Zehn Tage, die die Welt erschütterten

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So groß war seine Macht, dass die Regierung seiner Gehorsamsverweigerung gegenüber die Augen verschließen musste. Ja, mehr als das, sie sah sich gezwungen, den Rat des Verbandes der Kosakenarmee anzuerkennen und die neugebildeten Kosakensektionen der Sowjets für ungesetzlich zu erklären. In der ersten Oktoberhälfte erschien eine Kosakendelegation bei Kerenski, die in arrogantem Ton die Niederschlagung der gegen Kaledin gerichteten Anklagen forderte und dem Ministerpräsidenten den Vorwurf machte, zu nachgiebig gegenüber den Sowjets gewesen zu sein. Kerenski erklärte sich bereit, Kaledin ungeschoren zu lassen. Außerdem soll er sich wie folgt geäußert haben: »In den Augen der Sowjetführer bin ich ein Despot und Tyrann ... Die Provisorische Regierung hängt nicht nur nicht von den Sowjets ab, sie bedauert im Gegenteil, dass diese überhaupt existieren.«

Gleichzeitig erschien eine andere Kosakenabordnung bei dem englischen Gesandten und hatte die Kühnheit, mit ihm als Vertreter des »freien Kosakenvolkes« zu verhandeln. Im Dongebiet war eine Art Kosakenrepublik gebildet worden. Das Kubangebiet proklamierte sich als unabhängiger Kosakenstaat. Die Sowjets von Rostow am Don und Jekaterinenburg waren von bewaffneten Kosaken auseinander gejagt und der Hauptsitz des Bergarbeiterverbandes in Charkow überfallen worden. In allen diesen Manifestationen zeigte die Kosakenbewegung ihren antisozialistischen und militaristischen Charakter. Ihre Führer waren Adlige und große Grundbesitzer von der Art Kaledins, Kornilows, des Generals Dutow, Karaulows und Bardishis, sie hatten die Unterstützung der mächtigen Kaufleute und Bankiers Moskaus ...

Das alte Russland begann mit großer Schnelligkeit auseinanderzufallen. In Finnland, in Polen, in der Ukraine und Weißrussland wuchsen die nationalistischen Bewegungen und wurden kühner. Die unter dem Einfluss der besitzenden Klassen stehenden lokalen Regierungen forderten Autonomie und weigerten sich, den Anordnungen Petrograds Folge zu leisten. In Helsingfors lehnte das finnische Parlament es ab, der Provisorischen Regierung Geld zu leihen, proklamierte die Selbstständigkeit Finnlands und verlangte die Zurückziehung der russischen Truppen. Die bürgerliche Rada in Kiew zog die Grenzen der Ukraine so weit, dass sie die reichsten Agrargebiete Südrusslands, östlich bis zum Ural hin, umfassten, und begann mit der Aufstellung einer eigenen Armee. Ihr Ministerpräsident Winnitschenko arbeitete auf einen Sonderfrieden mit Deutschland hin, und die Provisorische Regierung war hilflos. Sibirien und der Kaukasus forderten ihre besonderen konstituierenden Versammlungen, und in allen diesen Ländern begann ein verzweifelter Kampf zwischen den Regierungen und den Lokalen Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Die Verwirrung wurde mit jedem Tag größer. Die Soldaten desertierten zu Hunderttausenden und begannen in ungeheuren Wellen plan- und ziellos über das Land zu fluten. Die Bauern der Gouvernements Tambow und Twer, des langen Wartens auf das ihnen versprochene Land müde und durch die Gewaltmaßregeln der Regierung in Verzweiflung gebracht, brannten die Gutshäuser nieder und massakrierten die Gutsbesitzer. In Moskau, Odessa und in den Kohlebergwerken des Donezbeckens mächtige Streiks und Aussperrungen. Der Transport war lahmgelegt, die Armee hungerte, und in den großen Städten gab es kein Brot.

