Die Kunst des richtigen Maßes

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Die Kunst des richtigen Maßes
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Johannes Huber:

Die Kunst des richtigen Maßes

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover und Gestaltung: Bastian Welzer

Gesetzt in der Ingeborg

Gedruckt in Deutschland

1 2 3 4 5 — 25 24 23 22 21

ISBN 978-3-99001-532-2

eISBN 978-3-99001-533-9

JOHANNES HUBER

Die Kunst des richtigen Maßes

Wie wir werden, was wir sein können


Inhalt

Quer durch Raum und Zeit

Die Asketen des Silicon Valley

Winkelmaß und Zirkel

Von Platon bis Thomas von Aquin

Das erotische Echo der Evolution

Das richtige Maß und das Ego

Die Wahl der Worte

Der Sinn des Fleißes

Die Rückkehr des Mittelalters

Das richtige Maß und das Gesetz

Das Maß des Göttlichen und des Ewigen

Wie wir das richtige Maß schaffen

Das richtige Maß und die Zukunft

Die Botschaft des Sternemachers

Quellen

Quer durch Raum und Zeit

Zu werden, was wir sein können, bedeutet, das Beste aus uns zu machen. Dieses Beste ist vielleicht mehr, als wir uns vorstellen können. Der Weg dorthin führt über das richtige Maß in allen Dingen des Lebens. Wir müssen es finden und halten. Doch was ist dieses richtige Maß eigentlich? Eine intergalaktische Einführung in dieses Buch.

Der Astronaut hat alles gesehen. Fremde Welten, andere Lebensformen, ferne Sonnen. Er hat keinen Namen. Mit Helm und mattweißem Schutzanzug sitzt er im Cockpit seines Raumschiffs, hantiert an den Paneelen und setzt seinen Kurs vorbei an den Sternen, auf seinem Weg durch die schwarze Stille des Alls.

Der Raketenantrieb genügt nicht, um tausende Lichtjahre zu überwinden. Es braucht mehr Kraft. Da passiert etwas. Der Geist des Raumfahrers löst sich von seinem Körper und unternimmt eine Reise auf höherer Ebene, eine, die alles ermöglicht und ihm das Universum offenbart. Er begreift alles. Außerirdische Kulturen, das Entstehen und Vergehen ganzer Planeten, den Kreislauf des Kosmos. Am Ende trifft er denjenigen, der das alles geschaffen hat: den Sternenmacher.

Star Maker erschien im Jahr 19371. Der englische Autor Olaf Stapledon schrieb unter diesem Titel einen Science-Fiction-Roman, der Parallelen bis in die Gegenwart zieht. Der fiktive Ich-Erzähler kehrt mit neuem Wissen auf die Erde zurück, mit aller Weisheit, die er in vielen Galaxien erworben hat. Tragisch seine Erkenntnis: Alle Zivilisationen, denen er begegnet ist, haben sich selbst ausgelöscht. Alle haben sich sehenden Auges zerstört.

Die meisten Spezies waren zum Zeitpunkt ihres Endes hoch entwickelt und hochintelligent. Doch als sie eine umfassende technische Machtfülle erlangten, kam ihnen die Fähigkeit abhanden, sich selbst zu reflektieren. Ein Mangel, an dem sie zugrunde gingen. Stapledon formulierte es so:

Halb aufgewacht aus der Dummheit der Entwicklung und sehr weit weg von einer wirklichen Reife, litten diese Zivilisationen an der Unfähigkeit des Geistes, mit den wechselnden Umständen der Entwicklung Schritt zu halten.

Die verschollenen Völker des Star-Maker-Universums hatten sich bei all ihrer Intellektualität verkalkuliert. Sie hatten viel hervorgebracht, aber vergessen, im endlosen Streben nach mehr, im Wollen und Müssen, das richtige Maß zu halten und es zu finden. Wenn alles möglich ist, brauchen wir innere Stärke, um zu entscheiden, ob wir etwa nehmen oder davon ablassen. Diese innere Stärke hatten sie nicht aufgebracht.

Die goldene Mitte

Wie und wo ist dieses richtige Maß zu finden? Die europäischen Denker haben es seit jeher als »goldene Mitte« definiert. Betrachten wir das anhand von vier Beispielen menschlicher Bedürfnisse.

