Loe raamatut: «Drei Brüder»
Jörg H. Trauboth
Drei Brüder
Ein Deutschland-Thriller
Jörg H. Trauboth
Drei Brüder
Ein Deutschland-Thriller
Cover unter Verwendung des Fotos
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Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Alle Rechte vorbehalten!
1. Auflage 2015
2. aktualisierte Auflage (2018)
Impressum
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Tel.: (0 22 46) 94 92 61
Fax: (0 22 46) 94 92 24
eISBN: 978-3-939829-77-5
eISBN: 978-3-96136-030-7 (engl.)
Print ISBN: 978-3-939829-64-5
PoD: 978-3-96136-031-4 (engl.)
Hörbuch: GESAFA-Verlag ISBN: 978-3-943273-05-2
published by
FÜR MARTINA
ICH WILL!
Die Handlung dieses Deutschland-Thrillers spielt vor dem Hintergrund der aktuellen Terror- und Gefährdungslage in Europa und in der Welt. Gleichwohl sind alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen frei erfunden, sofern sie nicht als reale Personen oder Institutionen genannt werden.
Eine Ähnlichkeit der erdachten Handlungen und Personen mit realen Bezügen wäre zufällig und nicht beabsichtigt.
Die Personen sind in einem Personenverzeichnis gelistet, Fachausdrücke in einem Glossar.
Man bereut nie, was man getan hat,
sondern immer, was man nicht getan hat.
Marc Aurel,
Römischer Kaiser (161 bis 180)
Inhaltsverzeichnis
DREI ELITESOLDATEN
1. Afghanistan
2. Berlin
Bundeskanzleramt
3. Hammelburg
4. Nordirak / Berlin
5. Berlin
DREI CONSULTANTS
6. Rheinland
Flugplatz Bonn Hangelar
Köln / Remagen
Köln
Hangelar
Köln
Flugplatz Koblenz-Winningen
7. Berlin
8. Palma de Mallorca / Rheinland
DSCHIHAD
9. Mossul / Eifel / Köln
10. Rheinland-Pfalz, Büchel – Taktisches Luftwaffengeschwader 33
11. Köln
12. Westliches Mittelmeer / Berlin / Algerien
13. Berlin – Auswärtiges Amt
14. Nordafrikanisches Festland
OPERATION RESCUE
15. Köln
16. Algerische Wüste
17. Köln
18. Algerische Wüste
19. Rakka
20. Köln
21. Algerische Wüste
22. Rheinland / Mittelmeer
23. Algerische Wüste
24. Mallorca / Köln
25. Köln
26. Mallorca
27. Algerische Wüste
28. Berlin
29. Algerische Wüste
30. Spanische Küste / Algerien, Felsenstrand
31. Rakka
32. Köln
DER FLUG DER KRANICHE
33. Remagen
34. Calw
35. Rheinland / Berlin
36. Epilog
PERSONENVERZEICHNIS
GLOSSAR
ANMERKUNGEN
DANKSAGUNGEN
LITERATURVERZEICHNIS/-EMPFEHLUNGEN
ABBILDUNGEN
Abbildung 1 – Operation Eagle
Abbildung 2 – Operation Rescue
DREI ELITESOLDATEN
1.
Afghanistan
Seit fünf Stunden schon zieht die Gruppe von sechs Männern durch die dunkle, karge Landschaft des Hindukuschs. Begleitet nur von dem entfernten Heulen eines einsamen Wolfes und einem kalten Wind, den die Männer aber nicht zu spüren scheinen.
Plötzlich bleibt einer stehen. Marc Anderson, ein Hauptmann aus dem deutschen KSK, dem Kommando Spezialkräfte, hebt die Hand zum Hals. Er flüstert leise, aber bestimmt in sein Kehlkopfmikrofon.
»George, da liegt sie. Das vordere Flugzeugteil in elf Uhr, das Heck in zwei Uhr.«
George, der kleine, drahtige Truppführer Navy Seal One aus Ohio, klappt das Nachtsichtglas vom Helm herunter.
Aus welchen Gründen auch immer war der Kampfjet nicht explodiert. Lediglich die Trümmer schwelten noch etwas.
