Der Steuerprüfer

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Der Steuerprüfer
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Johannes Horn

Der STEUERPRÜFER

Kurzgeschichten

Kaden Verlag

Dem Leben zuliebe:

friedfertig,

tolerant,

achtsam,

respektvoll

Vorwort

Zwischen der epischen Prosa und der Lyrik, als der komprimiertesten Form literarischer Ausdrucksmöglichkeiten, steht als eigene Gattung das Format der Kurzgeschichte. Den Stoff liefern Beob­achtungen und Erfahrungen aus dem täglichen Leben. Probleme und allgemeingültige oder spezifische Fragestellungen aus dem gesellschaftlichen, dem politischen, dem individuell persönlichen Bereich werden aufgegriffen und literarisch gestrafft und verdichtet in eine kurze und einprägsame Form gebracht. Nicht immer ist es die Aufgabe einer Kurzgeschichte, Antworten auf dezidierte Fragestellungen zu geben weit häufiger bleiben sie Antworten schuldig; sie begnügen sich mit Anregungen, um die eingeschlagenen gedanklichen Wege auf ganz individuelle Weise weiterzugehen und so eigene Schlussfolgerungen zu ermöglichen. Kurzgeschichten sind gedankliche Vorlagen, die der eigenen Interpretation Raum verschaffen. Nur selten verwenden sie das Stilmittel der Poesie, doch auch solche nur leise angeschlagenen Akkorde animieren, das Gehörte weiter zu denken. Weit häufiger aber bezieht sich der Stil auf ein nüchternes, einprägsames Narrativ, den Werdegang psycho­logisch und analytisch darzustellen, auf das eigentliche Problem hin fokussierend. Es ist wie ein Blick in den Spiegel mit einer markanten Vergrößerung durch die Konvergenz einer Lupe. So können Entwicklungen, Probleme und Vorgänge aus dem gesellschaftlichen, politischen und ethischen Bereich ins Bewusstsein gebracht werden und den Leser zu jeweils eigenen Stellungnahmen und Antworten motivieren.

Der Steuerprüfer

– 1 –

Seine Ernennung zum Staatsbeamten nahm die ganze Familie mit Erleichterung auf. Es war ein langes Bangen, ob er jemals auf eigenen Füßen werde stehen können. Körperlich, von schwächlicher Natur und stets ein wenig kränkelnd, durchlebte er Kindheit und Schule in teilnahmsloser Zurückgezogenheit. Nicht nur, dass er selbst kaum Freude am Leben zu haben schien, auch auf seine Umgebung wirkte seine Gegenwart eher dumpf und lähmend. Sein Notendurchschnitt in der Schule verschlechterte sich von Mal zu Mal, doch, oft gegen jede Erwartung, es reichte immer wieder zu seiner Versetzung. Die Ausbildung in der hiesigen Steuerbehörde gestaltete sich mühsam und zog sich durch die Jahre. Endlich dann der Brief, der ihm auf glanzlosem, grauem Papier die definitive Anstellung mit fester Pension zusicherte. Während die Familie aufatmete, nahm er es ungerührt zur Kenntnis.

Er war Einzelkind und schon recht früh bemüht, sich der ständigen Aufmerksamkeit von Seiten der Eltern zu entziehen. Dies gelang ihm schlecht und recht, am wenigsten dann, wenn es darum ging, im Haushalt Hand anzulegen und ihm zugedachte Aufgaben zu erledigen. Ansonsten galt er als scheu, mitunter abweisend; Freundschaften pflegte er nicht. Er war viel allein und vermied Kontakte soweit es möglich war. Sein Vater hatte den Schreinerberuf erlernt; nach einem frühen Arbeitsunfall bezog er eine spärliche Rente. Die Mutter war arbeitslos und so lebte die Familie in ständiger wirtschaftlicher Enge. Nur selten gönnte sie sich etwas, was über das gewohnte, strenge Haushalten hinausging, doch meist mit der Folge zusätzlicher Einschränkungen. So war der Alltag geprägt von Einfachheit und Verzicht, umso größer war die Freude, als dieses amtliche Schreiben eintraf.

Die Mutter kam langsam in das Alter, in dem man sich gern an frühere Zeiten erinnert, an die Unbeschwertheit der eigenen Jugend, an das vergnügliche Treiben im Dorf, in dem sie früher gelebt hatte, an Freundschaften und erste Annäherungen, an Ausbildung und berufliche Regelmäßigkeit. In die Gedanken an die ersten Ehejahre mischten sich neben manch verhohlener Wehmut ein deutliches Maß an Abgeklärtheit und selbstverlorener Zeitergebenheit. Ganz gegenwärtig waren ihr stets die Kinderjahre ihres einzigen Jungen. Immer war es ihr so, als müsste sie Eigenes von sich in ihm entdecken, doch er war ganz anders. Eine lange Zeit wehrte sie sich dagegen, sich dies einzugestehen.