Die Regierung, hin und her gerissen zwischen den reaktionären und demokratischen Parteien, konnte nichts tun, und wo sie gezwungenermaßen eingriff, geschah es stets im Interesse der besitzenden Klassen. Sie bot die Kosaken auf, um die Bauern zur Räson zu bringen und die Streiks niederzuschlagen. In Taschkent unterdrückten die Behörden den Sowjet. In Petrograd hatte sich der Wirtschaftsrat, dessen Aufgabe es sein sollte, das Wirtschaftsleben des Landes wiederherzustellen, zwischen den feindlichen Kräften von Kapital und Arbeit festgefahren und wurde von Kerenski aufgelöst. Die Militärs des alten Regimes, die von den Kadetten gestürzt wurden, forderten strenge Maßnahmen, um die Disziplin in Armee und Flotte wiederherzustellen. Umsonst wiesen der Marineminister, Admiral Werderewski, und der Kriegsminister, General Werchowski, darauf hin, dass nur neue, freiwillige, auf der Zusammenarbeit mit den Soldaten- und Matrosenkomitees basierende demokratische Disziplin die Armee und die Flotte retten könnte. Ihre Vorschläge wurden nicht beachtet. Die Reaktion war offenbar darauf aus, die Volksmassen zu provozieren.

Der Kornilow – Prozess rückte näher und näher; immer unverhüllter nahm die bürgerliche Presse für den General Partei. Sie sprach von ihm als von dem »großen russischen Patrioten«. Burzews Zeitung »Obschtscheje Delo« (Die gemeinsame Sache) erhob offen den Ruf nach einer Diktatur »Kornilow – Kaledin – Kerenski«. Mit Burzew, einem kleinen, gebückt gehenden Mann mit einem Gesicht voller Runzeln und kurzsichtigen Augen hinter dicken Brillengläsern, struppigem Haar und ergrautem Bart, hatte ich eines Tages eine Unterredung in der Pressegalerie des Rates der Republik. »Hören Sie mir zu, junger Mann! Was Russland braucht ist ein starker Mann. Wir sollten unser Denken endlich von der Revolution frei machen und auf die Deutschen konzentrieren. Politische Pfuscher haben Kornilow gestürzt; aber hinter diesen Pfuschern stehen deutsche Agenten. Ah! Kornilow hätte gewinnen sollen ...«

Auf der Äußersten Rechten traten die Organe der kaum verhüllten Monarchisten, Purischkewitschs »Narodny Tribun« (Der Volkstribun), »Nowaja Rus« (Das neue Russland), »Shiwoje Slowo« (Lebendiges Wort), offen für die Ausrottung der revolutionären Demokratie ein. Am 23. Oktober fand im Golf von Riga eine Seeschlacht mit einem deutschen Geschwader statt. Unter dem Vorwand, dass Petrograd in Gefahr sei, bereitete die Regierung die Räumung Petrograds vor. Zuerst sollten die großen Munitionswerke verlegt und über das ganze Russland verteilt werden; dann wollte die Regierung selbst nach Moskau gehen. Die Bolschewiki wiesen sofort darauf hin, dass die Regierung die rote Hauptstadt nur preisgebe, um die Revolution zu schwächen. Man hatte Riga an die Deutschen verkauft; jetzt sollte Petrograd verraten werden! Die bürgerliche Presse jubelte. »In Moskau«, so erklärte das Kadettenblatt »Retsch« (Die Rede), »wird die Regierung in einer ruhigeren Atmosphäre arbeiten können, ohne fortwährend von Anarchisten gestört zu werden.« Rodsjanko, der Führer des rechten Flügels der Kadetten, erklärte in »Utro Rossii« (Russlands Morgen), dass die Einnahme Petrograds durch die Deutschen ein Segen Wäre, da diese die Sowjets zerstören und die revolutionäre Baltische Flotte erledigen würden. »Petrograd ist in Gefahr«, schrieb er. »Ich sage mir, ›überlassen wir Petrograd unserem Herrgott‹. Sie fürchten, wenn Petrograd verloren ist, dann werden auch die zentralen revolutionären Organisationen vernichtet werden. Dazu sage ich, dass ich überglücklich sein werde, wenn all diese Organisationen vernichtet sind; denn sie werden nichts als Unglück über Russland bringen ... Mit dem Fall Petrograds wird auch die Baltische Flotte vernichtet werden ... Aber das braucht uns nicht leid zu tun; die meisten Kriegsschiffe sind ohnehin völlig demoralisiert ...«