»Roger, Jungs, ich informiere Bagram Air Base.«
»Charlie Force from Echo Force – Over.«
»Echo Team – Go ahead – Over.«
»Wir haben den Jet – Suchen die Crew – Over.«
»Roger Echo Team – Wir warten auf euren Abruf – Over.« So ungewöhnlich es war, die Navy Seals hatten darum gebeten, den deutschen Elitesoldaten Marc Anderson dabei zu haben. Er ist einer der wenigen, die das Gebiet im tiefen, hinteren Afghanistan aus früheren Einsätzen wie kein anderer kennt. Der groß gewachsene, schlanke Soldat aus Calw hatte schon jetzt, mit seinen 27 Jahren, einen geradezu legendären Ruf bei den amerikanischen und britischen Spezialeinheiten. Zusammen mit den Navy Seals hatte er einige Amerikaner hinter den Linien befreit und zurückgeholt, und sich als Leader und Teamplayer ohne jegliche Allüren einen überragenden Ruf erworben.
Aber Anderson wollte den Job keinesfalls allein erledigen: »Nur, wenn ich meine Kommandobrüder mitnehmen kann«, hatte er in der US Air Base Bagram gesagt, »nur mit Thomas und Tim!«
»Okay, Marc, akzeptiert!«
Die Seals wissen genau, was »Band of Brothers« bedeutet. Elitesoldaten in allen Spezialstreitkräften sind nicht einfach Kameraden, sie sind Brüder. Nun, auf der gemeinsamen Suche nach einem verschollenen US-Kampfjet und dessen Besatzung haben die Seals drei deutsche Brüder. Nationalitäten spielen keine Rolle, nur Professionalität und bedingungsloses Vertrauen. Marc sagte auch zu, weil er George in gemeinsamen Einsätzen schätzen lernte.
Die Echo Force, bestehend aus den US Seals One, Two, Three und den deutschen KSK-Soldaten Marc, Thomas und Tim, war in der Nacht mit Gleitfallschirmen gelandet. Sie hatten sich einen Landeplatz 10.400 Meter von der letzten bekannten Position der F-15E Strike ausgesucht, in der Hoffnung, nicht schon bei Ankunft von den Taliban empfangen zu werden. Es gab keine genauen Koordinaten vom Absturzort. Schlimmer noch, sie hatten bisher kein Ortungssignal der Crew empfangen können. Der Pilot hatte im Tiefflug »No engine – Mayday – Mayday – Bailing out!« gemeldet. Eine kurze Ausschussmeldung, nicht mehr. Offensichtlich war alles sehr schnell gegangen. Vermutlich musste die Besatzung sofort raus, keine Zeit mehr zum Reden. Nach der gelungenen Landung mussten sie über fünf Stunden das auf dreitausend Meter Höhe liegende, in Frage kommende Suchfeld von zwanzig mal zwanzig Kilometern systematisch erkunden.
Marc war in dem unübersichtlichen und gefährlichen Terrain eine Art Pfadfinder. Die Amerikaner vertrauten ihm vollkommen, und zu Recht, wie sich wieder einmal gezeigt hatte. Er hatte die abgestürzte F-15 in der kürzest möglichen Zeit gefunden, bei Nacht und unentdeckt im feindlichen Gebiet. Sie hatten sich voran gearbeitet, als hätten sie das immer zusammen getan: Marc voraus, Terrain prüfen, Zeichen geben, die anderen fünf folgen, Etappe für Etappe, geduckt, sichernd, leise. In der Stille der Nacht wäre jedes zu laute Wort, jeder Ausrutscher auf dem Geröll ein Geschenk für den Taliban.
Während George nun die Koordinaten an die wartende amerikanische Eingreiftruppe durchgibt, sucht Marc mit dem Fernglas weiter die Umgebung des Flugzeuges ab. Die F-15 wurde nicht abgeschossen, sondern stürzte wegen technischer Probleme ab. Das schien klar. Aber der Aufschlag musste bis weit in die Berge des Hindukuschs hinein zu hören gewesen sein. Gut möglich, dass die Taliban die Crew bereits gefangen genommen hatte und jetzt die Navy Seals erwarteten. So war das meistens.
»Thomas, Bericht!«
»Links sauber!«
»Tim?«
»Rechts sauber!«
Langsam, nach allen Seiten sichernd, bewegt sich das Aufklärungsteam in Richtung der Absturzstelle.
»Ich übernehme, Marc!«
»Okay, George, du hast übernommen!«
George führt nun den Trupp bis auf dreihundert Meter an das Wrack heran. Die Flugzeugnase samt Cockpit steckt wie ein monströser Pfeil im Boden. Krumm, aber erstaunlich intakt. Ausgerechnet dort, wo etwas Erde ist, denkt er.