Genau erinnerte sie sich, wie er Stunden, ja Tage damit verbrachte, alles, was er finden konnte, Steine, Federn, Quartettkarten, gesammelte Blätter, einfach alles sorgfältig zu ordnen und zu sortieren. Nicht, dass er die reichhaltige Ausstattung mit Legosteinen dazu nutzte, zu bauen und zu gestalten; er fand Genugtuung daran, sie in langen Reihen anzuordnen, ein Teil dem anderen angleichend. Später dann begann er, alte Gerätschaften zu zerlegen; kein altes Radio, kein Bügeleisen, kein Staubsauger oder dergleichen war vor seinem aufdeckenden und klärenden Spürsinn sicher. Wie oft hatte die Mutter darauf bestanden, das Zerlegte wieder zusammenzusetzen, weil es schließlich gebraucht wurde. Aber dazu kam es nie.

Mit zunehmendem Alter entwickelte er eine auffallende Neigung, alles zu sammeln, was ihm unter die Augen kam; er sammelte, sortierte und verstaute es in seinem beengten Zimmer. Es waren meist nichtige Dinge, doch er hütete sie, als fände er damit einen Ausgleich zu seinem sonst eintönigen Alltag. So verbrachte er während des Tages viele Stunden in seinem Zimmer, was ihn aber nicht davon abhielt, die Schul- und Ausbildungszeiten äußerst pünktlich einzuhalten. Auf diese Weise fiel er weder durch Unpünktlichkeit noch durch besondere Leistungen auf.

Nun also war er in fester Anstellung bei der hiesigen Steuerbehörde. Natürlich hatte er den Tag sehnlichst herbeigewünscht, an dem die für ihn lebenswichtige Entscheidung fallen würde. Die Zeit war nun gekommen, und schon am ersten Tag stellte er sich auf die neue Zeitordnung ein, als wäre es schon lange Gewohnheit. Am Morgen nahm er sich Tee, aus einer Kanne, die ihm seine Mutter bereitgestellt hatte; er trank ihn gewöhnlich ohne Zucker; schon immer pflegte er morgens nichts zu essen. Seine, von den langen Schuljahren abgenutzte lederne Aktentasche enthielt nicht viel außer der Zeitung, die er beiläufig dem Briefkasten entnahm, jedoch selten Zeit fand, sie zu lesen. Ansonsten war in seiner Tasche eben das, was er zur Erledigung seiner Aufgaben benötigte: Einige leere Blätter, farbige Stifte, ein Lineal, Radiergummi und ein Bleistiftspitzer.

Der Weg zur Behörde war nicht weit, so dass er zu Fuß gehen konnte. Er ging an eintönigem Grau müde wirkenden Häuserfronten vorbei. Die Regelmäßigkeit der sich an jedem Morgen wiederholenden Bilder hatte sein Sehen stumpf gemacht; er ging in sich versunken, ohne dem Erwachen des Tages Aufmerksamkeit zu schenken. Meist war er der Erste, der die Holztreppe in den dritten Stock hinaufstieg, um schließlich den Platz an seinem Schreibtisch einzunehmen. Die sich türmenden Akten waren sorgfältig ausgerichtet. Vier dicke Gesetzesbücher lehnten rechts an einer altmodischen Tischlampe. Vor ihm lagen in einer flachen Metallschale drei verschiedenfarbige Stifte; er liebte es, Korrekturen oder Ergänzungen mit Rot zu markieren.

Im selben Raum arbeiteten außer ihm noch zwei Steuerbeamte, die allerdings schon älter waren. Einer von ihnen hatte schwer an Asthma zu leiden. Er nahm regelmäßig Medikamente zu sich, was ihm jedoch nur kurze Zeit Erleichterung verschaffte. So war der Raum erfüllt von einem ständig sich quälenden Atmen und einem gelegentlich erschöpfenden Husten. Die Jacken und die Mäntel wurden direkt an der Tür aufgehängt; im seitlich stehenden Schirmständer stand gewöhnlich ein Schirm, nie aber mehr als zwei. Den ganzen Tag über brannten die tief über den Schreibtischen hängenden Neonröhren, so dass die Tageszeit lediglich an der schmucklosen und beständig tickenden Uhr über der Tür abzulesen war. So vergingen Wochen und Monate, Monate und Jahre und der einst frischgebackene Steuerbeamte reifte zu einer unersetzlichen Kraft; ja, schon längst war es zur Gewohnheit geworden, in besonders schwierigen Fällen seinen Rat und sein Urteil einzuholen. Äußerlich hatte er sich jedoch in all den Jahren nicht nennenswert verändert.

