auch ein paar Fotos von Taubenuss und ihrem Kerl mitgehen lassen. Martin sieht darauf aus wie ein richtiger Hallodri. Er hat sich ein blondes Gemsenbärtchen zugelegt und trägt ein mokantes Lächeln im Mundwinkel. Seine Augen sind hell und haben einen arroganten Ausdruck. Es ist ein unverschämter Blick, der signalisiert, dass er nichts anbrennen lässt, wenn er eine Chance wittert.

Ich denke, ich werde Natascha auf ihn ansetzen. Natascha ist fünfundzwanzig Jahre jünger als Taubenuss und hat lange, hellbraune Locken. Außerdem hat sie schwarze Augen, die wie mit Milch gefüllt aussehen. Natascha ist Halbpakistanerin mit einer deutschen Mama und sehr verführerisch. Ich habe sie während der Recherchen zu meinem Buch Spiel mir das Lied vom Sex kennengelernt, einer Reportage über das deutsche Rotlichtmilieu. Natascha hat nämlich eine Zeitlang als Callgirl gearbeitet, aber seit neuestem studiert sie Archäologie. Natascha mag mich, und sie schuldet mir noch einen Gefallen. Ich bin sicher, dass sie mir helfen wird. Außerdem braucht sie ja nicht wirklich mit Martin zu vögeln. Es reicht völlig, wenn sie ihn in eine peinliche Situation bringt - nackt auf einem Hotelbett, in den Armen einer aufregenden, ebenfalls fast nackten Frau. Die Fotos kann Victor schießen. Professionelle Qualität ist nicht nötig, einfache Schnappschüsse tun‘s auch. Victor sollte nur möglichst nah rangehen.

Karla. Hoffentlich sitzt Jammerliese in Duisburg nicht wieder im Publikum! Ich hatte meine Lesung in der Rochus-Buchhandlung zwar bereits abgesagt, werde sie jetzt aber doch halten. Ich hab allerdings schon Schiss, dass sich die dämliche Kuh wieder in eine der ersten Reihen hockt und mich blöde anstiert. Diese Anstiererei ist echt nervig, auch wenn es nur Jammerliese ist. Zu allem Überfluss liegt mein Bodyguard mit einem Aneurysma in der Uniklinik. Blöder Hund. Ich finde, es ist seine Aufgabe, auf mich aufzupassen und nicht im Spital herumzuliegen. Ich wollte Martin und Steffi zur Lesung mitschleifen und ihnen auftragen, Jammerliese scharf im Auge zu behalten, aber beide haben keine Zeit.

Uff! Ich meine, Jammerliese ist ja bloß ein blöder erfolgloser Niemand, aber es ist doch leichter, eine Lesung zu halten, wenn sie nicht da ist. Natürlich hat die dämliche Gans nicht die geringste Chance, mich aus dem Sattel zu werfen, dafür habe ich mich viel zu gut abgesichert. Aber schön ist der Gedanke nicht, dass sie wieder im Publikum hockt und glotzt. Ach, was soll’s, Ohren steif und durch! Jammerliese ist doch nichts weiter als ein armseliger Loser. Außerdem, was hab ich ihr denn schon getan? Klar, ab und zu hab ich eine von ihren Formulierungen genommen, manchmal auch eine ganze Szene oder eine komplette Person. Oder auch mehrere. Jammerliese formuliert ganz nett und erfindet recht brauchbare Figuren, aber das ist auch schon alles, was sie kann. Sie ist eine unbedeutende, erfolglose Null, die sich in ihrer Freizeit ein paar Geschichten ausdenkt, die keiner lesen will. So sehe ich das. Ich bringe ihr Zeug erst unter die Leute. Sie liefert vielleicht den Teig, aber ich hole das gebackene Brot aus dem Ofen, ha! Jammerliese ist einfach viel zu rechtschaffen. Wahrscheinlich will sie deshalb keiner drucken, da brauchte ich gar groß nachzuhelfen. Natürlich war auch ihre gesamte Korrespondenzakte auf der Festplatte, und so war ich immer bestens informiert, welchem Verlag sie ihr Manuskript gerade angeboten hatte. Da genügte dann ein schlichter Anruf meiner Lektorin, und die Leute haben ihr das Zeug wie eine heiße Kartoffel retourniert.