»Kannst du jemanden im Cockpit erkennen?«, fragt Marc.
»Negativ, durch das Glas nicht einsehbar, obwohl das Kabinendach fehlt.«
»Thomas und Tim – beide zum Wrack und berichten, alle anderen warten hier«, flüstert George ins Kehlkopfmikrofon.
Die beiden Deutschen setzen sich in Bewegung. Wie Pat und Patachon, denkt Marc. Der große, kräftige, blonde Thomas, ein wandelnder Kleiderschrank, neben ihm der kleine, zähe, durchtrainierte Tim mit seinem geliebten, schwarzen Zauselbart, wie die Afghanen.
Langsam nähern sie sich von beiden Seiten dem vorderen Teil des Wracks. Gespannt verfolgt die Gruppe die Bewegungen der beiden Deutschen. Es ist absolut ruhig, bis auf diesen einen Wolf. Den kalten Wind, der an diesem Ort wohl immer bläst, spüren sie auch jetzt nicht, während sie am Boden liegen und beobachten. Die Nacht ist nicht einfach nur dunkel, sie ist schwarz. Pechschwarz. Kein Stern, kein Licht am Boden. Karge Felsen, etwas Gestrüpp, keine Bäume mehr in dieser Höhe. Sie sehen nur, was sie mit ihren Nachtsichtgeräten anvisieren. Das wenige Licht wird elektronisch so verstärkt, dass ein grünes Bild von der Umgebung entsteht. Sie haben sich an dieses künstliche Bild gewöhnt.
»Option eins:«, sagt George, »sie hängen in den Sitzen, dann wird’s eine Drecksarbeit. Option zwei: einer hängt drinnen, dann suchen wir den anderen. Option drei: beide haben es geschafft.«
»Frage ist nur, warum sie vollkommen stumm sind«, flüstert Marc hinüber.
George flüstert zurück. »Spricht für Option eins.«
Thomas und Tim haben die Flugzeugnase erreicht.
»Thomas an Seal One, keiner im Cockpit, Schleudersitze fehlen, Crew hat sich raus geschossen!«
»Verstanden, gute Nachricht, seht ihr Dokumente?«
Sie leuchten rein.
Aus der Ferne sehen die drei Navy Seals und Marc das Licht der beiden KSK-Soldaten in ihren Gläsern wie grelle Blitze.
»Karten und ein Kniebrett!«, meldet Tim.
»Okay, rausnehmen. Thomas, du bereitest eine Sprengladung vor!«
Hauptfeldwebel Thomas Heinrich, ein 1,85 m großes Muskelpaket und Sprengstoffspezialist, legt seinen 40 Kilogramm schweren Rucksack ab, mit dem er sonst verwachsen zu sein scheint. Die Kameraden kennen Thomas eigentlich nur mit Gepäck oder unter Hanteln. Und immer mit einem Kampfmesser unter dem Kopfkissen.
Während er den Sprengstoffsatz legt, sichert sein kleiner Freund Tim die unmittelbare Umgebung des Jets. Die beiden reden kein Wort miteinander. Müssen sie auch nicht. Sie kennen sich besser als jedes Ehepaar. Auch deswegen hat George sie zusammen an das Wrack geschickt.
In weniger als vier Minuten hat Thomas das Cockpit für eine Sprengung mit Fernzündung vorbereitet.
»Erledigt, George!«
»Okay, Männer, langsam zurück!«
Kurze Zeit später ist der Trupp wieder komplett. Sechs Männer, zwei Nationen, ein Team.
Sie liegen zwischen Felsbrocken und suchen durch die aufgesetzten Nachtsichtröhren nach weiteren Anhaltspunkten. Felsen, Bergrücken, Spalten. Wo könnten die Fallschirme sein, wo die Schleudersitze? Wenigstens die beiden Sitze müssten doch erkennbar sein, wenn sie hier irgendwo liegen. George winkt Marc zu sich.
»Was schlägst du vor?«
»Die F-15 flog laut Radar mit östlichem Kurs. Also müssen wir die Jungs Richtung Westen suchen. Der Waffensystem-Offizier schießt sich zuerst raus, also sollten wir ihn westlich des Wracks finden, den Piloten aber hier, in der Nähe des Wracks.«
George nickt bestätigend. Der hinten Sitzende betätigt den Schleudersitz immer zuerst, sonst liefe er Gefahr, von der Sitzrakete des Vordermanns getroffen zu werden.