Mit zunehmender Erfahrung in der Handhabung von Paragrafen und Textauslegungen erweiterte sich sein Aufgabenbereich. Zwar hatte er weiterhin die Klientel mit den Namensinitialen N bis S zu bearbeiten, doch wurde er immer häufiger zur Durchführung von externen Steuer- und Betriebsprüfungen herangezogen. Er hatte es nicht gern, wenn er seine tägliche Routine unterbrechen musste; auch waren ihm lange Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln lästig, besonders das häufige Umsteigen und das umständliche Aufsuchen entfernt liegender Adressen. Im Zusammenhang mit einer der üblichen Steuerüberprüfungen hatte er sich in einer am Stadtrand gelegenen Anwaltskanzlei einzufinden. Der Termin der Prüfung war von der Behörde festgelegt und dem Rechtsanwalt schon vor geraumer Zeit mitgeteilt worden. Ein kurzes Antwortschreiben seitens der Kanzlei hatte den Termin bestätigt.

Er nahm die notwendigen Unterlagen an sich und verstaute sie zusammen mit den farbigen Stiften in seiner notdürftig geflickten Aktentasche. Auch der graue Mantel, den er sich überzog, zeigte deutliche Spuren vom täglichen Gebrauch. Grußlos, in Gedanken versunken, verließ er das Zimmer. Er folgte dem umständlich erarbeiteten Wegeplan und stand schließlich vor einer verwirrend imposanten Fassade eines mächtig dastehenden Hauses; die Fenster umrahmt von Pilastern und Giebelwerk, Skulpturen zierten die hoch aufragenden Wandflächen, zwei kunstvolle Atlanten stützten die steinschwere Überdachung des Eingangs. Die dunkelbraune, mit Schnitzereien versehene massive Eichentüre hatte etwas Abweisendes, Einschüchterndes, Überhebliches. Er nahm nach nur kurzem Zögern seine Aktentasche fest unter den Arm und drückte den messingfarbenen Klingelknopf.

Es dauerte lange, bis der Summton des Öffners die Türe frei gab. Nur mit Mühe gelang es ihm, den schweren Holzkoloss zu bewegen und sich Zutritt zu verschaffen. Die Weitläufigkeit des Treppenhauses irritierte ihn, doch ließ er sich nicht ablenken von Marmorstufen und Wandgemälden; zielstrebig folgte er einem breit ausgelegten Teppichläufer, der ihn zu einer nicht minder prächtigen Flügeltüre führte. Wieder klingelte er. Eine junge Dame, adrett gekleidet und von ansehnlichem Äußeren, begrüßte ihn mit höflicher Bestimmtheit. Er käme vom Finanzamt, sagte er und, kaum hörbar, sprach er seinen Namen. „Nehmen Sie doch bitte Platz, Herr von Guttmann spricht noch mit einem Klien­ten. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“. Sich seines Auftrages bewusst, verneinte er diese Frage. „Darf ich Ihnen Ihren Mantel abnehmen?“ Durch eine abkehrende Bewegung entzog er sich dieser Frage; er setzte sich auf einen der Stühle, die Aktentasche fest an sich gedrückt. Sich selbst vergewissernd fühlte er das sperrige, ihm überaus vertraute Leder, während sein Blick wie von selbst über die an den Wänden hängenden Gemälde hinwegglitt. Es fühlte sich ganz offensichtlich nicht wohl in dieser Umgebung, doch blieb er ruhig sitzen in zurückgezogener Geschäftsmäßigkeit. Er zog seinen halb geöffneten Mantel fest an sich; schließlich hatte er einen Auftrag zu erfüllen.

