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Johanna L. Degen > 500 Entscheidungen am Tag Online-Dating zwischen transzendentaler Hoffnung, programmatischer Enttäuschung und bedingter Verbindlichkeit

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Johanna L. Degen

> 500 Entscheidungen am Tag

Online-Dating zwischen transzendentaler Hoffnung, programmatischer Enttäuschung und bedingter Verbindlichkeit

Eine neue Dating-Praxis: Parallelität, Try-on-Logik und Low Investment

Das Finden eines Partners war einst mediiert durch das direkte soziale Umfeld wie Familie, Peers und Institutionen wie der Kirche. Diese Vermittlerrolle hat sich im Laufe der Zeit verändert, es gibt sie als Heiratsvermittler vor Ort mit Büro beziehungsweise Agentur, als Zeitungsannoncen, später als Online-Agenturen und zurzeit als das vorherrschende mobile Online-Dating. Die Logik der jeweiligen Vermittlungsfunktion ist dabei spezifisch. Bei Online-Agenturen werden vor allem viele Informationen über die Personen, zum Beispiel mit psychologischen Fragebögen, zusammengetragen und wird eine dementsprechend am besten passende PartnerIn als passende Option vorgeschlagen. Das Prinzip der detaillierten Information ändert sich allerdings beim mobilen Online-Dating. Hier werden, basierend auf wenigen Kriterien – Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung –, alle Personen im Radius zwischen einem und maximal 140 Kilometern als PartnerInnen vorgeschlagen, als viele verfügbare Optionen.

Beim mobilen Online-Dating bedarf es schwerpunktmäßig eines Profilfotos, einem Nicknamen, obligatorisch dem Alter und Geschlecht sowie Angaben zur sexuellen Orientierung. Optional können bis zu acht weitere Fotos und ein Profiltext von bis zu 500 Zeichen zugefügt, eine Verlinkung zu Spotify und/oder Instagram eingerichtet sowie Angaben zum Beruf und der Ausbildung gemacht werden. Entsprechend der Sucheinstellung in Bezug auf Alter, Geschlecht und sexuelle Orientierung werden dann der Reihe nach mögliche PartnerInnen vorgeschlagen. Die Entscheidung über Gefallen oder Nichtgefallen wird schwerpunktmäßig anhand des ersten Bildes getroffen, weitere Bilder und der Profiltext werden zunächst hintangestellt. Das Profilbild füllt dabei in der Darstellung der Applikation den größten Teil des Bildschirms aus. Die Entscheidung wird durch eine Wischbewegung eines Fingers durchgeführt – rechts wischen, also swipen, heißt hot, und links wischen bedeutet Nichtgefallen, not. Mögen sich beide, swipen also zwei Personen nach rechts, entsteht ein Match und damit die Möglichkeit, miteinander zu chatten. Die habituelle Logik ist dabei eine rhythmische Wischpraxis, bei der Hunderte Entscheidungen aneinandergereiht werden: »Ich swipe dann alle erst mal auf ja und schaue später, wer mich gematcht hat, lese dann das Profil, lösche die wieder, oder schreibe was Kurzes und warte, ob die antworten« 1 (Nutzer, 34). Um zum nächsten Vorschlag zu gelangen, ist die Bewertung des aktuell vorgeschlagenen Profils erforderlich. Das bedeutet, der nächste Vorschlag kommt nur, wenn NutzerInnen eine nicht revidierbare Entscheidung getroffen haben, ein Blättern wie im Katalog ist nicht möglich.