Marc zeigt auf die digitale Karte im Maßstab 1:50.000. Berge, Flüsse, sonst nichts. Der raue, kalte Hindukusch hat für die Jungs aus dem Westen ein fremdes, karges Gesicht.
»Hier, ich schlage diesen Weg vor.«
»Okay, Pfadfinder, du übernimmst!«
»Habe übernommen.«
Es sind diese standardisierten Prozeduren, die Voraussetzung für das Funktionieren im Team sind. Einer gibt vor, die anderen bestätigen. Das ist im Cockpit so und ist nicht anders in der Echo Force, die Marc jetzt anführt.
Marc spricht leise zu der Gruppe.
»Seals One, Two, Three, ihr nehmt die linke Seite. Thomas, Tim und ich die rechte. Ich bin in der Mitte. Abstand zwischen euch maximal dreißig Meter. Jeder hat Kontakt zu seinem Nachbarn.«
Sie teilen sich auf.
»Position eingenommen«, bestätigt einer nach dem anderen. Sie stehen jetzt auf einer Linie von knapp einhundertfünfzig Metern. Jeder ist für sich allein. Aber sie können den Trooper an ihrer Seite sehen, den Bruder für den Notfall.
Marc schaut auf den Kompass, zweihundertsiebzig Grad. Sie setzen sich in Bewegung.
Nach dreißig Minuten erreichen sie einen langen, schmalen Höhenrücken.
»Runter«, gibt Marc leise durch. Sie pressen sich flach an den Boden. Langsam schiebt sich Marc an einen nackten Felsen. Er hebt den behelmten Kopf gerade so weit, dass er einen Überblick bekommt. Vor ihm liegt eine Landschaft mit riesigen, runden Felsbrocken und steil abfallenden, gigantischen Felswänden, unterbrochen von tiefen Spalten, die im fahlen Nachtlicht nur zu erahnen sind. Darüber das im Nachtsichtgerät leuchtende Weiß, der Schnee auf den Sechstausendern.
Marc sucht angestrengt die Gegend ab. Nichts. Kein Schleudersitz, kein Fallschirm. Nur dieses Felsenmeer und eine karge Vegetation. Eine erbärmliche Welt in der grünen, künstlichen Realität der Nachtsichtgeräte.
»Wir können nicht den geraden Weg nehmen, Gentlemen. In zweihundert Metern an der Spalte ist Feierabend.«
Die Gruppe bewegt sich, rundum sichernd, weiter nach Westen.
George bleibt plötzlich stehen.
»Hörst du das, Marc?«
Aus den Funkgeräten von George und Marc kommt ein leises, auf- und abschwellendes Heulen.
»Das Notsignal, George! Gentlemen, wir haben Kontakt!«
Der Trupp weiß, dass dieses Signal von den Piloten nach dem Ausschuss aktiviert und nur wenige Minuten pro Stunde gesendet wird.
»Es ist fünf Minuten nach der vollen Stunde, passt, ist gemäß Absprache! Das ist unser Mann, George!«
»Wie ist die Peilung, Marc?«
»Elf Uhr. Die Quelle ist verdammt leise. Er muss Lichtjahre weg sein.«
Bei den Männern der Echo Force steigt der Puls. Kontakt zu einem der Piloten! Doch sie halten die Suchformation bei und arbeiten sich weiter nach vorn. Noch haben sie nicht die Ortungsposition. Auf einmal geht es nicht mehr weiter. Wie ein unheimliches Maul tut sich eine mindestens acht Meter breite, dunkle Spalte vor ihnen auf.
Von einer Sekunde auf die andere wird der Heulton schrill. Erschrocken dreht George die Lautstärke herunter.
»Er muss hier sein, ganz in der Nähe!«
»Tim an Marc, ich sehe einen Fallschirm, in der Spalte, zwanzig Meter unten!«
»Alle Mann sammeln – zu Tim«, flüstert Marc ins Mikro.
»George, du übernimmst!«
»Habe übernommen!«
Sie robben sich zu ihm, dicht an die Spalte, und leuchten hinunter. Unten sehen sie etwas, was da nicht hingehört. Die Reste eines Fallschirms, er hat sich an zwei Felsvorsprüngen aufgehängt. Der Laser-Entfernungsmesser zeigt dreiundzwanzig Meter.