Tja, so ist das Leben, Jammerliese! Nur die Starken überleben. Wer nicht wagt, gewinnt auch nix. Schau mich an, ich hab was riskiert und gewonnen. Und wo bist du heute? Kein Schwein erinnert sich mehr an deinen Namen. Keiner will deinen Kram lesen. Den vermarkte jetzt ich, denn heutzutage ist literarisches Junk Food angesagt. Aber das hast du dummes Luder nie begriffen.

Siri. Victors Fotos sind einfach brillant. Martin liegt mit glasigen Augen und halb erigiertem Schwanz auf einem Hotelbett im eleganten Ambassadeur, und Natascha beugt sich über ihn - nur mit einem aufreizenden Schlitzhöschen und Strapsen bekleidet. Das mit dem nur halb erigierten Schwanz ist schade, aber mehr war bei Martins Alkoholpegel leider nicht drin. Aber auch so sind es gelungene Bilder.

Natascha hat mir erzählt, dass sie Martin nicht viele Fallen zu stellen brauchte. Der Kerl sei ihr praktisch in den Schoß gefallen wie eine überreife Mango. Wir saßen im Café Central, tranken Cappuccino mit Schlagsahne und Schokoladenstreuseln und waren blendender Laune. Natascha hatte Martin in seiner Stammkneipe Backes aufgegabelt, wo er gerade das sechste Bierchen zischte, und ihn nach allen Regeln der Kunst abgeschleppt. Die beiden Eingangssätze, die ich ihr eingebläut hatte - “Das muss doch ermüdend für Sie sein, so eine prominente Frau zu haben! Bestimmt interessieren sich alle nur noch für sie“ - haben Wunder gewirkt. Martin stürzte sich wie ein ausgehungerter Hai auf den Köder und schluckte ihn mit Haut und Haar, was mich nicht erstaunte. Schließlich ist ja bekannt, dass die meisten Männer mit dem Erfolg ihrer Frauen ziemlich schlecht zu Rande kommen. Das sieht man schon daran, dass die Liste bildschöner Schauspielerinnen, die kurz nach dem Empfang eines Oscars von ihrem Kerl verlassen oder öffentlich gedemütigt wurden, von Jahr zu Jahr länger wird.

Martin jedenfalls beklagte sich heftig über seine Rolle als Prinzgemahl und bekundete, dass er es „satt habe bis obenhin“. Von da bis zum Bett im Ambassadeur war es ein Kinderspiel. Während Martin im Bad seine prall gefüllte Blase entleerte, öffnete Natascha Victor leise die Tür und ließ ihn hinter die blausamtenen Fenstervorhänge schlüpfen. Das Bett stand praktischerweise sehr nahe beim Fenster, sodass Victor tolle Nahaufnahmen schießen konnte.

Nachdem ich meinen Fotografen und Einbrecher für seine Dienste entlohnt und Natascha die Spesen - einige Flaschen Champagner einer edlen Marke und die Hotelkosten - ersetzt hatte, war von meinen Ersparnissen fast nichts mehr übrig. Doch das stört mich nicht, denn alles verläuft genau nach dem Plan, den ich so akribisch ausgetüftelt habe. Die Fotos von Martin und Natascha sind hinreißend, besonders der leicht dümmliche Ausdruck auf Martins gemsenbartgekrönter Visage. Und es ist kein einziger Fingerabdruck auf den Fotos, denn Victor und ich haben ständig Handschuhe getragen. Auch jetzt, da ich die Päckchen für KLARSICHT und für Taubenuss packe, trage ich transparente Einweghandschuhe.

Karla bekommt ihr Päckchen als erste, im Briefzentrum abgestempelt und ohne den leisesten Kommentar. Dem KLARSICHT-Redakteur werde ich die benötigten Hintergrundinformationen telefonisch geben, mit verstellter Stimme vom Bahnhof aus, wie ich es schon bei Randow gemacht habe. Für KLARSICHT ist das genau der richtige schlüpfrige Stoff. Ein Hinweis, dass dieser Mann der Ehemann der bekannten Autorin Karla Taubnessel ist, der sich mit einer fremden Schönheit amüsiert, während seine Frau auf Lesereise ist, dürfte genügen. KLARSICHT besorgt den Rest.