Beispiel eins. Das Bedürfnis nach Anerkennung. Der Mensch ist ein zoon politikon, wie schon die antiken Philosophen Platon und Aristoteles vermerkten, also ein soziales und politisches Wesen und als solches auf ein Leben in Gemeinschaft ausgelegt.2 Das verlangt nach voller Anerkennung seiner individuellen Persönlichkeit. Das Bedürfnis nach dieser Anerkennung ist damit legitim. Wird es allerdings zur Geltungssucht, ist das richtige Maß verlassen.

Beispiel zwei. Das Bedürfnis nach Besitz. Besitz ist Grundlage unseres Sozialsystems und das Streben danach kann zu Leistung anspornen. Wird dieses Streben allerdings zu Habsucht, ist das richtige Maß ebenfalls verlassen.

Beispiel drei. Das Bedürfnis nach Sexualität. Die Huldigung des Gottes Eros ist uns als Urinstinkt in die Wiege gelegt, und das aus gutem Grund. Sie dient der Erhaltung der Art. Wird dieses Bedürfnis zur Wollust, dann ist auch hier das richtige Maß verlassen.

Beispiel vier. Das Bedürfnis nach persönlichem Wohlergehen. Auch dieses Bedürfnis empfinden wir zu Recht. Es dient unserem Überleben und unserem Glück, auf beides hat jeder Mensch Anspruch. Hier ist das richtige Maß verlassen, wenn dieses Bedürfnis zur Selbstsucht wird.

Der österreichische Arzt und Autor Markus Metka hat sich mit den sieben Todsünden befasst, und zwar nicht aus der Perspektive der Kirche mit erhobenem Zeigefinger, sondern aus jener der Präventions- und Anti-Aging-Medizin. Stolz, Habgier, Neid, Wollust, Zorn, Völlerei und Trägheit, all diese Verhaltensweisen sind nichts anderes als eine Überschreitung des richtigen Maßes, lautet sein Befund. Für Metka sind sie damit auch eine Quelle von chronischem Stress, Angstzuständen und Suchtverhalten bei allen jenen, die sich dieser Überschreitung schuldig machen. Ganz abgesehen von den Folgen für den Planeten.3

Auch bei der Transzendenz, das kann ich als Arzt und Theologe sagen, geht es um das richtige Maß. Wir sogenannten modernen Menschen sind versucht, die Endlichkeit unseres Daseins als einzige Realität zu sehen. Die Wissenschaft zieht die Grenzen der Wahrheit gerne dort, wo unsere Sinneswahrnehmungen enden.

Dabei vergessen wir gerne, dass wir Teil eines größeren Ganzen sind, das zu durchschauen unser Gehirn nicht in der Lage ist. Das richtige Maß bedeutet also auch, das uns nicht Zugängliche zu akzeptieren und mit ihm zu rechnen. Wenn wir das verweigern, verlassen wir das richtige Maß ebenfalls, genau wie wir es verlassen, wenn wir umgekehrt nur noch mit dem Kopf im Himmel leben und dabei den Boden unter den Füßen verlieren.

Der wertvolle Blick von außen

Der namenlose Astronaut in Star Maker wusste jedenfalls mehr, als wir wissen, und er machte weitreichendere Bekanntschaften als unsereins. Denn unsere Versuche, mit außerirdischem Leben Kontakt aufzunehmen, waren bisher erfolglos. Sonst wäre ein Vertreter oder eine Vertreterin einer galaktischen Spezies schon in einer der großen Talkshows gesessen.

Sollte es fremde Intelligenzen geben, scheinen sie nicht besonders kommunikativ zu sein. Mit uns zumindest kommunizieren sie nicht. Ist es trotzdem möglich, dass uns von irgendwo aus dem All Wesen bei dem, was wir tun, wie wir uns entwickeln und was wir gerade mit unserem Planeten machen, beobachten?