Angesichts des Protestes der Volksmassen musste die Regierung ihren Plan, Petrograd zu verlassen, jedoch aufgeben. Währenddem hing, einer von Blitzen durchzuckten Gewitterwolke gleich, drohend über Russland der Kongress der Sowjets, bekämpft nicht nur von der Regierung, sondern auch von allen »gemäßigten« Sozialisten. Die zentralen Armee- und Flottenkomitees, die Zentralkomitees einiger Gewerkschaften, die Bauernsowjets, vor allem aber das Zentralexekutivkomitee der Sowjets selbst sparten keine Mühe, um das Zustandekommen des Kongresses zu verhindern. Die Zeitungen »Iswestija« und »Golos Soldata« (Die Stimme des Soldaten), ursprünglich von dem Petrograder Sowjet gegründet, aber jetzt im Besitz des Zentralexekutivkomitees der Sowjets, griffen ihn heftig an; die gesamte sozialrevolutionäre Presse, »Delo Naroda« (Die Sache des Volkes) und »Wolja Naroda« (Volkswille, entfesselten ein wahres Trommelfeuer gegen ihn. Der Telegraf arbeitete, Delegierte wurden im Land umhergeschickt, mit Anweisungen für die Komitees der lokalen Sowjets, für die Armeekomitees, die Wahlen für den Kongress einzustellen oder zu verzögern.

Feierliche öffentliche Resolutionen gegen den Kongress wurden gefasst, Erklärungen, dass die demokratischen Elemente sich der Abhaltung des Kongresses so unmittelbar vor dem Zusammentritt der Konstituierenden Versammlung widersetzten; Vertreter der Frontsoldaten, der Semstwoverbände, der Bauern, des Verbandes der Kosakenarmeen, des Offiziersbundes, der »Ritter des heiligen Georg«, der »Todesbataillone« – alle waren sie vereinigt in einem einzigen großen Protest ... Im Rat der Russischen Republik gab es nicht eine Stimme, die sich für den Kongress einsetzte. Der ganze, von der russischen Märzrevolution geschaffene Apparat funktionierte, um die Abhaltung des Sowjetkongresses zu verhindern. Demgegenüber stand der vorläufig noch formlose Wille des Proletariats – der Arbeiter, einfachen Soldaten und armen Bauern. Viele der lokalen Sowjets waren bereits bolschewistisch; daneben bestanden die Organisationen der Industriearbeiter, die Fabrikkomitees, und die revolutionären Organisationen der Armee und Flotte. In einigen Orten hielten die Massen, an der regulären Wahl ihrer Sowjetdelegierten verhindert, Rumpfversammlungen ab, in denen sie aus ihrer Mitte heraus einen bestimmten, der nach Petrograd zu gehen hatte. In anderen jagten sie die alten, Obstruktion treibenden Komitees auseinander und bildeten neue.

Die Kruste, die sich an der Oberfläche der seit Monaten schlummernden revolutionären Glut gebildet hatte, kam in Bewegung und begann bedenklich zu krachen. Nur eine solche spontane Massenbewegung konnte den Gesamtrussischen Sowjetkongress bringen. Und die bolschewistischen Redner schleuderten Tag für Tag in allen Kasernen und Fabriken die heftigsten anklagen gegen die »Regierung des Bürgerkrieges«. Eines Sonntags fuhren wir auf einem über Ozeane von Schmutz rumpelnden ungefügen Straßenbahnwagen, an steif dastehenden Fabriken und riesigen Kirchen vorbei, zum Obuchow – Werk, einer staatlichen Munitionsfabrik jenseits des Schlüsselburg – Prospekts. Die Versammlung fand zwischen den ungeputzten Mauern eines mächtigen, im Bau unterbrochenen Hauses statt. Wohl an die Zehntausend dunkelgekleidete Männer und Frauen drängten sich um eine rotdrapierte Tribüne, saßen auf Balken oder Steinhaufen oder thronten auf hohen Gerüsten, voll grimmiger Entschlossenheit und ihren Willen mit Donnerstimme hinausschreiend. Durch den trüben, wolkenschweren Himmel brach dann und wann die Sonne und goss durch die leeren Fensteröffnungen einen rötlichen Schimmer über die zu uns aufgekehrten einfachen Gesichter. Lunatscharski, eine schmächtige, studentenhafte Erscheinung mit einem sensitiven Künstlerantlitz, setzte auseinander, warum die Sowjets unter allen Umständen die Macht übernehmen müssten. Niemand anders könnte die Revolution gegen ihre Feinden schützen, die mit Vorbedacht das Land und die Armee zugrunde richteten und einem neuen Kornilow das Feld bereiteten. Ein Soldat sprach, von der rumänischen Front, abgemagert, voll bebender Leidenschaft: »Genossen, wir hungern an der Front, wir frieren, wir sterben und wissen nicht wofür. Ich bitte die amerikanischen Genossen, es in Amerika zu sagen, dass wir Russen unsere Revolution bis zum Tode verteidigen werden. Wir werden alles daran halten, unsere Feste zu halten, bis die Massen der ganzen Welt sich erheben werden, um uns zu Hilfe zu eilen. Sagt den amerikanischen Arbeitern, dass sie aufstehen mögen zum Kampf für die soziale Revolution!«

