Der Pfeiler der Gerechtigkeit

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»Nun kommt schon, bitte, ich verspreche euch einen großen Haufen Heu«, bettelte er und zog an den Zügeln. Doch Betteln und Drohen half nichts, ebenso wenig wie ein Hieb mit dem Stock, den er dem linken Esel versetzte. Das Einzige, was er damit bewirkte, war, sich den Unmut des Tieres zuzuziehen, denn es legte die langen Ohren an.

Verzweifelt seufzte Simon auf. »Es tut mir leid, das hätte ich nicht tun sollen, aber ich muss wieder zur Burg«, redete er auf die Tiere ein.

»Junge, mach den Weg frei«, dröhnte es hinter ihm.

Ein großer Bierwagen, gezogen von zwei mächtigen Braunen, näherte sich. Simon blieb nichts anderes übrig, als seinen Weg nach unten fortzusetzen, denn es gab nicht genügend Platz, damit das Fuhrwerk an ihm vorbeiziehen konnte. Bergab war genau im Sinne der Esel, und zügig schritten sie aus. Simon bildete sich ein, ein spöttisches Grinsen auf ihren Gesichtern zu sehen.

Nachdem sein Geschenk für Julia auf der Burg geblieben war, verzichtete er auf einen Besuch und kehrte nach Hause zurück. Als er die Esel ausgeschirrt und versorgt hatte, stapfte er in die Küche. Den Münzbeutel knöpfte er vom Gürtel und legte ihn auf einen Mauervorsprung am Fenster. Später würde er das Geld Bernbeck geben. Doch jetzt musste er seinen hungrigen Magen beruhigen. Er fand einen Käse, von dem er großzügig abschnitt und ihn zusammen mit einem Kanten Brot in sich hineinschlang. Erst jetzt fiel ihm auf, wie eigenartig still es war. Sollten alle bereits zu den Maifeierlichkeiten aufgebrochen sein? Selbst Berta war nirgends zu sehen.

Simon stieg die Treppe nach oben.

»Mutter?«

Er konnte sich kaum vorstellen, dass sie mit zur Feier gegangen war. Gestern war ihr noch sterbenselend gewesen.

»Mutter?«, rief er erneut und blieb vor der Tür ihrer Schlafkammer stehen.

Das Ohr an die Tür gelegt, lauschte er für einen Augenblick, klopfte. Nichts. Gerade wollte er sich wegdrehen, als ein leises Stöhnen an sein Ohr drang. Simon drückte die Tür auf und betrat das Zimmer, wobei er beinahe über die am Boden liegende Gestalt gestolpert wäre. Seine Mutter lag mit bleichem Gesicht auf dem Rücken, die Augen geschlossen, auf ihrem weißen Nachtgewand hatte sich im Schoß ein großer Fleck gebildet. Unter ihr hatte sich eine dunkel schimmernde Lache ausgebreitet. Blutgeruch stieg in Simons Nase.

»Heiliger Vater im Himmel!«, entfuhr es Simon. »Mutter, kannst du mich hören?«

Sanft tätschelte er ihre Wange, doch Anna Reber zeigte keine Regung. Behutsam schob Simon die Hand unter ihren Nacken, versuchte, seine Mutter aufzurichten. Sie stöhnte und ließ sich gegen seinen Körper sinken.

»Simon«, flüsterte sie, »ich habe das Kind verloren, geh und hol einen Priester. Schnell, eil dich! Ich will nicht ohne Beichte sterben.«

»Nein!«, stieß Simon erstickt hervor. »Ich helfe dir aufs Bett. Du musst dich nur ausruhen.«

Schwach bewegte sie den Kopf hin und her. »Ich war dir keine gute Mutter, mein Junge, nachdem ich Melchior geheiratet habe. Verzeih mir. Und jetzt geh!«

Langsam ließ er ihren Oberkörper zurücksinken, schob ihr ein Kissen unter den Kopf. Dann hastete er aus der Kammer, stürzte die Treppe, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinunter und rannte zur Marienkapelle. Heute hatte er keinen Blick für die prächtige Kirche, die er sonntags immer besuchte. Er stieß das südliche Portal auf, über das links und rechts in Stein gehauene Figuren wachten. Adam und Eva, geschaffen von einem der berühmtesten Männer Würzburgs, Tilman Riemenschneider. Wie oft hatte Gebhard seinem Sohn von dem Bildhauer erzählt und Simons Begeisterung für Schnitz- und Bildhauerarbeiten geweckt.

Fast wäre er mit dem Mann zusammengestoßen, den er suchte.