 

Die Aufgabe, die ihm aufgetragen war, bewirkte in ihm eine gewisse Entschlossenheit. Je länger er zu warten hatte, desto entschiedener und bedingungsloser spürte er in sich den Willen, sie ordnungsgemäß auszuführen. Ein Gemälde zog immer wieder seine Aufmerksamkeit auf sich, es war der „Schrei“ von Edvard Munch. Obwohl er immer wieder seinen Blick auf dieses Bild richtete, war es für ihn doch nicht mehr als ein Bild und schließlich blieb es Teil einer Welt, die nicht seine war. Die adrette Dame kam und sagte, es wäre soweit. Sie öffnete eine Türe und ließ ihn eintreten. Entschlossen betrat er den Raum, der sich großräumig und lichtüberflutet vor ihm auftat. Von der Decke hing ein ausladender Kristallleuchter, der die Lichtwirkung der hohen Fenster kraftvoll verstärkte. Ein breiter, in Blautönen changierender Teppich ebnete den Weg zu dem in wuchtiger Schönheit ruhenden Schreibtisch am Ende des Raumes. Von dem dahinterstehenden Stuhl war nur die hochragende Rückenlehne aus schwarzem Leder zu sehen.

Noch bevor er alles in sich aufnehmen konnte, trat ein Herr ins Zimmer, kaum älter als er. Selbstsicher und mit zuvorkommender Freundlichkeit stellte er sich vor: „Guttmann, was kann ich für Sie tun?“. Kannte er den Beweggrund seines Besuches nicht, dachte er, während er den Mantel mit einer raschen Handbewegung glättete. „Wie war Ihr Name?“. Er stellte sich vor. „Ach Sie sind der Herr vom Finanzamt – kommen Sie!“. Er folgte dem schnellen, dynamischen Schritt in einen entfernt gelegenen Raum. Es war das Archiv, das, wie er sogleich erkannte, übersichtlich und mit einem bestechenden Sinn für Ordnung angelegt war. Sie gingen durch die Regalreihen bis Herr von Guttmann plötzlich stehen blieb: „Hier sind die Jahrgänge, die Sie benötigen. An diesem Tisch hier können Sie arbeiten! Papier und Schreibzeug liegen für Sie bereit! Wenn Sie etwas brauchen, wenden Sie sich an die Schreibdamen, vorn, gleich im ersten Zimmer.“ Der Ton war bestimmt aber keineswegs unfreundlich. Während Herr von Guttmann ging, blieb er am Tisch stehen und blickte auf die Ordner, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Es war etwas, das sein Gleichgewicht gestört, sein Inneres in Unruhe versetzt hatte. Die Einheit von langjährig Gesichertem und augenblicklich Gefühltem war in ihm irgendwie ins Schwanken geraten. Er fühlte sich wie ein Tiger im Käfig, und es war ihm, als sähe er überall Stäbe, die ihn beengten. Es dauerte eine Zeit, bis er seinen Mantel auszog, seine bunten Stifte auf den Tisch legte und mit seiner Arbeit begann.

Die Dokumente waren umfangreich, sämtliche Belege sorgfältig abgeheftet und mit Kommentaren versehen. Aufmerksam, sich immer wieder vergewissernd, studierte er die einzelnen Beträge und verglich sie mit der Buchführung und den jeweiligen Kontoständen. Er hatte gelernt, mit Zahlen umzugehen, sie zuzuordnen, sie hochzurechnen und sie auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Er hatte eine Spürnase für Unstimmigkeiten, für Fehlerhaftes und Ungerechtfertigtes. Schnell durchschaute er Zusammenhänge, errechnete Zwischenwerte und erstellte Bilanzen, überflog die Kolonnen und Zahlenreihen, addierte und subtrahierte. Zahlen waren seine Welt und in dieser Welt kannte er sich aus. Vertieft in seine Arbeit bemerkte er nicht, dass es Abend geworden war; die Schreibkräfte hatten schon längst das Büro verlassen. Herr von Guttmann war es, der ihn schließlich überreden konnte, seine Arbeit am nächsten Tag fortzusetzen.

Es war dunkel, als er das Haus verließ. Die Fassade, die schon am Morgen einen starken Eindruck auf ihn gemacht hatte, wirkte im Schattenspiel der Straßenlaternen noch mächtiger, sie hatte etwas Unnahbares und Beherrschendes. Dieses Bild prägte sich ihm ein, wie auch die anderen Bilder dieses Tages, aber noch hatte er sich von der Welt der Zahlen nicht gelöst. Der Weg war nicht kurz, den er zu gehen hatte; er ging ihn ohne Eile. Ganz langsam begannen sich in seinen Gedanken Zahlen und Bilder zu mischen. Die vielen Daten und Zahlen, mit denen er es bisher täglich zu tun hatte, blieben stets das, was sie waren, sie blieben Zahlen, nichts weiter; Zahlen ohne Inhalte, nüchterne, leblose Zahlen. Heute aber mischte sich Farbe ein, nahmen die Zahlen Gestalt an, heute zeigten sie ihr Gesicht. Große Zahlen behandelte er bisher nicht anders als die kleinen; sie bedeuteten ihm nichts; sie hatten zu stimmen, mehr verlangte er nicht, mehr war nicht seine Aufgabe. Nie war ihm der Gedanke gekommen, einen Vergleich zu seinen begrenzten Möglichkeiten herzustellen, wo er doch die Eltern zu unterstützen und einen Großteil der Miete zu tragen hatte. Doch, die Zahlen waren seine Aufgabe und diese Aufgabe hatte er zu erfüllen.