 

Petrowski redete, hart, unerbittlich:

»Jetzt ist keine Zeit für Worte, jetzt muss gehandelt werden. Die ökonomische Situation ist schlecht, aber wir müssen uns daran gewöhnen. Sie versuchen uns auszuhungern, im Frost umkommen zu lassen. Sie wollen uns provozieren. Aber sie sollen wissen, dass sie darin zu weit gehen können – dass, wenn sie es wagen sollte, an die Organisationen des Proletariats zu rühren, wir sie vom Antlitz der Erde wegfegen werden!«

Die bolschewistische Presse wuchs plötzlich an. Neben den zwei Parteizeitungen »Rabotschi Put« und »Soldat« erschien eine neue Zeitung für die Bauern, »Derewenskaja Bednota« (Die Dorfarmut), die in eine Auflage von einer halben Million herauskam, und am 17. Oktober »Rabotschi i Soldat«. Dessen Leitartikel fasste den bolschewistischen Standpunkt wie folgt zusammen:

»Ein viertes Kriegsjahr wird die Vernichtung der Armee und des Landes bedeuten ... Petrograd ist bedroht ... Die Konterrevolution freut sich über das Unglück des Volkes ... Die zur Verzweiflung gebrachten Bauern gehen zum offenen Aufstand über; die Großgrundbesitzer und die Regierungsbehörden schicken blutige Strafexpeditionen gegen sie aus; Betriebe werden geschlossen, den Arbeiter droht der Hungertod ... Die Bourgeoisie und ihre Generale wollen eine blinde Disziplin in der Armee wiederherstellen ... Von der Bourgeoisie unterstützt, bereiten sich die Kornilowleute offen darauf vor, den Zusammentritt der Konstituierenden Versammlung zu verhindern ... Die Kerenskiregierung ist gegen das Volk. Sie wird das Land zugrunde richten ... Wir stehen auf Seiten des Volkes und bei dem Volk – bei den besitzlosen Klassen, den Arbeitern, Soldaten und Bauern. Das Volk kann nur durch die Vollendung der Revolution gerettet werden ... Und zu diesem Zweck muss die gesamte Macht in die Hände der Sowjets übergehen ... Wir treten für folgende Forderungen ein:

Alle Macht den Sowjets, in der Hauptstadt sowohl wie in der Provinz.

Sofortiger Waffenstillstand an allen Fronten. Ein ehrlicher Friede zwischen den Völkern.

Die großen Güter – ohne Entschädigung – in die Hände der Bauern.

Kontrolle der Arbeiter über die industrielle Produktion.

Eine auf ehrliche Weise gewählte Konstituierende Versammlung.

Hier noch eine interessante Stelle aus demselben Organ der Bolschewiki, die in der ganzen Welt als deutsche Agenten bezeichnet wurden:

»Der deutsche Kaiser, an dessen Händen das Blut von Millionen Gefallener klebt, will seine Armee gegen Petrograd schicken. Man muss an die deutschen Arbeiter appellieren, an die Soldaten und Bauern, die den Frieden nicht weniger wünschen als wir, dass sie aufstehen mögen gegen diesen verdammten Krieg! Das kann jedoch nur eine revolutionäre Regierung tun, die wirklich im Namen der Arbeiter, Soldaten und Bauern Russlands spricht, die über die Köpfe der Diplomaten hinweg sich direkt an die deutschen Truppen wendet, die die deutschen Schützengräben mit Proklamationen in deutscher Sprache überschwemmen würde ... Unsere Flieger würden diese Proklamationen in ganz Deutschland abwerfen ...«