»Was fällt dir ein, Junge, ein Haus Gottes betritt man ehrfürchtig …«

»Hochwürden, verzeiht, meine Mutter …«, unterbrach Simon keuchend den Pfarrer.

Erst jetzt erkannte Pfarrer Magnus den aufgeregten Burschen, mit dessen Vater er oftmals über die Schönheit der Marienkapelle und auch der anderen gottgeweihten großartigen Bauten in dieser Stadt gesprochen hatte.

»Simon, Simon Reber, nicht wahr?«

»Ja, Hochwürden. Sie stirbt, bitte eilt Euch! Sie will nicht sterben, ohne gebeichtet zu haben«, schniefte Simon und wischte sich die Tränen von den Wangen.

»Warte hier, ich hole alles, was ich brauche, um die Sterbesakramente zu spenden.«

Wenig später folgte er eiligen Schrittes dem aufgelösten Jungen durch die Gassen.

Sie kamen zu spät. Anna Reber war, ohne ihre Sünden zu bekennen, von dieser Welt gegangen. Pfarrer Magnus half Simon, den Leichnam auf das Bett zu legen, faltete Annas Hände und besprengte ihren Körper mit Weihwasser, während Simon eine Kerze entzündete.

»Lass uns beten, Simon.«

Der Junge legte die Handflächen aneinander, kniete nieder und murmelte leise mit.

»… und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Amen«, beendete der Pfarrer das Vaterunser. »Ich werde nun gehen und eine Seelnonne schicken, die den Leib deiner Mutter waschen wird.«

Simon nickte nur. Er war wie betäubt. So garstig war er zu ihr gewesen. Im Streit waren sie auseinandergegangen, und nun konnte er seine Mutter nicht mehr um Vergebung bitten. Das würde er sich nie verzeihen. Er setzte sich auf den Boden, die Arme auf den Knien verschränkt, vergrub sein Gesicht darin und weinte leise.

Als die Kirchturmglocken schlugen, erschien eine ältere Frau. Unter ihrem Skapulier trug sie eine hellbraune Tunika, ihren Kopf bedeckte eine Haube derselben Farbe. Simon hatte sie nicht einmal die Treppen hochkommen gehört. Sanft berührte die Seelnonne ihn an der Schulter.

»Steh auf, mein Junge.«

Mühsam stemmte sich Simon hoch, starrte die Frau mit vom Weinen geröteten Augen an.

»Geh, ich werde jetzt deine Mutter waschen«, sagte sie und schob ihn zur Tür.

Mit hängenden Schultern ging er die Treppe hinunter und über den Hof und fand Trost bei den Eseln. Eigentlich hätte er Melchior suchen müssen, um ihm von Annas Tod zu berichten, doch er fand nicht die Kraft dazu.

Ein Schrei weckte ihn auf. Es war bereits dunkel geworden, irgendwann musste er erschöpft eingeschlafen sein. Simon zupfte ein paar Strohhalme von seinen Kleidern und ging zum Haus.

»Simon«, brüllte Melchior. »Wo steckst du, du Faulpelz?«

»Hier.« Seine Stimme hörte sich eigenartig dünn an.

In der Backstube stand sein Stiefvater, die beiden Mädchen drängten sich weinend an ihn. Wulf lehnte am Tisch, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Was ist geschehen? Los, rede!«, herrschte Melchior ihn an.

Simon räusperte sich und sah zu Boden. »Sie hat ihre Leibesfrucht verloren. Als ich von der Burg kam, lag sie blutend auf dem Boden der Schlafkammer. Sie schickte mich nach einem Priester.«

»Hast du nicht daran gedacht, uns zu holen, damit wir Abschied nehmen können?« Melchiors Gesicht nahm eine ungesunde Röte an.

»Ich … als ich mit Pfarrer Magnus zurückkam, war es bereits zu spät, ich …«

Bernbeck verpasste ihm eine Ohrfeige. »Sie ist in Sünde gestorben? Das ist alles deine Schuld, du elender Nichtsnutz«, brüllte er und begann, auf Simon einzuprügeln, der die Arme schützend vor sein Gesicht riss.

»Vater, nicht, bitte!«, flehte Sibylla, und Barbara fiel weinend ein. »Bitte, hör auf.« Gemeinsam zerrten die Mädchen an Bernbecks Hemd.

Schwer atmend ließ der Bäckermeister von ihm ab. Simon nahm die Hände herunter und erhaschte Wulfs hämisches Grinsen.