Heute nun konnte er sehen, was sich hinter großen Zahlen verbirgt. Die Zahlen wurden zu Bildern, während sich die Bilder immer konkreter aus Zahlen zusammensetzten. Wie zwei Elemente gingen Zahl und Bild eine untrennbare Verbindung ein. Es war ihm, als hätte sich die Welt verändert, als hätte er plötzlich Zutritt zu einer Welt, die ihm bisher verborgen geblieben war. Während er durch die Straßen ging, fing er an, jedes Haus zu taxieren, den Bildern Zahlenwerte zuzuordnen und sich Vorstellungen über ihr Inneres zu machen. Die Welt der kleinen Zahlen war ihm durch die tägliche häusliche Enge durchaus vertraut. Er kannte sie ja und immer besser gelang es ihm, zwischen dem Großen und dem Kleinen Abstufungen vorzunehmen und sie mit bestimmten Vorstellungen zu verbinden. Zu Hause angekommen, sah er lange auf die dunklen Fenster seiner Wohnung; er fühlte sich in dem bestätigt, was ihm auf dem langen Heimweg schon zu einer ganz unerwarteten Erfahrung geworden war.

Pünktlich saß er am nächsten Morgen im Archiv. Die adrette Dame von gestern brachte ihm eine Tasse Kaffee. Er begann mit der Arbeit. Erst, als er seinen Rotstift das erste Mal zur Hand nahm, fiel ihm auf, dass er ihn gestern nicht ein einziges Mal gebraucht hatte. Sollte er bei der gest­rigen Prüfung etwas übersehen haben? Mit noch größerer Aufmerksamkeit musterte er die Belege, fragte nach Herkunft und Berechtigung, überprüfte die Echtheit, ordnete zu, zählte zusammen, rechnete nach, verglich. Einige Punkte weckten bei ihm Misstrauen, wiederum andere ließen sich nicht plausibel erklären, manches schien ihm lückenhaft. Immer häufiger kam sein Rotstift zur Anwendung. Die nach seinem Dafürhalten fehlenden Unterlagen notierte er ebenso wie die noch zu klärenden Sachverhalte. Am Abend überreichte er Herrn von Guttmann eine Liste mit den Beanstandungen und machte sich auf den Heimweg.

Wieder stand am nächsten Tag eine Tasse Kaffee auf seinem Tisch im Archiv. Herr von Guttmann hatte Gerichtstermine wahrzunehmen, was erklärt, dass die anstehenden Fragen noch nicht geklärt werden konnten. Er setzte seine Prüfung fort. Er hatte schlecht geschlafen, hatte von prachtvollen Bildern und gefälschten Zahlen geträumt, war auf dem Weg zu seiner Arbeit vom Regen überrascht worden und war schon am frühen Morgen mit seiner Mutter in einen heftigen Streit geraten. Sie hatte beklagt, dass er in den letzten Tagen alles nur schlecht-reden würde, dass er an allem etwas zu bemängeln hätte, dass er laut und unbeherrscht sei. Unkonzentriert und mürrisch nahm er seinen Rotstift zur Hand. Wieder entdeckte er Ungereimtheiten und er begann, absichtsvolle Zuwiderhandlungen zu vermuten, Verstellungen, Irreführungen, Täuschungen. Wieder schrieb er eine lange, detaillierte Liste mit noch zu klärenden Einzelheiten. Er ließ sie auf dem Tisch im Archiv liegen und ging. Inzwischen kannte er jedes Haus, das er, genau taxierend, auf seinem Heimweg passierte. Seine Vorstellungen weiteten sich von der Innenausstattung der Räumlichkeiten zu den Lebensgewohnheiten der Bewohner; er berauschte sich an vermeintlichem Reichtum und empfand Mitgefühl mit Seinesgleichen.