Und dann ist da noch etwas. George stockt der Atem, als er es im grünlichen Licht erkennt. Es ist nicht, dass jemand wie leblos an den Fallschirmfetzen hängt, sondern die endlose Tiefe darunter. George weiß, dass es eine Herausforderung sein wird, den Unglückskerl da herauszuholen, ohne dass der ganz abstürzt.
Aber was ist mit ihm?
Er richtet den Strahl der Lampe auf die Gestalt.
»Bist du okay, da unten?«
»Seid ihr Amerikaner?«, kommt es schwach aus der Tiefe.
George strahlt. Der Mann lebt!
»Ja, Darling, wir kommen direkt vom Himmel und holen dich jetzt raus!«
»Wird auch verdammt noch mal Zeit. Ich friere mir hier den Arsch ab!«
Er scheint in Ordnung zu sein, denkt George und ruft in die Tiefe: »Musstest du ausgerechnet diese Spalte nehmen?«
»Ich liebe Spalten, aber diese ist selbst für mich eine Nummer zu groß.«
George schaut stolz zu Marc hinüber.
»Da unten hängt ein cooler Typ, redet wie ein richtiger Texaner. Los, wir holen ihn raus!«
George blickt auf sein Team. Er braucht besser zwei Trooper da unten. Einen, der sofort sichert und den weiteren Absturz verhindert, und den anderen für das Bergen. Navy Seal One weiß, dass Tim und Thomas die meiste Erfahrung in derartigen Abseilsituationen haben, also müssen die deutschen Freunde wieder ran.
»Tim und Thomas, seilt euch ab!«
Kurze Zeit später lassen sich die Unzertrennlichen runter ins Dunkel der Spalte. Die Navy Seals sichern von oben. Marc und George leuchten tief in den dunklen Schlund hinein, um den beiden möglichst viel zusätzliche Orientierung zu geben. Doch das Licht verliert sich schnell. Sie müssen aufpassen, dass sie den Fallschirm und die Gurte nicht berühren. Trotzdem dauert der Abstieg keine sechzig Sekunden.
»Wir sind bei ihm!«, meldet Tim.
Der Texaner hängt frei. Völlig frei. Nichts ist da, wo er sich hätte abstützen können. Eine falsche Bewegung, und der Rest des Fallschirms würde mit ihm in den Abgrund rauschen.
Behutsam und Schlimmes ahnend hatte er zu seiner Taschenlampe gegriffen. Augenblicklich heftiger Schmerz oben rechts.
Was war da los? Er fasste mit der rechten Hand an die Schulter.
Entsetzlicher Schmerz.
Angst.
Nur keine falsche Bewegung!
Es dauerte, dann hatte er die Lampe endlich. Was er unter sich sah, schockte ihn.
Denn er sah – nichts.
Der Lichtstrahl konnte die Tiefe nicht annähernd erfassen. Unter ihm verbarg sich der Eingang ins Nirwana. 50 Meter, 1000 Meter? Er würde ein paar Mal an die Wände knallen und dann … Oh, my God …
Er leuchtete nach oben. Der Schirm hing einigermaßen gut eingehängt zwischen zwei Felskeilen.
Erst allmählich fasste er Vertrauen in die Verankerung über ihm. Er sprach mit seinem Schirm, ermahnte ihn in liebevollen Worten durchzuhalten. Mehrmals strich etwas an seinem Kopf vorbei.
Fledermäuse?
Was immer, keine unnötigen Bewegungen machen!
Diese verdammten Schmerzen. Diese Kälte.
Er hatte das Gefühl, sein Oberkörper würde unter dem Zug der Gurte absterben. Würden die Retter den Notcode überhaupt hören?
Als er wie durch ein kleines Fenster zum Himmel einige Sterne sah, fasste er Hoffnung. Die Rettung hinter den feindlichen Linien hatten sie mehrmals geübt. Er wusste, dass das CSAR-Team auf Weg sein musste.
Jetzt waren sie da! Thank God! Sie hatten ihn in dieser verdammten Spalte geortet.
»Nice to meet you!«, sagt Tim und greift nach dem Gurt des Texaners, um ihn bei sich einzuklinken. Doch der starrt nur auf Tim, dem ein verfilzter, schwarzer Zauselbart unter dem Kinnriemen des Helmes hervorquillt.
»Du bist kein Amerikaner, du bist ein Taliban!«
Tim lacht.
»Nein, ich bin Tim, dein Freund von der deutschen Bergwacht!«
Der Amerikaner guckt ungläubig in Tims Gesicht.