»Geh mir aus den Augen, Simon«, presste Melchior hervor. »Wulf, morgen früh holst du den Totengräber, er soll die Leiche aus dem Haus schaffen.«

»Wollen wir nicht gemeinsam für ihre Seele beten und Totenwache halten?«, fragte Sibylla leise.

Simon war überrascht. Das Mädchen war meist still im Gegensatz zu seiner Schwester Barbara.

»Ja, kommt ihr Mädchen, Wulf, wir gehen nach oben.« Damit stellte Melchior klar, dass er Simon nicht dabeihaben wollte. »Ach, und bring mir das Geld, das du für die Brote bekommen hast.«

Simon blieb allein zurück. Es machte ihn sprachlos, dass Melchior den Nachbarn nicht einmal die Möglichkeit geben wollte, sich von Anna zu verabschieden. Normalerweise blieben die Toten nach ihrem Hinscheiden zwei bis drei Tage aufgebahrt im Haus, bevor der Totengräber sie mitnahm. Was war der Bäckermeister nur für ein Mensch?


Fürstbischof Julius aß wie immer wenig. Nur einen halben Teller Suppe, eine dünne Scheibe Braten mit etwas Brot und Gemüse. Innerlich rümpfte er die Nase über seine Gäste, die all die aufgetischten Köstlichkeiten nur so in sich hineinschlangen. Den meisten hätte es besser gestanden, sich zurückzuhalten. Ohnehin schoben sie bereits stattliche Bäuche vor sich her, und ihre geröteten Nasen und geäderten Wangen zeugten von übermäßigem Weingenuss.

»Sobald die Bestätigungen aus Rom und Prag eingegangen sind, werde ich der Universität Würzburg neues Leben einhauchen«, sagte er zu seinem Nachfolger im Amt des Domdekans, der zu seiner Linken saß. »Die Gesandten werden dieses Anliegen beim Papst und beim Kaiser vorbringen.«

»Ein Vorhaben, das ich jederzeit unterstütze, Exzellenz«, antwortete Neidhart von Thüngen. »Zu lange warten die Würzburger darauf. Eine Universität ist ein leuchtender Stern für eine Stadt, nicht nur, dass sie Gelehrte aus vielen Ländern anzieht, nein, sie bietet auch Arbeit für viele Menschen.«

Julius Echter nickte und griff nach seinem Weinglas, ein fein geschliffenes Stück Arbeit aus der Innsbrucker Hofglashütte.

 

»Einhundertfünfundsiebzig Jahre sind wahrlich eine lange Zeit. Doch dieses Mal wird es gelingen. Ich habe noch einige Pläne, um das Leben der Menschen im Hochstift Würzburg zu verbessern und zu verändern.«

Zu oft hatte Julius Echter bei seinen Gängen durch die Stadt erschüttert feststellen müssen, wie viele Arme keine Versorgung erhielten und wie viele sterbend in den Gassen lagen. Das musste geändert werden, und er, Fürstbischof, der er nun war, ausgestattet mit Geld und Macht, saß an der richtigen Stelle, um dies zum Guten zu wenden.

Diener brachten die Nachspeisen. Süße Krapfen, mit Honig glasierte Äpfel der letzten Ernte aus den Fruchtkellern der Stadt, frische Feigen, Mandeltopfen, Küchlein mit Ingwer und Anis. Johann Voit von Rieneck, der Neffe eines Domherrn, besaß die Ehre, dem Fürstbischof aufzuwarten.

»Eure Exzellenz, dieses Gebäck scheint der Bäcker nur für Euch gefertigt zu haben. Es gibt kein Weiteres seiner Art und ein ›J‹ ziert seine Mitte.«

Voit von Rieneck stellte eine Platte vor den Fürstbischof, der erstaunt auf das ungewöhnliche Backwerk starrte. Tatsächlich waren die Rosinen zu einem Buchstaben geformt worden. ›J‹ wie Julius.

»Seid so gut und schneidet mir ein Stück davon ab«, bat Echter.

Es schmeckte wundervoll. Die Rosinen und die Nussfüllung hatten das süße Brot frisch und feucht gehalten. Julius aß ganz gegen seine Art drei weitere dünne Scheiben davon. Süßgebäck war das Einzige, dem er frönte, wenn er es sich auch eher selten gestattete. Was für ein schöner Einfall des Bäckers, ihm ein Gebäck zu widmen. In seinem Herzen erwachte eine Kindheitserinnerung: Seelenbrot. Ja, dieses Backwerk schmeckte wie Christina Alberdinens Seelenbrot.