Die Steuerprüfung bei Herrn von Guttmann zog sich hin. Die Besuche bei ihm wurden seltener und galten lediglich der Klärung anstehender Fragen. Es war nicht einfach, bei all dem entstandenen Misstrauen einen geordneten und gesetzmäßigen Abschluss zu finden. Am Ende erhielt Herr von Guttmann die Auflage einer gehörigen Nachzahlung. Er war es, der sie errechnet und auf den Weg gebracht hat. Mit Genugtuung hatte er das Schreiben der behördlichen Poststelle übergeben. Nun saß er wieder an seinem Schreibtisch im dritten Stock und bearbeitete die Akten. Alles war unverändert in diesem Raum, nur er war ein anderer. Verständnisvoller behandelte er die kleinen Zahlen, misstrauischer die Großen; er sah die Bilder vor sich und folgte seinen Vorstellungen. Auch zu Hause haben sich derweil die Verhältnisse geändert. Er verstand sich nicht mehr mit den Eltern, zog sich häufiger zurück, war aber voller Klage, wenn sie beisammen waren. Es müsse sich alles ändern, die Ungerechtigkeit müsse ein Ende haben. Die Eltern beobachteten die Entwicklung mit Sorge.

Er nahm Kontakt auf mit einer politischen Gruppierung, von der er bisher keine Notiz genommen hatte, die er aber für einflussreich und wehrhaft genug hielt, wirkliche Änderungen zu bewirken. Mehr und mehr war er davon überzeugt, dass er dazu berufen sei, das bestehende Gefüge von Zahl und Bild von Grund auf zu erneuern. Doch sehr bald schon musste er feststellen, dass diese politische Gruppe seinen Vorstellungen nicht entsprach und nicht geeignet war, wirkliche Veränderungen nach seinen Vorstellungen herbeizuführen. Auch musste er sich eingestehen, dass ihm selbst konkrete Vorstellungen fehlten, die seinem inneren Bedürfnis nach Veränderung entsprechen könnten. Währenddessen erfüllte er seine beruflichen Aufgaben mit noch größerer Sorgfalt und Strenge.

An einem normalen Wochentag ergab es sich, dass er bei einem abendlichen Rundgang durch sein eher kärgliches Stadtviertel aufmerksam wurde auf ein am Straßenrand aufgestelltes Plakat. Es entsprach nicht seiner Gewohnheit, auf plakative Werbungen und illustre Kaufangebote zu achten, die vielfältig und bunt den Weg säumten. Außerdem begann es dunkel zu werden und das in Bild und Schrift Gezeigte zog sich immer mehr in die Verschwiegenheit der Dämmerung zurück. Doch von diesem Plakat fühlte er sich angezogen, die klare und entschlossene Formel mit einprägsamen roten Lettern in den schwarzen Hintergrund eingebrannt fesselte ihn: „NICHT WEITER SO“. Es war, als könnte er sich von diesem Aufruf nicht lösen, als wäre er direkt angesprochen und so stand er vor dem Plakat, ohne zu wissen, wie mit der in ihm entstandenen Unruhe umzugehen sei. Am unteren Rand des Plakates las er drei Buchstaben, mit denen er nichts verband, doch zusammen mit dem flammenden roten Schriftzug des „NICHT WEITER SO“ prägten sie sich bei ihm ein.

Dass er in dieser Nacht unruhig schlief, wurde ihm kaum bewusst, zu fordernd war die Gewohnheit der alltäglichen Arbeitsabläufe. Es vergingen Wochen und Monate und alles ging seinen gewohnten Gang. Er saß an seinem Schreibtisch im dritten Stock, das schwere Atmen und das gelegentliche, gequälte Husten vom Schreibtisch hinter ihm hörte er mit antrainiertem Gleichmut. Wie an jedem Tag nahm er auch heute eine Akte vom vor ihm aufgetürmten Stoß. Er las den Namen, die Anschrift und weitere Details des zu Prüfenden und stieß unvermittelt auf drei Buchstaben, die ihm bekannt vorkamen. Es war wohl Zufall, dass unvermittelt zwischen den gehefteten Aktenblättern ein kleines, handliches Papier auftauchte mit roten, markanten Lettern auf schwarzem Hintergrund „NICHT WEITER SO“. Darunter die bekannten Buchstaben, ergänzt mit einer Anschrift und dem Namen der Partei. Emsig notierte er sich die Straße und die Hausnummer in einem nicht weit entfernten Stadtgebiet.