Thomas schaltet sich ein: »Und ich bin Thomas, alter Junge! Kannst heute ausnahmsweise Tom zu mir sagen. Du hast dir ja ein nettes Appartement ausgesucht!«
»Ich mache dich jetzt vom Fallschirm los«, sagt der vermeintliche Taliban, »und dann klinke ich dich an den Fahrstuhl nach oben ein. Halte dich bei mir fest! Bist du bereit?«
Der Amerikaner nickt.
Ein Ruck nach unten, ein kurzer Schrei, aber so laut, dass spätestens jetzt der Hindukusch aufgewacht ist.
»Verdammt, meine rechte Schulter ist im Eimer, Vorsicht!«
Mit schmerzverzerrtem Gesicht hängt der schwergewichtige Texaner am kleinen Tim.
»Thomas an George, Prellung oder Bruch der rechten Schulter. Kein Blut!«
Tim packt ihn um die Hüfte und stemmt sich mit den Füßen und dem Rücken von den Wänden ab.
»Auf geht’s, Cowboy, es geht jetzt hoch zu Mom!«
Wenig später sind die Drei oben. Während die Echo Force nach hinten sichert, empfangen George und Marc den Geretteten.
»Ich bin George, Navy Seals. Willkommen bei Freunden. Bist du der Pilot oder der Weapon Systems Operator?«
»Les Miller, WSO. Habt ihr meinen Piloten Buddy?«
»Negativ. Wie viel Zeit lag zwischen euren beiden Schleudersitzausschüssen?«
»Höchstens zwei Sekunden!«
George überlegt. Am Wrack war Buddy nicht, auf gerader Linie zu Les ebenfalls nicht.
»Dann muss dein Buddy hier in der Nähe sein! Wir müssen uns noch einmal umsehen.«
»Charlie Force from Echo Force. Wir haben Les.«
»Roger Echo Force – Sind abrufbereit in der Warteposition.«
»Kannst du laufen, Les?«
»Wenn dir sieben Stunden der Sack eingequetscht war, was glaubst du, wie schnell du laufen kannst?« Und mit Blick auf Tim: »Passt auf euren Taliban auf, traut dem nicht!«
Dann zieht er ein verklumptes Etwas aus der Tasche und gibt es seinem neuen Freund von der deutschen Bergwacht in die Hand.
»Was ist das?«
»Schokolade, Taliban!«
Tim lacht.
»Wie geht’s deiner Schulter, Les? Brauchst du eine Spritze?«, fragt er ihn.
»Hängt davon ab, was ihr jetzt mit mir vorhabt, am Boden robben kann ich nicht.«
Zu Buddy McAllen ist es nicht weit. Fast stolpern sie über den Schleudersitz des Piloten. Der Fallschirm bläht sich leicht im Wind auf, zieht am Körper des langen, schlanken Amerikaners und fällt dann wieder zusammen. Buddy zittert. Seine rechte Kopfhälfte ist unter den blonden, kurz geschnittenen Haaren blutverschmiert. Durch die olivfarbene Fliegerkombi sieht George unterhalb der rechten Hüfte einen großen dunklen Fleck, darunter eine breite Lache aus getrocknetem Blut am Boden.
»Sieht böse aus«, signalisiert George zu Marc, »er muss im Dunkeln voll an die Felskante geknallt sein.«
»Buddy, kannst du mich hören?« George rüttelt ihn. Thomas nimmt eine Flasche Wasser aus dem Rucksack und gießt sie ihm vorsichtig über den Nacken. Der Amerikaner gibt keinen Laut von sich. Marc klatscht leicht auf Buddys Wangen, spricht ihn an.
»Buddy, wir sind deine Freunde, kannst du mich hören, du bist fast zu Hause. Ich gucke mir jetzt deine Hüfte an!«
»Charlie Force from Echo Team. Wir haben Buddy – Brauchen einen Medic – Macht euch auf den Weg!«
George liest die Koordinaten von seinem mobilen GPS ab und lässt sie sich bestätigen.
»Unser Glückstag, Jungs, wir haben beide Männer, wir haben sichere Funkverbindung und die Charlie Force ist in fünfzehn Minuten da.«
Er schaut auf den schwer verletzten Buddy, dann rundherum und ergänzt: »Aber wir haben eine ganz schlechte Lage hier.«
Der Trupp ist von vorne bestens einsehbar. Keine natürlichen Hindernisse. Nach hinten ein Hügel mit Sicht von oben auf die Gruppe. Buddy sitzt wie auf einem Präsentierteller an einen Stein gelehnt. Ein Wunder, dass er bisher unentdeckt blieb.