*

Wieder starrte Simon in ein offenes Grab und hielt die Hand seiner Schwester. Barbara presste die dünnen Lippen aufeinander und kämpfte mit den Tränen. Neben ihm standen Melchior, Wulf und Sibylla Bernbeck, die Hände gefaltet, die Köpfe andächtig gesenkt. Simon nahm den beiden Männern ihre zur Schau gestellte Trauer nicht ab, nur Sibylla schien ehrlich betrübt. Während er der Predigt lauschte, fragte er sich, was die Zukunft für Barbara und ihn bereithalten mochte.

Der Leichenschmaus fand wieder im ›Stachel‹ statt. Die Zunftmitglieder und Nachbarn sprachen tröstende Worte, bevor sie sich an Speisen und Wein gütlich taten. Schnell war der Anlass ihres Hierseins vergessen, und man widmete sich den Alltagsdingen. Der Tod war ein ständiger Begleiter. Jeden Tag starben Menschen, alt oder jung, reich oder arm.

Auch Julia war mit ihren Eltern zum Begräbnis gekommen, was Simon tief berührt hatte. Sehnsüchtig schielte er immer wieder hinüber zu dem Tisch, an dem der Apotheker mit seiner Familie saß, doch er traute sich nicht, aufzustehen und hinüberzugehen. Julia schenkte ihm ein Lächeln, welches sein Herz schneller schlagen ließ. Wie hübsch sie aussah mit den hellblauen Bändern im Haar. Gerade als er all seinen Mut zusammengenommen hatte, um sich zu der Apothekerfamilie zu setzen, schob Wulf neben ihm plötzlich seinen Stuhl zurück und schlenderte seinerseits zum Tisch der Sterzings. Simon konnte nicht hören, was er sagte, doch Wulf wurde eingeladen, sich dazuzusetzen. Als er sich neben Julia niederließ und diese ihm scheu zulächelte, brannte Simons Innerstes, als hätte er flüssiges Blei getrunken.

»Was starrst du denn immerzu dort hin?«, flüsterte Barbara zu seiner Rechten und pikte ihm mit dem Zeigefinger in die Rippen.

»Tu ich nicht.«

»Doch.«

»Das bildest du dir ein.«

»Nein. Du solltest mal dein Gesicht sehen. Du wärst gerne an Wulfs Stelle, nicht wahr?«

Gott im Himmel, war es wirklich so offensichtlich, dass sogar seine neunjährige Schwester es bemerkte?

»Ich muss nach draußen«, antwortete Simon.

Er lief die Gassen entlang, erleichterte sich an einer Ecke und versuchte, seiner Gefühle Herr zu werden. Seine Füße trugen ihn quer durch die Stadt und zur Marienkapelle. Vor dem Westportal blieb er stehen, sah hinauf zur Statue der Jungfrau Maria, die auf dem Mittelpfeiler thronte und das Jesuskind im Arm hielt.

»Heilige Mutter Gottes, sag mir, was ich tun soll. Am liebsten möchte ich von hier fortlaufen«, sprach er leise zu der steinernen Figur. Doch er erhielt keine Antwort.

*

Eine Woche nach Anna Rebers Begräbnis kam Wulf grinsend in die Backstube.

»Heute Abend bekommen wir Besuch. Möchtest du raten, wen Vater eingeladen hat?« Er erwartete keine Antwort und fuhr fort: »Apotheker Sterzing mit seiner Frau und seiner Tochter. Vater hat Berta einen fetten Schweinebraten besorgen lassen, damit es ein Festessen wird. Julia und ich haben übrigens viel getanzt bei den Maifeierlichkeiten. Einen Kuss vermochte ich ihr gar zu rauben, und es wird sich schon bald eine weitere Gelegenheit bieten, da bin ich mir sicher.«

»Dein Vater scheint ja sehr um meine Mutter zu trauern«, entgegnete Simon verächtlich und zwang sich, ruhig zu bleiben, »wenn er, kaum dass die Trauerzeit begonnen hat, sich Leute ins Haus lädt.«

Wulf trat drohend einen Schritt näher. »Was willst du damit sagen?«

»Das weißt du ganz genau. Melchior und dir ist Mutters Tod doch gleich.«

Ein Stoß vor die Brust ließ ihn zurücktaumeln.

»Mein Vater leidet. Es ist nur gut für ihn, wenn etwas Leben ins Haus kommt und er für wenige Stunden abgelenkt ist. Er hat einen Sohn verloren und ich einen Bruder, als Anna starb«, spie Wulf aus. Speicheltröpfchen landeten auf Simons Gesicht, die er sich angeekelt mit dem Hemdärmel abwischte.