 

Am nächsten Abend saß er in der Straßenbahn schon ein wenig müde von den Verrichtungen eines eintönigen Arbeitstages. Mit abwesendem Blick verfolgte er die an ihm vorüber gleitenden Häuserfronten, die Aktentasche hielt er umarmt auf seinem Schoß. Er sah die vielen Menschen, die auf dem Weg nach Hause an den Haltestellen in das Innere der Straßenbahn drängten und, in Gedanken versunken, wurde ihm kaum bewusst, dass sich langsam und unaufhaltsam die Dunkelheit breit machte. An der Ecke Friedens-/Bürgerstraße stieg er aus. Die Gegend, in der er sich zurechtfinden musste, kannte er kaum. Er ging die Bürgerstraße entlang bis zur nach rechts abbiegenden Kriegbaumstraße, wo es nun darum ging die Hausnummer 112 ausfindig zu machen. Anfangs passierte er noch kleinere Geschäfte, ein Obst- und Gemüseladen, ein kleines Straßencafé, vor dem ein derber Holztisch und ein paar Plastikstühle sorglos zusammengerückt standen, ein Friseur dessen milchige Fensterscheiben den Blick ins Innere freigaben und schließlich ein kleines, unscheinbares Schreibwarengeschäft, das mit Zigarettenwerbung und einigen Hinweisen auf lokale Tageszeitungen, meist in türkischer Sprache, auf sich aufmerksam machte. Die Straßenlaternen gaben ein kärgliches Licht, die wenigen Passanten gingen wortlos vorüber; hinter einigen Fenstern begann sich Leben zu regen, während sich andere noch in das Dunkel geschundener Fassaden einfügten. Das Leben hinter den matt erleuchteten Fenstern interessierte ihn, zumal ihm der Umgang mit den täglichen Zahlen und Bilanzen deutlich machte, wie unterschiedlich die sich dahinter verbergenden Probleme und Nöte wohl empfunden werden. Und doch glichen sich die Fenster in ihrem nach außen dringenden Licht. Während sich das Leben jenseits der erleuchteten Fenster abspielte, fühlte er sich auf der anderen Seite gleichsam im Schatten des Lebens. Die Dunkelheit in der sich lang hinziehenden Straße verstärkte bei ihm dieses Gefühl. Auf der Suche nach der Nummer 112 ging er weiter, kaum noch die Tristesse der monotonen Häuserfluchten wahrnehmend.

Er folgte der Straße und die zunehmende Dunkelheit folgte ihm. Es waren nur wenige Menschen unterwegs, die sich wie Schatten hin und her bewegten und nur gelegentlich fuhren Autos vorüber. Immer mehr konzentrierte sich sein Blick auf eine kleine in der Ferne stehende Menschengruppe, die, wie undeutlich zu erkennen war, sich offensichtlich vor einem Lokal zusammengefunden hatte. Er kam näher und bald schon sah er sie deutlich: Vier junge Männer, rauchend, in angeregtem Gespräch vertieft. Sie nahmen kaum Notiz von dem Fremden, der vor der halb offenen Tür stehen blieb und wie gebannt auf das Plakat mit dem roten Schriftzug auf schwarzem Hintergrund blickte, das große Teile der Tür bedeckte. Eine an einem rostigen Metallträger hängende Leuchte rückte den über der Tür stehenden Namen der Gaststätte ins Blickfeld. „Zur Rose“ las er, doch er las es beiläufig, ohne besondere Aufmerksamkeit. Er ging durch die Tür. Am Ende eines langen Ganges, an dessen Wänden weitere Plakate hingen, stieß er auf ein Emailschild „Zur Gaststätte“. Mit verhaltener Entschlossenheit trat er in einen Raum, in dem zahlreiche, meist junge Menschen in Gruppen zusammenstanden und heftig diskutierten. Einige saßen an Tischen vor halb leeren Gläsern, hinten in der Ecke standen einige an einem runden Tisch, über ausgebreitete Zeitungen gebeugt, lautstark argumentierend und wild gestikulierend.