Das Kommando liegt flach am Boden und sichert, während Thomas Buddy versorgt. Er begutachtet die tiefe Wunde an Buddys Oberschenkel, legt ihm einen Druckverband an und bedeckt ihn mit einer wärmenden Folie. Buddy hat viel Blut verloren, er droht zu kollabieren. Thomas ist Medic, aber Buddy braucht mehr, als Thomas im Gepäck dabei hat.
»Sein Kreislauf ist völlig im Keller, George.«
»Buddy, nicht einschlafen. Wie ist der Name deiner Frau?«, fragt George.
Buddys Augen öffnen sich langsam. Zum ersten Mal.
»… Linda … girlfriend …«
»Wo wohnt Linda, Buddy?«
»… New Jersey …«
George leuchtet über sein Gesicht. Buddy ist weiß, stöhnt und atmet schwer.
»… sag‘ ihr, dass ich sie liebe …«, flüstert er.
»Das wirst du ihr in Bagram gefälligst selber sagen, Buddy, hörst du! Was hältst du davon, Buddy? Buddy, sprich!«
Buddy schaut George aus leeren Augen an. Seine Lippen formen etwas. George legt das Ohr an seinen Mund.
»Les … is Les okay?«
George winkt den Backseater Les heran.
»Halt ihn wach, Les, mach‘ ihm Mut!«
Der dicke Les beugt sich über seinen Piloten.
»Buddy, alter Junge, nicht aufgeben, Linda braucht dich. Ich brauche dich in unserer fucking F-15. Du willst mich doch wohl in dieser alten Krähe nicht im Stich lassen? Wie willst du deinen Hamburger in Bagram, Buddy? Was hältst du von einem Texas-Burger mit Käse, Paprika, schönen Beilagen aus Mexico, mit Senf oder lieber mit Thomy Ketchup?«
Buddy hat die Augen wieder etwas geöffnet und reagiert mit einem leisen Lächeln. Schließlich hat Les, mit dem er hier seit sechs Monaten fliegt, gerade sein eigenes Lieblingsgericht beschrieben.
Dann fallen seine Augen wieder zu.
Thomas und Marc nicken sich zu. Zustand kritisch. Buddy muss in den nächsten dreißig Minuten an einen Tropf, sonst war’s das.
Tims grüne Gläser wandern über den Horizont von rechts nach links, links nach rechts.
»Wir liegen hier nicht gut, gar nicht gut …«
»Wir können nicht verlegen«, flüstert Marc, »die Charlie Force erwartet uns hier an diesen Koordinaten«, während er selbst die Gegend absucht, die in der Infrarotrestlichtverstärkung wirkt, wie die hässliche Landschaft eines anderen Sterns. Marc interessiert nicht das normale Grün. Er sucht das gleißende Grün, das Weiße von Kleidungsstücken und das Schwarze im Nachtsichtgerät. Menschen.
»Oh Mann, wir liegen hier überhaupt nicht gut, gar nicht gut, wie auf dem Präsentierteller«, wiederholt Tim.
Marc zuckt zusammen.
»Taliban in zehn Uhr!«
Im Fernglas wachsen die Umrisse mehrerer Männer heran. Fünf, sechs? Sie scheinen zu suchen, kommen langsam näher. Durch die diffuse Morgendämmerung erste Stimmen.
»Charlie Force – Tangos in area«, gibt George leise an die anfliegende Force durch.
»Roger – Five minutes to go – bleibt wo ihr seid!«
Die Echo Force liegt so flach am Boden wie möglich, nur wenig geschützt von kleinen Felsbrocken. Thomas zieht Buddy runter, der stöhnt laut. Jeden Augenblick kann es losgehen. Die Amerikaner mit individuell gestalteten Schnellfeuergewehren aus der geheimen Waffenkammer der Seals, die Deutschen mit G 36KA2. Feindkontakt ist tausendmal geübt. Und doch rast das Blut durch die Adern, der Puls geht hoch, das Adrenalin rauscht.
George sieht einen Afghanen den Arm hochreißen. Ein Zeichen? Jetzt lautes Rufen. Weitere Afghanen!
George überlegt kurz, wann der richtige Zeitpunkt ist.