Im Rat der Russischen Republik vertiefte sich der Riss mit jedem Tage mehr. »Die besitzenden Klassen«, erklärte Karelin für die linken Sozialrevolutionäre, »sind bestrebt, den revolutionären Staatsapparat auszunützen, um Russland an den Kriegswagen der Alliierten zu binden. Die revolutionären Parteien sind entschiedene Gegner dieser Politik ...« Der alte Nikolai Tschaikowski, der Vertreter der Volkssozialisten, sprach gegen die Übergabe des Landes an die Bauern und stellte sich auf die Seite der Kadetten:

»In der Armee muss sofort die straffeste Disziplin hergestellt werden ... Ich habe seit dem Beginn des Krieges nicht aufgehört zu erklären, dass ich es als ein Verbrechen betrachte, soziale und wirtschaftliche Reformen durchzuführen, solange der Krieg währt. Wir begehen jetzt dieses Verbrechen. Trotzdem bin ich kein Gegner dieser Reformen; denn ich bin Sozialist.«

Von links antworten ihm heftige Zurufe: »Wir glauben Ihnen nicht.« Rechts findet er mächtigen Beifall. Für die Kadetten erklärte Adshemow, dass es nicht notwendig sei, den Soldaten zu sagen, wofür sie kämpften, da jeder Soldat wissen müsse, dass es vor allem darauf ankomme, die Feinde Russlands aus dem Land zu jagen. Kerenski selber erschien zweimal, um einen leidenschaftlichen Appell für die nationale Einheit an die Kammer zu richten, einmal sogar am Schlusse seiner Rede in Tränen ausbrechend. Er wurde mit Eiseskälte angehört und oft durch ironische Zwischenrufe unterbrochen.

Das Smolny-Institut, der Hauptsitz des Zentralexekutivkomitees der Sowjets und des Petrograder Sowjets, lag einige Kilometer außerhalb der Stadt, am Ufer der mächtigen Newa. Ich fuhr dorthin in einer Art Omnibus, der in schneckengleichem Tempo und knarrend über das miserable und schmutzige Pflaster der kolossal belebten Straße holperte. Am Ende des Weges erhob sich in wunderbarer Grazie die rauchblaue, mit mattem Gold verzierte Kuppel des Smolny – Klosters; daneben die an eine Kaserne erinnernde Fassade des Smolny – Instituts, sechshundert Fuss lang und drei mächtige Stockwerk hoch, über dem Eingang immer noch riesengroß das in Stein gehauene kaiserliche Wappen. Unter dem alten Regime eine berühmte Klosterschule für die Töchter des russischen Adels und unter dem Patronat der Zarin selber stehend, wurde das Institut nach der Umwälzung von den revolutionären Organisationen der Arbeiter und Soldaten übernommen.

In seinem Innern befinden sich über hundert große Zimmer, weiß und schmucklos. Kleine weiße Emailleschildchen weisen den Vorübergehenden darauf hin, welcher Bestimmung einst die einzelnen Zimmer dienten. »Damenklassenzimmer Nr. 4«, lese ich, oder »Büro für das Lehrpersonal« usw. Darüber aber hängen mit ungeschickten Schriftzeichen Tafeln, die Merkmale der neuen Ordnung: »Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets«, »Zentralexekutivkomitee der Sowjets« und »Büro des Auswärtigen«, »Verband sozialistischer Soldaten«, »Zentralrat der Gesamtrussischen Gewerkschaften«, »Fabrikkomitees«, »Zentrales Armeekomitee« und das Zentralbüro und Fraktionszimmer der politischen Parteien. In den langen, gewölbten, von wenigen elektrischen Birnen erhellten Korridoren geschäftig hin und her eilende Soldaten und Arbeiter, einige tief gebeugt unter der Last riesiger Bündel Zeitungen, Proklamationen, Propagandaschriften aller Art; mit dem Aufklappen ihrer schweren Stiefel verursachten sie ein tiefes, unaufhörliches Getöse auf dem hölzernen Fussboden.