Er berührte eine Welt, die ihm fremd war. Er liebte die leise und schmerzfreie Beschäftigung mit Zahlen, Formularen und Dokumenten. Er war es gewohnt, mit einfachen Fakten umzugehen, die skelettartig die Wirklichkeit ausblendeten, mit Bilanzen und Hochrechnungen, die aktenmäßig leicht und schnörkellos zu erstellen waren, ohne, dass sie für ihn zu Last und Bedrängnis werden konnten. Hier nun laute Rede und vehemente Gegenrede, nachhaltige Proteste und schlichtender Einwand, Vorwürfe, Mutmaßungen, Anklagen, Rechtfertigungen. In allem war aufwühlende Unzufriedenheit spürbar und der Wille zu einschneidender Veränderung. Entschlossen, ja aggressiv wirkt das Rot auf den schwarzen Plakaten, die an der Rückwand des Raumes zu sehen waren. Seine Gedanken gingen hin und her: Dort seine Zahlen und Berechnungen, transparent, stimmig, unzweifelhaft und unwiderlegbar, hier der spürbare Drang, Einfluss zu nehmen, Wandel zu bewirken und Umwälzung herbeizuführen, anklagend, protestierend und fordernd. Dort die leblose, aktenmäßige Beständigkeit faktischer Gegebenheiten, hier der beherzt engagierte Versuch der Veränderung hinsichtlich der gesellschaftlichen Lebensbedingungen. In solche Gedanken vertieft und schwankend bei der Suche nach Orientierung wurde er unvermittelt von einem jungen Mann angesprochen: „Du bist neu hier?“. Ganz spontan bejahte er dies. „Du willst mitmachen?“. Diese Frage verwirrte ihn. „Was gibt es zu tun?“ und etwas zögernd fügte er hinzu: „Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, worum es geht. Die Plakate dort haben mich angesprochen, sie machten mich neugierig und nun bin ich hier.“

Der junge Mann, etwas ungepflegt gekleidet, mit langem Haar nach hinten gekämmt und zu einem Zopf gebündelt, hatte auffallend lebendige Augen; seine Sprache war direkt aber nicht weniger gewandt. Der schnelle Redefluss verbunden mit einer weitläufigen, politischen Sachkenntnis beeindruckte ihn. Er wurde gefragt, was er so beruflich mache. Mit kurzen Sätzen, wie er es gewohnt war, erzählte er von seiner Tätigkeit. Er wurde auf das Plakat angesprochen mit der Frage, was ihn dabei so bewegt habe. Was sollte er da sagen, wie seine Beweggründe erklären, wo er sie doch selbst nicht hinterfragt hatte und nur einem unbestimmten inneren Drang gefolgt war. „Das Plakat sprach mich an; ich kann eigentlich nicht erklären warum“, sagte er etwas verunsichert und suchte nach weiteren Erklärungen, doch dazu kam es nicht. „Hier ist einer, der dir unser politisches Programm genau erklären kann.“ Er deutete auf einen anderen jungen Mann aus der Gruppe der um den runden Tisch stehenden und immer noch diskutierenden Personen. Er trug eine olivfarbene Feldjacke und etwas ausgebeulte Jeans; am Revers fiel ihm ein Abzeichen auf mit den Buchstaben, die er bereits vom Plakat her kannte. Mit den Worten „das ist ein Neuer“ wurde er ihm vorgestellt. „Also du bist neu hier und du interessierst dich für unsere Partei.“ Noch bevor er etwas erwidern konnte, fühlte er sich vereinnahmt von einer imperativen Redensart, wie er sie so weder gekannt noch erwartet hat.

„Wir sind eine kleine kampfstarke Truppe, die sich das Ziel gesetzt hat, die Strukturen unserer Gesellschaft von Grund auf zu erneuern. Wir können nicht hinnehmen, dass die vielen Fremden in unserem Land die Oberhand gewinnen; wir müssen das Volk aufrütteln, wir müssen die Gesellschaft vor Überfremdung schützen und ihr wieder ein Leben ermöglichen, das dem deutschen Wesen entspricht.“ Von hinten wurde ihm ein Glas Bier in die Hand gedrückt; dabei hatte er noch nie Bier getrunken. Doch, abgelenkt durch die gedankliche Beschäftigung mit den programmatisch vorgetragenen Postulaten, trank er, das Glas fest in der Hand haltend. Er trank, als würde es ihm dadurch gelingen, Abstand zu gewinnen und Klarheit zu schaffen in der sich überstürzenden Flut von Gedanken. Mit sich verlangsamender Aufmerksamkeit hörte er weiter zu und es schien ihm als wiederholten sich die Begriffe, die sich in seinem Inneren einprägten. Er merkte nicht, dass sein Glas bald schon leer war und auch das zweite Glas, das man ihm anbot, trank er, ohne dass es ihm bewusst wurde. Er stand nun allein am runden Tisch mit dem Anführer in olivfarbener Feldjacke und dem Abzeichen am Revers; die anderen waren entweder bereits gegangen oder hatten sich anderen Gruppen zugewandt. Obwohl schon gedanklich abwesend, waren es doch einige Begriffe, die ihn nicht mehr losließen, die sich wie feurige Fanale in seinem Inneren festsetzten: „das Fremde“, „die Disziplin“, „der Mut“ und immer wieder „das Volk“, „die Gesellschaft“ und – wie eingebrannt – das „NICHT WEITER SO!“.