»Woher willst du wissen, dass das Kind ein Junge geworden wäre? Aber wie dem auch sei, dein Vater hat eine eigenartige Weise, seine Trauer zu zeigen. Ich bin ziemlich sicher, dass ich heute in aller Frühe die Schankmagd vom ›Stachel‹ sich aus dem Haus schleichen sah. Oder war sie etwa in deinem Bett?«

Wulf starrte ihn verblüfft an. Offenbar hatte er davon nichts gewusst, und das hehre Bild, das er von seinem Vater pflegte, schien einen ersten Riss zu bekommen.

»D… das ist eine Lüge.«

Simon zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst. Sie hatte nicht einmal ihr Kleid anständig verschnürt, ich konnte einen Blick auf ihre weißen dicken Brüste werfen. Aber anstatt hier herumzustehen, könntest du besser arbeiten. Die Wecken müssen noch gemacht werden.«

Plötzlich stand Melchior Bernbeck wie aus dem Boden gestampft in der Tür zur Backstube.

»Du erteilst meinem Sohn keine Befehle! Was fällt dir ein? Geh in den Hof! Der Eselmist muss weggefahren werden, der Haufen ist schon wieder viel zu groß.«

»Ich bin Bäckerlehrling und kein Knecht«, entfuhr es Simon. »Was ist mit Matthes, dem Dummen, der den Mist sonst abholt?«

Matthes war der einfältige, aber herzensgute Sohn eines Bauern, der regelmäßig in die Stadt kam, um den Mist wegzuschaffen und ihn auf den Feldern auszubringen. So verdiente er sich ein paar wenige Pfennige, und die Besitzer der Tiere oder der Mietställe waren froh, die Arbeit nicht selbst verrichten zu müssen.

»Ich will, dass der Hof heute noch sauber gemacht wird. Wer weiß, wann Matthes wiederauftaucht. Also, scher dich hinaus und kümmere dich um den Mist.«

Simon öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Bernbeck packte ihn bereits am Kragen und schüttelte ihn.

»Wag es nicht. Du tust, was ich sage. Bisher hat deine Mutter dich immer in Schutz genommen, doch das ist nun vorbei«, drohte er.

Simon konnte den schalen Weindunst riechen, den der Bäckermeister noch immer ausströmte. Er fragte, sich, wann und wie ihn seine Mutter denn je vor Melchior in Schutz genommen hatte, doch er fand keine Antwort darauf. Allerdings war er sicher, dass er künftig mit mehr Prügel zu rechnen hatte.

Gerade rechtzeitig war Simon mit der Arbeit fertig geworden, um sich Gesicht und Hände zu waschen und saubere Kleidung anzulegen, bevor die Sterzings erschienen. Mit einem grobzinkigen Kamm fuhr er sich durch seine dichten blonden Haare, die er von seinem Vater geerbt hatte. Ein verführerischer Duft drang durch das Haus. Berta hatte sich mit ihren Kochkünsten offenbar selbst übertroffen. Simon lief das Wasser im Munde zusammen. Er hastete in die an die Küche grenzende Stube, wo Barbara und Sibylla den Tisch gedeckt hatten. Die Mädchen hatten sich redlich Mühe gegeben. Ein weißes Leinentuch, Teller und Becher standen bereit und in den Leuchtern steckten neue Kerzen. Sogar Blumen hatten die beiden gepflückt und die Stängel ineinander verwoben, sodass eine Kette aus Gänseblümchen und Primeln entstanden war, die die Tischmitte zierte. Der Boden war frisch gefegt, und der mit grünen Reliefkacheln verzierte Ofen strahlte eine wohltuende Wärme aus.

»Das sieht schön aus«, lobte Simon und erntete dafür strahlende Gesichter.

»Hilfst du uns, die Kerzen zu entzünden?«, fragte Sibylla.

Simon nickte und ging in die Küche, um einen Kienspan zu holen. Dort legte Berta letzte Hand an das Gemüse. Möhren, Zwiebeln und Mairübchen. Über dem Feuer köchelte ein großer Topf Suppe vor sich hin. Simons Augen blieben an einer gusseisernen, mit einem Deckel verschlossenen Pfanne auf der Herdstelle hängen. Er wollte gerade den Deckel lüften, als Bertas Stimme ihn innehalten ließ.