Überall waren Plakate: »Genossen! Im Interesse eurer Gesundheit, achtet auf Reinlichkeit!« In jeder Etage, auf allen Treppenabsätzen standen lange Tische, bedeckt mit Flugschriften und Literatur der verschiedenen politischen Parteien, die zum Verkauf auslagen. Der im Erdgeschoß gelegene, sehr geräumige, aber niedrige Speisesaal des einstigen Klosters diente auch jetzt seinem alten Zweck. Für zwei Rubel kaufte ich einen Bon, der mir Anrecht auf ein Mittagessen gab, und schloss mich einer wohl tausend Personen langen Reihe an, um Schritt für Schritt den großen Serviertischen näher zu kommen, wo zwanzig Männer und Frauen aus mächtigen Kesseln Kohlsuppe, Fleisch, ganze Berge Kascha (Brei) und Stücke schwarzen Brotes verteilten. Für fünf Kopeken gab es einen Zinnbecher Tee. Einem zur Hand stehenden Korb entnahm man einen fettigen Holzlöffel ... An den hölzernen Tischen drängten sich auf den Bänken hungrige Proletarier, die ihr Brot verzehrten, diskutierten und den weiten Raum mit ihren derben Späßen erfüllten. In der oberen Etage war ein weiterer Essraum für das Zentralexekutivkomitee der Sowjets reserviert, wenngleich hinging, wer wollte. Hier gab es dick mit Butter belegtes Brot und Tee in unbeschränkten Mengen. Im Südflügel befand sich in der zweiten Etage der große Sitzungssaal, der ehemalige Ballsaal des Instituts. Ein prächtiger, ganz in weiß gehaltener Raum, von weißglasierten Leuchtern mit Hunderten elektrischer Lampen erhellt und durch zwei Reihen massiver Säulen geteilt; an dem einen Ende eine Balustrade, von zwei hohen, vielverzweigten Leuchtern flankiert, dahinter ein goldener Rahmen, aus dem man das Porträt des Zaren herausgeschnitten hatte.

Hier hatten bei festliche Anlässen in fürstlicher Umgebung die Galauniformen und geistliche Gewänder geprangt. Auf der anderen Seite des Saals befand sich das Büro der Mandatsprüfungskommission für den Sowjetkongress. Hier stand ich und musterte die neuangekommenen Delegierten: bärtige Soldaten, Arbeiter in schwarzen Blusen, einige wenige langhaarige Bauern. Das den Dienst versehende Mädchen, ein Mitglied der Plechanowgruppe, lächelte verächtlich. »Wie verschieden sind diese Leute von den Delegierten des ersten Kongresses«, bemerkte sie. »Sehen Sie nur, wie roh und unwissend sie aussehen. Das sind die dunkelsten Schichten des russischen Volkes ...« Sie hatte recht. Russland war bis zum Grunde aufgewühlt, und das unterste war zuoberst gekehrt. Die Mandatsprüfungskommission, noch von dem alten Zentralexekutivkomitee der Sowjets eingesetzt, wies einen nach dem anderen die Delegierten als nicht ordnungsgemäß gewählt zurück. Aber Karachin vom Zentralkomitee der Bolschewiki lächelte nur: »Unbesorgt, wenn die Zeit herankommt, werden wir schon sehen, dass ihr eure Sitze bekommt.«

»Rabotschi i Soldat« schrieb: »Die Aufmerksamkeit der Delegierten zum Gesamtrussischen Kongress sei auf die Versuche gewisser Mitglieder des Organisationskomitees gelenkt, das Stattfinden des Kongresses zu hintertreiben, indem sie behaupten, dass er nicht stattfinden werde und dass die Delegierten gut daran tun würden, Petrograd zu verlassen ... Schenkt diesen Lügen keinen Glauben ... Große Tage nahen heran ...«

Da es mittlerweile zweifellos war, dass der Kongress bis zum 2. November nicht vollständig beisammen sein würde, vertagte man seine Eröffnung auf den 7. November. Das ganze Land war jetzt aber in Bewegung, und die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, als sie ihre Niederlage erkannten, änderten plötzlich ihre Taktik und gaben ihren Provinzialorganisationen telegrafische Anweisungen, soviel gemäßigte sozialistische Delegierte zum Kongress zu wählen, wie ihnen noch möglich wäre. Gleichzeitig berief das Exekutivkomitee der Bauernsowjets einen außerordentlichen Bauernkongress für den 13. Dezember ein, der alle eventuellen Aktionen der Arbeiter und Soldaten wieder abbiegen sollte. Die Frage war: Was werden die Bolschewiki tun? Gerüchte liefen um, dass sie eine bewaffnete Demonstration der Arbeiter und Soldaten planten.