Es ist eine Frage, die nie an Faszination verliert. Die NASA befasste sich 2018 mit möglichen Hinweisen auf die Existenz von Aliens und veranstaltete dazu sogar ein Symposium. 2020 fand eine weitere Tagung zu diesem Thema statt, deren Ergebnisse in der Fachzeitschrift Acta Astronautica nachzulesen waren. Es ging nicht darum, ob sich außerirdisches Leben direkt aufspüren lässt, sondern ob es Planeten oder Sterne gibt, auf denen sich so etwas wie Umweltverschmutzung feststellen lässt. Sprich, ob sich in der Weite des Weltraums kontaminierte Areale finden, die sich nicht evolutionär erklären lassen.4

Die Antworten darauf sind nach wie vor irgendwo da draußen. Doch wer eine Leidenschaft für freundliche oder feindliche Bewohner anderer Galaxien hat, darf weiter an ihre Existenz glauben, und das durchaus auf rationaler Basis.

 

Mitte April des Jahres 2021 bestätigte das Pentagon die Echtheit eines Videos, das dreieckige Flugobjekte am Himmel zeigt, die sich ungewöhnlich schnell bewegen. Sie heißen nicht mehr UFOs, sondern UAPs, auf Deutsch »Unidentifizierte Luft-Phänomene«, oder AAVs, das steht für »Anomale Luftfahrzeuge«. Eines der Videos ist auf YouTube zu sehen und hat ausnahmsweise nichts mit Verschwörungstheorien zu tun. Die Aufnahme entstand im Juli 2019 an der Küste von San Diego. Das keilförmige Objekt flog rund 200 Meter über einem Schiff der Navy.

Ein ähnliches, unbekanntes Flugzeug tauchte schon zuvor in der Nähe der Naval Air Station Oceana im US-Bundesstaat Virginia auf. Der Filmemacher Jeremy Corbell und der Reporter George Knapp stellten eine Aufnahme davon online. Eine Taskforce, die sich mit UAPs beschäftigt, habe »das Material in die Akten aufgenommen«, heißt es aus dem Pentagon. Das US-Verteidigungsministerium will keine weiteren Untersuchungsergebnisse präsentieren. »Das wird nicht öffentlich diskutiert«, sagte ein Sprecher und bedankte sich für die Aufmerksamkeit.

Im Mai 2021 überraschte der Sender CNN mit einer Dokumentation über diverse UAP-Sichtungen inklusive Videomaterial. Sean Cahill, Offizier der US Navy, und Christopher Mellon, ehemals stellvertretender Verteidigungsminister für Geheimdienste, teilten im Interview ihr Wissen mit der Welt. Cahill berichtete als Augenzeuge: 2004 war er Oberstabsbootsmann an Bord der USS Princeton und sah ein Flugobjekt mit einer Technologie, die unser Wissen »um 102.000 Jahre übertraf«, wie er sagte. Das Objekt hatte keine Steuerflächen. »Es bewegte sich in Überschallgeschwindigkeit, und es schien immer schon im Vorhinein zu wissen, was unsere Piloten vorhatten.« Ex-Vizeverteidigungsminister Mellon betonte, dass es »keine Feindseligkeit gab«. Dennoch wurde die Begegnung als »besorgniserregend« eingestuft.

Vielleicht stehen wir also unter Beobachtung wie Labormäuse. Durch jemanden, der uns gerade dabei zusieht, wie wir unseren Planeten an die Wand fahren, und der darüber vielleicht in den Medien einer Gesellschaft, die uns 102.000 Jahre voraus ist, nüchtern und objektiv berichtet. Der eins und eins zusammenzählt und sagt: Wenn die so weitermachen, dann war‘s das bald für sie.

Wie dem auch sei, wir wären selbst als Spezies dafür ausgestattet, uns von außen zu beobachten. Wir könnten uns die Entwicklungen und den Kurs des Raumschiffes Erde nüchtern ansehen. Wir könnten die Scheuklappen ablegen, Fragen stellen, Schlüsse ziehen, selbst eins und eins zusammenzählen und dabei für die Zukunft lernen. Es fehlt uns dazu bloß an ernsthafter Selbstreflexion. Das ist genau der Mangel, der in Star Maker das Schicksal aller hoch entwickelten Kulturen besiegelte.

Die Eleganz des Weglassens

Wie der Astronaut aus Star Maker uns wohl sehen würde, genau heute? Wie würde er den Kurs des Raumschiffes Erde einschätzen? Sähe er eine Chance, unser Harakiri mit Anlauf, unsere kollektive Selbstausrottung, noch abzuwenden?