»Untersteh dich! Außerdem würdest du dir die Finger verbrennen.« Die Magd schnappte sich ein Tuch und hob augenzwinkernd den Deckel, um Simon einen Blick auf die Schweinebratenstücke werfen zu lassen, die in einer dunklen Biersoße schwammen. »Nimm dir ein Stück Brot, Junge.« Berta hatte ihn schon immer gemocht.

Simon tunkte Brot in die Soße und ließ es genießerisch zwischen seinen Lippen verschwinden.

»Hmmm, wunderbar. Brauchst du noch Hilfe?«

»Nein, nein, das schaffe ich schon. Nun geh, ich hab noch zu tun«, sagte sie und scheuchte ihn hinaus.

Simon saß zwischen seiner Schwester und Sibylla, ihnen gegenüber Wulf, Julia und ihre Mutter, an den beiden Tischenden hatten der Apotheker und Melchior Platz genommen. Das Tischgespräch führten die beiden Männer, während die Übrigen sich wortlos Suppe, Fleisch und Gemüse munden ließen. Ab und an trafen sich Simons und Julias Blicke für nur einen Lidschlag lang, und jedes Mal durchzuckte Simon ein wohliger Schauer. Schon den ganzen Tag über fragte er sich, warum sein Stiefvater die Familie Sterzing eingeladen hatte, doch er fand keine Erklärung.

»Nun, da meine liebe Frau verstorben ist, müssen die Mädchen mehr mithelfen«, sagte Bernbeck gerade. »Sie sind alt genug, um Berta zur Hand zu gehen. Je früher sie lernen, wie man einen Haushalt führt, desto besser.«

Teresa Sterzing nickte zustimmend.

»Julia musste auch schon früh mit anpacken. Jetzt ist sie fünfzehn und weiß, worauf es in einem Haushalt ankommt.«

Melchior Bernbeck atmete tief durch.

»Nun, da Ihr die Apotheke erwähnt. Mein Sohn Wulf hat den Wunsch geäußert, nicht in meine Fußstapfen treten zu wollen. Was mich einerseits betrübt, andererseits möchte ich seiner Zukunft nicht im Wege stehen.«

Konrad Sterzing lachte leise.

»Guter Meister Bernbeck, sicher wisst Ihr, dass Wulf bereits mit mir gesprochen hat. Ich habe über sein Ansinnen nachgedacht. Euer Sohn ist ein ausgesprochen höflicher junger Mann und nicht auf den Kopf gefallen. Allerdings gibt es sehr viele Dinge, die er zu lernen hat, um sich einmal Apotheker nennen zu können.«

Simon blieb das Stück Fleisch, das er gerade hinunterschlucken wollte, beinahe im Hals stecken. Wulf möchte Apotheker werden? Wenn er dafür so viel Ehrgeiz an den Tag legt wie in der Backstube, sterben die Leute wie die Fliegen, wenn er die Arzneien nicht richtig abwiegt. Und von ›höflich‹ kann nicht die Rede sein.

»Ich bin bereit, Tag und Nacht zu lernen«, beeilte sich Wulf zu sagen. »Ich bitte Euch, verehrter Apotheker, mir die Möglichkeit zu geben, Euch zu überzeugen.«

»Nun, Wulf, wie ist es bei dir mit Lesen, Schreiben und Rechnen bestellt? Und Latein? Beherrschst du Latein?«

»Ego … dabo … meum optimum«, erwiderte Wulf zögernd und sah Sterzing erwartungsvoll an.

Dieser lachte dröhnend. »Du wirst dein Bestes geben. Ich sehe, dir ist es ernst. Gut, du sollst die Gelegenheit bekommen und bei mir anfangen. Nach einem Jahr werden wir weitersehen.«

Wulfs Gesicht leuchtete freudig auf. »Ich bin Euch zu großem Dank verpflichtet. Ich … Ich weiß gar nicht, was ich noch sagen soll«, stammelte er.

Simon wurde beinahe übel, als er sich vorstellte, wie Wulf täglich Julia beäugen konnte.

»Dann ist es beschlossene Sache?«, wandte sich Konrad Sterzing an Melchior.

 

»In der Backstube wird mir mein Sohn sehr fehlen, geschickt und fleißig, wie er ist. All die Arbeit nur mit einem Lehrjungen zu bewältigen wird schwer«, erwiderte der Bäckermeister seufzend.

Unwillkürlich stieß Simon einen verächtlichen Laut aus, und alle Gesichter wandten sich ihm zu.

»Simon, du scheinst anderer Meinung zu sein«, sagte der Apotheker und zog fragend eine Augenbraue hoch.