Die bürgerliche und reaktionäre Presse sagte einen Aufstand voraus und forderte von der Regierung die Verhaftung des Petrograder Sowjets oder zum mindesten die Verhinderung des Kongresszusammentritts. Blätter wie »Nowaja Rus« gingen bis zur Aufforderung zu einem Bolschewistengemetzel. Gorkis Blatt »Nowaja Shisn« war ebenso wie die Bolschewiki der Meinung, dass die Reaktionäre die Revolution zunichte machen wollten und dass man ihnen, falls notwendig, bewaffneten Widerstand entgegensetzen müsse; alle revolutionären demokratische Parteien Müßten jedoch als eine geeinte Front auftreten. »Solange die Demokratie ihre Hauptkräfte noch nicht mobilisiert hat, solange der Widerstand gegen ihren Einfluss noch stark ist, sollte man nicht zum Angriff übergehen. Wenn aber die gegnerischen Kräfte zur Gewalt greifen, dann sollte die revolutionäre Demokratie den Kampf um die Macht aufnehmen, dann wird sie von den breitesten Schichten des Volkes unterstützt werden.« Gorki stellte fest, dass sowohl die reaktionäre als auch die Regierungspresse die Bolschewiki zur Gewalt provozierten. Indessen konnte seiner Meinung nach der Aufstand nur einem neuen Kornilow nützlich sein, und er forderte die Bolschewiki auf, die umlaufenden Gerüchte zu dementieren. Im menschwistischen »Den« (Der Tag) veröffentlichte Potressow einen sensationell aufgemachten Bericht mit einer Karte, der angeblich den geheimen bolschewistischen Kriegsplan enthüllen sollte. Wie durch Zauberei waren alle Straßenzüge mit Warnungen, Proklamationen, Aufrufen der Zentralkomitees der »gemäßigten« und konservativen Parteien und des Zentralexekutivkomitees der Sowjets bedeckt, die die Demonstration verurteilten und die Arbeiter und Soldaten dringend aufforderten, den Hetzern keine Folge zu leisten. Hier ein solcher Aufruf der Militärabteilung der Sozialrevolutionären Partei:

 

»Wieder gehen in der Stadt Gerüchte um über eine beabsichtigte bewaffnete Demonstration. Wo ist die Quelle dieser Gerüchte? Welche Organisation ermächtigt diese Agitatoren, den Aufstand zu predigen? Die Bolschewiki leugneten auf eine im Zentralexekutivkomitee an sie gerichtete Frage, dass sie irgend etwas damit zu tun hätten ... Doch diese Gerüchte bergen eine große Gefahr in sich. Es kann leicht geschehen, dass einzelne unverantwortliche Hitzköpfe, die keine rechte Vorstellung von der geistigen Verfassung der Mehrheit der Arbeiter, Soldaten und Bauern haben, die Arbeiter und Soldaten auf die Straße rufen und sie zu einer Erhebung aufhetzen ... In dieser fürchterlichen Zeit, die das revolutionäre Russland durchlebt, kann jede Erhebung leicht zum Bürgerkrieg führen und das Ergebnis die Zerstörung aller mit so viel Arbeit aufgebauten Organisationen des Proletariats sein ... Die konterrevolutionären Verschwörer wollen die Erhebung ausnutzen, um die Revolution zu zerstören, im Interesse Wilhelms die Front zu öffnen und die Konstituierende Versammlung zu verhindern ... Bleibt auf euren Posten! Geht nicht auf die Straße!«

Am 28. Oktober sprach ich in dem Korridor des Smolny Kamenew, einen kleinen Mann mit rötlichem Spitzbart und gallischer Beweglichkeit. Er war noch keineswegs sicher, ob genug Delegierte zum Kongress erscheinen würden: »Sollte der Kongress zustande kommen, dann wird er auch die überwältigende Mehrheit des Volkes repräsentieren. Und ist die Mehrheit eine bolschewistische, wie ich überzeugt bin, dass sie es sein wird, dann werden wir die Übernahme der Macht durch die Sowjets fordern, und die Provisorische Regierung wird zurücktreten müssen.« Wolodarski, ein hochgewachsener blasser Jüngling mit einer Brille und ungesunder Gesichtsfarbe, war in seinen Äußerungen bestimmter: »Liber, Dan und die anderen Kompromissler sabotieren den Kongress. Sollte es ihnen gelingen, sein Zusammentreten zu verhindern, nun – dann werden wir real genug sein, nicht von ihm abzuhängen.«