Der britische Science-Fiction-Autor Stapledon könnte darüber wahrscheinlich einen eigenen Roman schreiben, wäre er nicht im Jahr 1950 verstorben. Der Plot wäre spannend. Er würde von einer Gesellschaft handeln, die dem Übermaß, das sie lange als Lebensstil propagiert und etabliert hat, mit dem Geist der Moderne begegnen muss, um sich selbst zu retten.

Mit der Eleganz des Weglassens.

Mit der Entdeckung des richtigen Maßes.

Dann bestünde die zentrale Frage vielleicht darin: Schafft sie das? Oder geht sie unter wie so viele Gesellschaften vor ihr?

Der Verlust des richtigen Maßes

Der Schriftsteller Ezra Pound sagte einmal weise Worte5:

Der Untergang jeder Hochkultur beginnt mit dem Niedergang der Sprache.

Stimmt das, dann sieht es schlecht aus. Denn der Wortschatz der Schulanfänger sinkt Jahr für Jahr und bei der Grammatik schleicht sich selbst im vermeintlich Hochdeutschen ein gewisser Schlendrian ein.

Pounds apodiktischer Behauptung lässt sich immerhin einiges entgegensetzen. Nicht jede SMS muss gleich ein Stück Literatur sein, nicht jede Meinung ein geschliffen formulierter Gedanke, nicht jeder Dialog ein Anwärter für den Drehbuch-Oscar. Sprache unterliegt einem steten Wandel, der vor allem ältere Menschen schon immer gestört hat.

Doch es gibt viel drastischere Hinweise auf den Untergang unserer Kultur, sei es das Schreckgespenst des Klimawandels oder sei es dieses kleine Virus, das die ganze Welt auf den Kopf stellte, und dem vielleicht andere, gefährlichere Viren folgen werden. Es scheint jedenfalls, als würden wir sechsspännig in den Untergang fahren, die Peitsche schwingend und den Fahrtwind in den Haaren, hüa!

Was die Bibel in Genesis 11, dem Turmbau zu Babel, erzählt, scheint sich gerade zu wiederholen. Der Mensch möchte nach oben, immer weiter, immer höher, von der Erde weg, alle Grenzen durchstoßen, hinauf in den Himmel, das richtige Maß verlierend. Er möchte sein wie Gott, allwissend, allmächtig. Dumm nur, dass es dabei zum Sündenfall kommt und die Sache böse endet. Schon Homer, der früheste Dichter des Abendlandes, wusste das. Vor rund 2.800 Jahren notierte er:

Erheb sich nimmer ein Mann zu frevlem Hochmut, sondern still empfang er ein jedes Geschenk von den Göttern.

Worum es geht

In diesem Buch, in dem ich Sie hiermit herzlich begrüße, hinterfragen wir, was die Suche nach dem richtigen Maß bedeutet. Welche innere Einstellung sie uns abverlangt. Es geht um die Kunst großzügiger Zurückhaltung und um die lebensverändernde Macht, die in ihr steckt.

Diese Suche ist nicht nur ein Gebot der Stunde, um das Raumschiff Erde zurück auf eine moderate Flugbahn zu bringen. Auf eine, auf der es noch 102.000 Jahre lang und darüber hinaus durch das Weltall cruisen kann. Es geht auch darum, dass wir nur in Ausübung dieser Kunst den eigentlichen Sinn unseres Lebens als Menschen auf diesem Raumschiff entdecken und erfüllen können. Denn diese Kunst befähigt uns, das zu werden, was wir sein können.

Das eine, der Schutz und die Rettung des Raumschiffes Erde, ist mit dem anderen, unserem inneren Weg zu neuer Größe, untrennbar verbunden.

Auf welche Weise?

Autodidakten auf Leben und Tod

Der Amerikaner Richard Buckminster Fuller, 1895 geboren und ein Autodidakt ohne abgeschlossenes Studium, war Architekt, Konstrukteur, Visionär, Designer, Philosoph und Schriftsteller mit prognostischen Fähigkeiten. 1968 publizierte er einen Text6, den viel später der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk wiederentdeckte: Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde lautet der Titel. Welche Bedingungen gibt es dort, und wie ist dieses Raumschiff zu fliegen, damit es sich nicht selbst zerstört?