»Seine Meinung ist nicht von Belang«, fauchte Wulf. »Er ist nur neidisch und gönnt mir nichts. Seit er hier aufgetaucht ist, macht er mir das Leben schwer.«

Wütend stand Simon auf, die Hände auf den Tisch gestützt, neigte er sich nach vorn.

»Elender Lügner! Du bist faul und taugst zu nichts. Wie oft schon habe ich deine Fehler ausmerzen müssen.«

»Raus!«, donnerte Melchior. »Auf der Stelle! Wie kannst du es wagen, so über Wulf zu reden.«

Simon zuckte mit den Schultern. »Weil es die Wahrheit ist, und du weißt es.« Damit machte er auf dem Absatz kehrt, stürmte aus der Stube und ließ die Tür hinter sich krachend ins Schloss fallen.

*

»Wulf? Wieso soll er in der Apotheke lernen?«, wagte Julia ihren Vater zu fragen, als sie nach Hause kamen.

Sie war entsetzt gewesen, hatte kaum ihren Schrecken verbergen können. Schon beim Leichenschmaus nach der Beerdigung von Simons Mutter war ihr Wulf unangenehm aufgefallen. Seine schmalen, eng stehenden Augen hatten sie gemustert, als wäre sie ein Pferd, das er zu kaufen gedachte. Einmal hatte er es sogar gewagt, unter dem Tisch ihr Knie zu berühren.

»Julia, ich brauche irgendwann einen Nachfolger in der Apotheke. Wulf ist jung und nicht glücklich damit, sein Leben als Bäcker zu verbringen. Das hat er mir gestanden. Er lernt eifrig Latein, und das zeigt mir, es waren nicht nur leere Worte, als er mich gebeten hat, ihn anzunehmen.«

»Ich mag ihn nicht«, erwiderte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen.

»Schluss damit, Julia. Wulf wird hier ausgebildet, ob es dir gefällt oder nicht. Er wird mit uns essen, aber schlafen wird er zu Hause, weil er keinen weiten Weg hat. Und du wirst dich benehmen und nett zu ihm sein.«

»Aber …«

»Julia, lass gut sein«, warnte ihre Mutter, »vielleicht lernst du ja, Wulf zu mögen, wenn du ihn besser kennenlernst. Er ist bestimmt kein schlechter Kerl.«

»Kann nicht Simon anstelle von Wulf zu uns kommen?«

Konrad Sterzing wechselte einen schnellen Blick mit seiner Frau und rollte die Augen. »Geh zu Bett, Julia, ich will nichts mehr davon hören.«

Spät in der Nacht wurde Simon plötzlich aus dem Schlaf gerissen. Melchior packte ihn an den Haaren und schleuderte ihn gegen die Wand. Bevor Simon sich aufrappeln konnte, war der Bäckermeister über ihm und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Er hörte seine Nase krachen, Blut schoss heraus. Ein Schlag in den Bauch ließ ihn sich zusammenkrümmen, gefolgt von einem Tritt in die Nieren. Ein lauter Schrei entfuhr ihm, und die Esel begannen, unruhig zu wiehern. Weitere Schläge und Tritte hagelten auf ihn ein. Melchior Bernbeck war rasend vor Zorn.

»Merk dir ein für alle Mal: Nie wieder wirst du dich in meinem Haus so benehmen!«

Er schlägt mich tot, fuhr es Simon durch Kopf.

Der nächste Hieb ließ alles schwarz werden.

Wie lange er besinnungslos gewesen war, vermochte er nicht zu sagen, als er langsam wieder zu sich kam. Durch die Ritzen der Stalltür konnte er fahles Licht erkennen. Er erinnerte sich, dass Vollmond war. Mühsam wollte er sich aufrichten, doch sein Schädel schien bei jeder Bewegung zerplatzen zu wollen, und jede Handbreit seines Körpers schrie vor Schmerz. Stöhnend blieb er liegen. Selbst das Atmen tat weh, vermutlich hatte Bernbeck ihm eine Rippe gebrochen. Auch sein Sehvermögen war beeinträchtigt, das linke Auge war zugeschwollen. Ganz vorsichtig hob er die rechte Hand und fasste an seine Nase, spürte ihre Schiefe unter seinen tastenden Fingern. Simon schloss die Augen, nahm seine Nase zwischen die gekrümmten Zeige- und Mittelfinger. Mit einem beherzten Ruck richtete er das gebrochene Nasenbein und unterdrückte einen Schmerzensschrei.