In meinen Papieren finde ich unter dem 24. Oktober folgende, den Zeitungen vom gleichen Tage entnommene Notizen: »Mogiljow (Generalstabsquartier). Konzentrierung treuer Garderegimenter, der, Wilden Division‹, der Kosaken und der Todesbataillone. Die Offiziersschüler von Pawlowsk, Zarskoje Selo und Peterhof von der Regierung nach Petrograd beordert. Ankunft der Schüler von Oranienbaum in der Stadt. Teilweise Stationierung der Panzerwagendivision der Petrograder Garnison im Winterpalast. Auf Befehl Trotzkis Auslieferung einiger Tausend Gewehre an die Delegierten der Petrograder Arbeiter durch die staatliche Waffenfabrik in Sestrorezk. Annahme einer Resolution in einer Versammlung der Stadtmiliz des unteren Litejnyviertels, die die Übergabe der gesamten Macht an die Sowjets fordert.«

Das sind nur einige Proben von den verwirrenden Ereignissen jener fiebrigen Tage, da jeder ahnte, dass sich etwas vorbereitete, aber niemand wusste, was. In einer Sitzung des Petrograder Sowjets im Smolny, in der Nacht des 30. Oktober, brandmarkte Trotzki die Behauptungen der bürgerlichen Presse, dass der Sowjet den bewaffneten Aufstand plane, als »einen Versuch der Reaktion, den Sowjetkongress zu diskreditieren und zu verhindern ... Der Petrograder Sowjet«, erklärte er, »hat keine Aktion angeordnet. Sollte dies notwendig werden, werden wir es tun, und wir werden die Unterstützung der Petrograder Garnison haben ... Sie (die Regierung) bereitet die Konterrevolution vor; wir werden darauf mit einer Offensive antworten, die erbarmungslos und entscheidend sein wird.« Es ist richtig, dass der Petrograder Sowjet keine bewaffnete Demonstration angeordnet hatte, aber das Zentralkomitee der bolschewistischen Partei diskutierte die Frage des Aufstandes.

Am 23. Oktober tagte das Zentralkomitee die ganze Nacht. Anwesend waren alle Intellektuellen der Partei, die Führer, und die Delegierten der Petrograder Arbeiter und der Garnison. Von den Intellektuellen waren nur Lenin und Trotzki für den Aufstand. Selbst die Militärfachleute lehnten ihn ab. Es wurde eine Abstimmung vorgenommen und der Aufstand verworfen. Da aber erhob sich mit wutverzerrten Zügen ein Arbeiter: »Ich spreche für das Petrograder Proletariat«, stieß er rau hervor. »Wir sind für den Aufstand, macht, was ihr wollt. Aber das eine sage ich euch, wenn ihr gestattet, dass die Sowjets auseinandergejagt werden, dann sind wir mit euch fertig.« Einige Soldaten schlossen sich dieser Erklärung an ... Eine zweite Abstimmung wurde vorgenommen und – der Aufstand beschlossen. Der rechte Flügel der Bolschewiki unter Rjasanow, Kamenew und Sinowjew fuhr trotzdem fort, gegen die bewaffnete Erhebung zu polemisieren.

Am Morgen des 31. Oktober erschien im »Rabotschi Put« der erste Teil von Lenins »Brief an die Genossen«, eine der kühnsten politischen Propagandaschriften, die die Welt je gesehen. Als Text die Einwendungen Kamenews und Rjasanows nehmend, trug Lenin hier alle Argumente zusammen, die zugunsten des Aufstandes sprachen. »Entweder«, schrieb er, »offener Verzicht auf die Losung, Alle Macht den Sowjets‹ oder Aufstand. Einen Mittelweg gibt es nicht.« Am selben Nachmittag hielt in dem Rat der Russischen Republik der Kadettenführer Miljukow eine scharfe Rede, in der er den »Nakas« Skobelews als »prodeutsch« bezeichnete und erklärte, dass die »revolutionäre Demokratie« im Begriff sei, Russland zugrunde zu richten. Er machte sich über Tereschtschenko lustig und sprach es offen aus, dass er die deutsche Diplomatie der russischen vorziehe. Während seiner ganzen Rede herrschte auf den linken Bänken wilder Tumult. Die Regierung ihrerseits konnte sich der Bedeutung des Erfolges der bolschewistischen Propaganda nicht verschließen.