Fuller formulierte die beunruhigende These, die Menschheit sei unterwegs in einem Fahrzeug, eben diesem Raumschiff Erde, für das ihr die Bedienungsanleitung abhandengekommen sei. Sie habe die Fähigkeit, dieses Raumschiff sauber zu navigieren, einfach verloren. Niemand mehr versuche, am Steuer Ordnung zu schaffen. Weshalb es an Bord zu Unordnung und Chaos komme.

Die Art, wie das Innere dieses Raumschiffes inzwischen tatsächlich durcheinandergeraten ist, erinnert an eine alte Theorie aus der Psychologie: Die Stube eines Menschen ist das Spiegelbild seiner Seele. So wie seine Seele beschaffen ist, so ist auch seine Stube beschaffen. Das Äußere ist das Spiegelbild seines Inneren. Das lässt sich vom einzelnen Menschen und seiner privaten Stube auf die Menschheit und ihren gemeinsamen Lebensraum, die Erde, umlegen. Doch in diesen Spiegel blicken wir nicht mehr richtig.

Fuller blickte sehr wohl hinein. Er verstand sein ganzes Leben als Experiment und dachte sich, dass er wie in einem Raumschiff lebt. Wenn er das Habitat, also seine Umgebung, verbessern wollte, musste er auch sein Leben verbessern.

Zu diesem Zweck legte er ein Tagebuch an. In diesem Logbuch des Lebens wollte er genau dokumentieren, was er jeden Tag tat, um seinen Beitrag gegen den kosmischen Bankrott zu leisten.

Ein interessanter Gedanke, den Peter Sloterdijk wie gesagt neu zur Diskussion stellte. Er entwickelte ihn weiter und sagte sinngemäß:

Die Daseinsberechtigung des Menschen setzt voraus, dass er ein Autodidakt wird. Ein Autodidakt auf Leben und Tod. Damit er dieses Raumschiff ordentlich unter Kontrolle hat. Denn was er braucht, kann keine höhere Instanz vermitteln. Das muss er sich selbst erarbeiten.

Was bedeutet das?

Es bedeutet, der Mensch muss sich das richtige Maß selbst aneignen. Jeder Mensch muss es für sich und wir als Menschheit müssen es gemeinsam für uns finden.

Einfach ist weder das eine noch das andere. Schon weil wir uns dieser Aufgabe zum ersten Mal stellen müssen. Denn Jahrzehntausende lang war die Entwicklung der Menschheit von Mangel geprägt. Nehmen, was da ist, das war das oberste Gebot, um zu überleben. Darauf sind wir evolutionär programmiert, doch das hat sich gründlich geändert. Jetzt ist es genau umgekehrt. Jetzt ist die Menschheit vom Überfluss geprägt und das oberste Gebot lautet: Verzichten auf das meiste von dem, was da ist.

Das große Missverständnis

Wir alle sind unterwegs im Raumschiff Erde, und unser Dasein auf dieser spacigen Karavelle besteht derzeit im Schadensmanagement. Wir versuchen, Schadensfälle zu erkennen und zu reparieren, betreiben aber kaum Schadensprävention. Für die Prävention fehlt uns die Voraussicht. Wir reparieren, etwa wenn es um die Folgen der globalen Emissionen geht, doch wir unterbinden sie nicht, und vielleicht drohen uns viele andere Gefahren, die wir noch gar nicht sehen. Manche Vorboten des Weltuntergangs kommen still. Wenn wir sie bemerken, kann es schon zu spät sein.

Das richtige Maß zu finden, zu nehmen und zu halten ist das Herzstück der Schadensprävention. Vielen ist das bewusst geworden. Doch wie geht das? Bei der Beantwortung dieser Frage ist ein großes Missverständnis entstanden. Es besteht in der Annahme, dass sich das richtige Maß verordnen lässt, durch Gesetze oder, kaum subtiler, durch Meinungsdiktate. Verbieten wir das Wiener Schnitzel und brandmarken wir Autofahrer als Umweltschänder und Flugreisende als Klimamörder, und alles wird gut.