»Feuer nur auf mein Kommando!«
Er mag den Kampf auf lange Entfernungen nicht. Die Männer auch nicht, nicken ihrem Leader zu.
»Zwei Tangos in drei, hinter dem Felsen, dreißig Meter«, gibt Seal Two durch.
»Okay, habe ich.«
»Vier Tangos in zehn …«, kommt von Seal Three.
Auf einmal kracht das Geschoss einer Panzerfaust ein, heftig und brutal. Sie verfehlt das Echo Team nur um wenige Meter.
George checkt die Lage. Das war knapp. Verdammt knapp! Im nächsten Moment springen die Taliban aus ihren Deckungen heraus und stürmen heran.
»Feuer frei!«
Gezielt nehmen sich die Elitesoldaten jeden Einzelnen vor. Treffer, Patsch!
Dunkle schwarze Flecken zwanzig Meter vor Marc im Nachtsichtglas.
Blut. Blut wird schwarz.
Zielen, patsch!
Tango drei Uhr! Absprache mit Handzeichen und Kopfbewegung.
Präzisionsschüsse.
Nur kurze Salven. Die Hülsen rasseln wie ein Rinnsal nach rechts raus.
Ziele von vorn, von der Seite, stehend, gebückt, im Sprung. Wie im Trainingsraum. Aber hier mit kurzen Schreien.
Das Team arbeitet präzise wie ein Uhrwerk.
Die Distanz zu den Angreifern wird kürzer. Es sind zu viele, viel zu viele …
»Gentlemen, sie wollen, dass wir uns leerschießen«, gibt Marc durch. Doch einen Marc wird man nicht leerschießen. Er zählt mit Tim und Thomas in Calw, am Heimatstandort der Spezialkräfte, zu den besten Scharfschützen. Und er vermeidet es, die Patronen aus dem Stangenmagazin im Dauerfeuer zu vergeuden. Selbst, wenn sie mit dreißig Mann auf ihn zustürmen. Danach wäre sein G 36 heiß und damit ungenau. Marc mag keine Ungenauigkeiten.
Einer der Taliban kniet seitlich an einem Felsen. Er sucht sein Ziel. Marc sieht durch den Nachtsichtaufsatz 80 nur den Sprengkopf der Panzerfaust. Eine hässliche, spitze, grüne Röhre. Entfernung hundert Meter.
Kurzer Feuerstoß aus dem Stangenmagazin. Direkt in den Kopf. Der Afghane wirbelt durch die Luft. Im grünen Glas schwarze Flecken. Kein Kopf mehr.
George nickt rüber. Er weiß, Menschen zu töten ist für die Germans ein verdammtes Rechtsproblem. Verdächtige totschießen gibt’s bei denen nicht. Das hier ist aber Kampf ums Überleben! Rules of Engagement, die genehmigten Einsatzregeln, erfüllt … und man ist unter sich …
Buddy stöhnt, versucht sich aufzurichten. Thomas drückt ihn runter.
»Er braucht dringend eine Infusion, sonst war’s das, George!«
»Sag ihm, in fünf Minuten ist er auf dem Weg nach Hause, zu Linda.«
Über ihnen pfeifen die Geschosse vorbei.
»Hast du gehört Buddy, wir sind gleich unterwegs, halte durch. Linda wartet auf dich.«
George und seine beiden Seals feuern nach vorn, die Deutschen nach hinten den Hügel hinauf.
Sie sind eingekreist. Jetzt wird es verdammt eng!
George spürt, wie erste Angst in ihm hochkriecht, dass sein Trupp es auf diesem verdammten Präsentierteller hier nicht schafft. Er hat keine Lösung. Die Hilfe muss sofort kommen.
»Charlie Force – Echo Team unter schwerem Beschuss!
»Roger Echo Team – wir sind …«
Der Spruch geht im Krach unter. Hubschrauberlärm! Der schönste Lärm, den Elitesoldaten sich in aussichtsloser Lage wünschen. Wie von Geisterhand stehen plötzlich zwei aus dem Tal kommende AH-64 Apache-Kampfhubschrauber vor ihnen in der Luft. Man hört sie mehr, als dass man sie sieht. Aus den Raketenbehältern rechts und links zischen Luft-Bodenraketen in die kleinen Gruppen der Taliban, gefolgt von Garben aus der dreißig Millimeter Bordkanone. George‘s aufgekommene Angst ist verflogen. Seine Feuer speienden Drachen sind da!