Diese Praxis ist für das soziale Selbst bedeutsam. Das Feedback ist dichotom – limitiert auf ein Ja oder Nein. Nach einem Match und einer Kontaktaufnahme kann ein Kontakt jederzeit einseitig aufgelöst werden. Die Bewertung wird von unbekannten anderen getroffen, das bedeutet, die eigene Einschätzung des signifikanten anderen ist nur in der Vorstellung möglich. Ähnliches gilt für das Sondieren der Konkurrenz und damit die Einschätzung der eigenen sozialen Positionierung, NutzerInnen können die Konkurrenz nur imaginieren. Insgesamt ein Konglomerat an Bedingungen, bei denen Subjekte limitierte Informationen und Feedback mit (Vor-)Annahmen, Projektionen und Generalisierungen über das Selbst und die anderen füllen und dies vielfach mit strategischem Verhalten und Selbstoptimierung im Sinne liberaler Logik des Selbst beantworten. So wird kontinuierlich die eigene Erfolgsrate überprüft und werden dementsprechend Maßnahmen vorgenommen. Zu den Maßnahmen zählen Profilbilderwechsel und -optimierung, Körperoptimierung über Gewichtsabnahme und Fitness, Haarschnitte und plastisch-ästhetische Eingriffe – bei wem es an Erfolg mangelt, der optimiert nicht nur das Profil, sondern auch sich als Person. Diese optimierende Logik gilt auch dem Verhalten in Bezug auf Nachrichten- und Antwortstile sowie das Managen der Antwortzeit. Dabei gilt, dass eine hohe Online-Präsenz und Erreichbarkeit entscheidend sind – wer zu langsam antwortet, wird entmatcht.

Solche Dynamiken zwischen Subjekten und digitalem Kontext können als reflexive Mediatisierung beschrieben werden. Das bedeutet, dass die jeweiligen interessengeleiteten AkteurInnen, in diesem Fall Unternehmen als BetreiberInnen von Applikationen, und interessengeleiteten NutzerInnen sich gegenseitig beobachten, beeinflussen und verändern. Applikationen haben dabei zum Beispiel ökonomische Interessen, unter anderem, NutzerInnen zu gewinnen, zu behalten und online zu halten. NutzerInnen nutzen derlei Applikationen außerdem, um Liebe zu finden, sich unterhalten zu lassen, persönliche und gesellschaftliche Krisen – verstärkt in der Pandemie – zu bewältigen und insgesamt möglichst unbeschadet, unblamiert und Risiken kontrollierend anderen näherzukommen. Innerhalb dieser Aushandlungsprozesse etablieren sich Praxen, welche über die konkrete mobile Online-Dating-Praxis hinaus generell die Normen von Annäherungspraxen, Beziehungsformationen, Prozesse des Selbst und gesellschaftliche Räume beeinflussen.

Eine dieser Veränderungen demonstriert sich im Wechsel von Serialität zu Parallelität. So verändert sich die vorherige Serialität von Partnerschaften und Sex bei der Parallelität vor allem in der Form von heimlichen Affären, Fremdgehen, das bisher mehrheitlich als moralisch verwerflich bewertet wurde, hin zu einer etablierten und normativ akzeptierten Parallelität.2 Dies bedeutet, Annäherungen in der Form von Dates und Sex werden multipliziert, finden häufig und nebeneinander, eben parallel statt. NutzerInnen treffen dann beispielsweise fünf andere innerhalb einer Woche, haben zwei Dates an einem Tag oder suchen während eines Dates gleich das nächste. Sie tindern zum Beispiel auf der Toilette oder unter dem Tisch gleich weiter und sondieren so gleichzeitig mehrere mögliche PartnerInnen. Dabei erhöht sich einerseits die quantitative Wahrscheinlichkeit, über die Menge von Dates jemanden zu finden und viele verschiedene Gegenüber an- beziehungsweise auszuprobieren – im Sinne einer Try-on-Logik. Gleichzeitig lässt sich so das Risiko von Verletzung verteilen: Ablehnung, Enttäuschung und Misserfolg scheinen weniger bedrohlich, weil sie ständig vorkommen und sich so normalisieren. Verletzungen durch ein kontinuierliches Schlussmachen und Ghosten 3 werden zwar weiterhin als verletzend und belastend beschrieben, aber mit mehr des Gleichen umgehend kompensiert: »Ich merke dann, nee, das wird nichts, ist unangenehm, aber ich treffe dann gleich abends noch wen anders, und dann ist das schnell vergessen« (Nutzerin, 28).

Tasuta katkend on lõppenud.