Doch das richtige Maß besteht niemals aus einem Lebenskorsett, das uns andere anlegen, womöglich so fest, dass wir keine Luft mehr kriegen. Auch dann nicht, wenn dieses Korsett Menschen liefern, denen wir vielleicht sogar redliche Absichten unterstellen. Auf diese Art zwingt uns eine emporkommende Öko-Elite mit dem Hinweis auf den uns allen drohenden Untergang ihre Weltordnung als einzig mögliche auf und wir beschreiten den Weg zu einer Öko-Diktatur. Wie diese Öko-Elite tickt und was sie mit Verboten und Gesinnungsterror anzurichten im Begriff ist, steht weiter hinten in diesem Buch.

In Wirklichkeit ist das richtige Maß, wie dieses Buch zeigen wird, etwas ganz Anderes und viel Basaleres. Es ist etwas, das wir nur in uns selbst finden können. Es ist nichts Fixes und niemals etwas Endgültiges, sondern etwas, das wir immer wieder neu ausbalancieren müssen. Nur dann kann es seine lebensverändernde Kraft entfalten.

Das war schon immer so, wie ein Blick zeigen wird, den wir in den kommenden Kapiteln in die Menschheitsgeschichte werfen. Wir werden sehen, wie schon in der Antike, der Wiege unserer Kultur, die Gedanken der Philosophen um das richtige Maß kreisten, und welche entscheidende Rolle es im uralten Mysterium der Freimaurerei spielte. Geändert hat sich im Vergleich zu früher nur, dass wir auf der Suche nach dem richtigen Maß den Blick mehr denn je auf unsere Zukunft und die Zukunft der Welt richten müssen.

Wir werden, was wir sein können, und mit uns wird die Welt, was sie sein kann.

Wir müssen dabei nach vorne blicken und bereit sein, Dinge einzubeziehen, die wir noch gar nicht kennen. Es geht um das Zulassen von Möglichkeiten, um Offenheit, auch dafür, dass uns unsere persönliche, individuelle Entdeckung des richtigen Maßes Änderungen in unserem Denken und Handeln, in unserem ganzen Leben nahelegt, die wir noch nie in Betracht gezogen haben.

 

André Heller, der große österreichische Multimedia- und Aktionskünstler, Kulturmanager, Autor, Poet, Chansonnier und Schauspieler, hat es so ausgedrückt:

Zwischen Geburt und Tod liegt das Leben, und das Leben ist nichts anderes als ein einziger Kurs, und in diesem Kurs müssen wir lernen, auch das Zukünftige ins Auge zu bekommen.

Aus unseren eigenen Erfahrungen, aus der Beobachtung unserer äußeren und inneren Welt, aus dem Erkennen der Brücken, die zwischen beiden Welten bestehen, aus dem Hören auf unsere innere Stimme, aus unserer Aufmerksamkeit für das Echo, das Worte und Taten tief in uns haben, formt sich allmählich die Erkenntnis. Der Schleier des Mehr-und-immer-mehr legt sich. Wir erkennen das richtige Maß und wir erkennen dabei ebenso uns selbst.

Darin liegt unsere Chance, das Beste aus unserem Aufenthalt im Raumschiff Erde zu machen und dabei den eigentlichen Sinn dieses Aufenthalts zu erfüllen: Wenn wir uns darin üben, unser Leben nach diesem aus unserem eigenen Inneren geborenen richtigen Maß auszurichten, sind wir nicht nur körperlich und geistig gesünder, beruflich und privat erfolgreicher und in jeder Hinsicht kreativer, wie dieses Buch zeigen wird. Dann sind wir auch freier, als es uns je möglich erschien. Dann sind wir Teil einer Gemeinschaft, die mehr ist als die Summe ihrer Individuen.

Maßlos zu sein bedeutet, nach dem richtigen Maß nicht einmal zu suchen, als existiere es gar nicht. Als hätte es keinen Belang, weder für uns als Individuen noch für uns als Gemeinschaft. Wenn wir das richtige Maß gar nicht erst suchen, bringen wir uns um unsere Chance auf alles Gute und wirklich Wichtige, das wir auf unserer Reise im Raumschiff Erde bekommen könnten.