Seine Gedanken schwirrten. Keinen Tag wollte er hier länger bleiben. Aber was sollte er tun? Er könnte die Zunft anrufen. Meister Schlichting mochte ihn. Bestimmt würde er ihm helfen, eine andere Lehrstelle zu finden. Die Zunftordnung sah vor, dass bei übermäßiger Gewalt, zu langen Arbeitszeiten und Tätigkeiten, die mit der Ausbildung nichts zu tun hatten, ein Lehrling sich an das Schiedsgericht wenden konnte.

»Bernbeck hat mich übel zugerichtet, und ich schufte jeden Tag zu lange. Zudem lässt er mich andere Arbeiten verrichten, wie sich um die Esel zu kümmern, nur weil er zu geizig ist, einen Knecht einzustellen. Nicht, dass ich die Esel nicht mag, aber all dies sollte ausreichen, von der Zunft einen anderen Lehrmeister zugeteilt zu bekommen«, überlegte Simon hoffnungsvoll.

Diese Aussicht verlieh ihm die Stärke, sich trotz der Pein aufzurichten. Mit zitternden Beinen lehnte er an der Wand, hielt sich an einer Leiter fest, bis er sicher war, nicht umzufallen. Quälend langsam schlurfte er hinaus in den Hof, schöpfte Wasser aus dem Brunnen, kühlte sein Gesicht und machte sich in der aufziehenden Dämmerung auf zu Meister Schlichting.

Der Weg erschien ihm zweimal so lange wie sonst, doch schließlich erreichte er sein Ziel. Schlichting besaß ein stattliches dreigeschossiges Haus, die große Tür zur Backstube im Erdgeschoss stand offen. Für einen Augenblick lauschte Simon den Gesellen, die ein Lied angestimmt hatten.

»Uns vor allem auf der Welt,

das Bäckerhandwerk gut gefällt,

knet den Teig auf rechte Weise,

so erhält man gute Speise …«

So ging es also in einer Backstube zu. Gut gelaunte, fröhliche Menschen, die ihre Arbeit liebten und offenbar gerne zusammenarbeiteten. Wie anders war es doch bei Bernbeck. Simon pochte an die offen stehende Tür und machte einen Schritt in die warme, nach frischem Brot duftende Backstube.

»Grüßt euch Gott«, sagte er laut.

Die Gesellen sahen zur Tür, ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen. Einer knetete zwei Laibe auf einmal, der andere streute Mehl darüber, ritzte mit einem Messer die Oberfläche ein und schoss die Brote in den Ofen. Simon war beeindruckt, wie die beiden Hand in Hand arbeiteten.

»Was willst du, Junge?«, brummte der bärtige Mann am Ofen über die Schulter gewandt. Argwöhnisch betrachtete er die dunklen Blutflecken auf Simons Hemd. »Hungerleider sind nicht willkommen, geh und bettle woanders.«

»Ich bin kein Bettler«, erwiderte Simon, »ich bin ein Lehrjunge und suche Meister Schlichting.«

Die letzten Laibe wanderten in den Ofen, und die Männer wischten sich ihre bemehlten Hände an ihren Schürzen ab.

»Der Zunftmeister ist auf dem Weg zum Stadtrat«, gab der Bärtige Auskunft.

»Was willst du von Schlichting?«, fragte der andere, ein hagerer Mann mit einer wulstigen Narbe im Gesicht, und musterte ihn neugierig.

»Das kann ich nur dem Meister selbst sagen.« Simons Beine begannen zu zittern. Der Weg hierher hatte ihm einiges abverlangt.

»Er fällt uns gleich um, Karl«, warnte der Hagere und ging zur Tür, um Simon zu stützen.

Als er ihm den rechten Arm um die Körpermitte legte, stöhnte Simon auf.

»Ich glaube, eine Rippe ist gebrochen«, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

»Was prügelst du dich auch. Es gehört sich nicht für einen Lehrjungen. Und überhaupt, wo ist deine Schürze? Du weißt wohl, dass du ohne sie nicht aus dem Haus gehen sollst«, schimpfte der Bärtige.

»Lass ihn, Karl, ich habe so eine Ahnung, warum er zum Meister will. Setz dich hierhin, Junge.« Sanft ließ er Simon auf die gemauerte Bank an der Wand gleiten.

»Sei bedankt. Ich heiße übrigens Simon. Simon Reber.«

»Ich bin der Lois. Was ist mit deinem Gesicht geschehen, du siehst ziemlich schaurig aus.«

»Was schon? Er wird sich mit anderen gerauft haben«, fuhr Karl dazwischen und begann, kleine runde Wecken aus Roggenteig zu formen.

»Mein Meister …«, sagte Simon leise und schluckte.