Loe raamatut: «Jakobs Weg», lehekülg 5

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6.
ZÜRICH

– Aufbruch –

Iris sah ihn unten im Bootshaus sitzen. Sie ging zu ihm und warf ihm die Zeitung auf den Tisch. Er blickte seine Frau erstaunt an. Ihre Haltung war die personifizierte Verachtung. An diesem Wochenende war sein Porträt in der Zürcher Zeitung erschienen. Sie hatte es nur überflogen: Herbert von Bellheim, der Mann der Woche zum 65. Geburtstag. Vorstand der Helvetia Re-Versicherung, Vorstand im Kirchenrat und nach diversen Missbrauchsfällen in der Schweiz Verwaltungsrat im Überwachungsgremium der Schweizer Internate. Jemand, der in der Tafel mithalf und – es hieß – einer der wenigen Deutschen, der von den Schweizer Nachbarn akzeptiert wurde. Das Foto zeigte das sympathische Gesicht eines graumelierten Herrn vor dessen Bootshaus am Züricher See an seinem Landsitz in Uerikon. Das Profil eines Mannes, der es in jeder Hinsicht geschafft hatte und zudem im Konzern insbesondere wegen seines menschenorientierten Führungsstiles äußerst beliebt war. Alles in allem ein hochgeschätzter Manager in der Schweiz.

Der Bericht widerte sie geradezu an, denn das andere Bild kannte nur sie. Ihr Mann brauchte schon seit Beginn ihrer inzwischen fünfundzwanzigjährigen Ehe kleine Jungs. Sie wusste nicht, wie und wo er sie sich besorgte, aber seine abendlichen Aktivitäten im Internet, die er geradezu dilettantisch zu rechtfertigen versuchte, seine Abwesenheiten, die er als Geschäftsreise deklarierte, oder die Abende, an denen er spät zu Hause erschien, waren zu offensichtlich.

Irgendwann hatte er ihr gestanden, dass er pädophil sei, solange er denken könne. Sie hatte ihm eine Therapie abgerungen, die jedoch am Ende nichts erbrachte. Der Therapeut hatte ihm gesagt, Herbert besitze seit seiner Jugend eine pädosexuelle Präferenz, die sich nach Abschluss der Pubertät nicht mehr grundlegend verändert habe, und dass er es schwer haben werde, seiner Neigung nicht zu folgen. Pädophilie sei kein krankheitsbezogener Entschuldigungsgrund für Kindesmissbrauch, auch wenn das viele glaubten. Er müsse also unbedingt versuchen, sich zu disziplinieren, dabei könne eine neue Therapie helfen. Iris hatte darauf große Hoffnungen gesetzt. Sie wäre bereit gewesen, alles Widerliche zu vergessen, wenn es nur aufhören würde.

Nach der Therapie hatte ihr Mann ihr eröffnet, dass sich seine sexuelle Neigung therapeutisch nicht „abtrainieren“ lasse, aber der Therapeut habe ihm gesagt, wie man das Verlangen nach Kindern durch strikte Vereinbarungen mit sich selbst kontrollieren könne. Das wäre jetzt sein Ziel. Doch Herbert war weiter in seiner schmutzigen Welt unterwegs. Ihr wurde klar, dass ihr Mann den Kampf gegen die Pädophilie aufgegeben hatte.

Iris schützte den damals zwölfjährigen Sohn Holger vor den eindeutigen Versuchen des Vaters, sich ihm sexuell zu nähern, indem sie ihren Sohn auf ein Internat brachte, nicht in die Schweiz, sondern nach Deutschland. Sie hatte lange gezögert, nachdem bekannt geworden war, dass sich in dem Eliteinternat Odenwaldschule mehr als zwei Dutzend Lehrkräfte an über neunhundert Schutzbefohlenen vergriffen hatten. Aber in Deutschland hatte ihr Mann als Verwaltungsrat keinen Zugriff auf Internate. Sie entschied sich für das größte deutsche Eliteinternat, die Schule Schloss Salem. Dem Internatsleiter offenbarte sie, warum Holger eingeschult werde und dass der Vater keine Besuchsrechte in Anspruch nehmen werde. Herbert hatte sich darauf eingelassen. Welche andere Wahl hätte er auch gehabt?

In den ersten Jahren ihrer Ehe hielt sie noch zu ihrem Mann, doch am Ende verachtete sie ihn, weil er sich einfach nicht disziplinieren wollte. Auch empfand sie sein Versagen als persönliche Demütigung und Verrat an ihrem Leben. Sie suchte Wärme, er gab ihr Kälte.

Bei ihrem Liebhaber, einem namhaften Künstler aus der Züricher Musikszene, fand sie seit zwei Jahren Geborgenheit, Ehrlichkeit und Verlässlichkeit. Eigenschaften, die ihr bis dahin fremd geblieben waren. Ihr Mann wusste von der Beziehung und tolerierte sie. Er bat sie nur inständig um absolute Diskretion. Iris hielt sich daran, denn sein Geld und die Reputation als hochangesehene Vorstandsfamilie wollte sie nicht missen. Nachdem die Rahmenbedingungen geklärt waren, führten sie beide in gegenseitiger Missachtung ihr individuelles Leben, wissend, dass der Deal jederzeit zu Ende sein konnte. Sie wusste, dass in Zürich bereits über ihre Affäre geflüstert wurde, und Herberts zweites Leben war für sie alle ohnehin ein Tanz auf dem Vulkan.

»Ich werde in zwei Wochen eine Reise machen, Liebling.«

»Ach ja? Zu welcher Kindergruppe geht es denn dieses Mal?«

Er hatte eine derart bissige Antwort bereits erwartet, trotzdem schnitt ihm ihre Reaktion wie ein Messer durch die Brust, zumal sie sich nicht im Geringsten vorstellen konnte, was vor ihm lag.

»Ich werde auf dem Camino Francés pilgern.«

Sie sah in erstaunt an. »Du, auf dem Jakobsweg?«

»Ja, ich brauche Abstand und Ruhe auf der Suche zu meinem Ich.«

Zu seinem ICH …

Nun war sie doch fassungslos. Sie kannte zwei ICHs bei ihm. Das Gesicht des geachteten Vorstandsvorsitzenden in einer der weltweit größten Rückversicherungen und das eines Pädophilen, der Jungs missbrauchte und sich nicht in den Griff bekam.

Sie blickte auf seinen beträchtlichen Bauch. Die einzige Sportart, die er betrieb, war das Golfen, wobei er zwischen den Abschlägen von einem Golf-Caddy gefahren wurde.

»Du willst pilgern? Du? Warum kannst du nicht ein einziges Mal ehrlich sein?«

Er schwieg. Sie erwartete auch gar keine Antwort.

»Wie lange wird dein Weg zu dir selbst sein?«, legte sie spöttisch nach.

»Ich habe knapp 300 Kilometer vor mir und dafür etwa zwei Wochen eingeplant.«

Kopfschüttelnd ging sie in das Haus zurück.

»Herbert auf dem Weg zu sich selbst? Was glaubt er zu finden, außer wieder einen kleinen Jungen? Oder wollte er tatsächlich sein Leben verändern?«, dachte sie.

Zwei Wochen – die langersehnte Möglichkeit, einmal länger mit ihrer wirklichen Liebe zusammen zu sein.

Herbert von Bellheim zündete sich in seinem Bootshaus einen Zigarillo an und blies langsam den Rauch nach oben.

Hinter dem tiefblauen See erhob sich das schneebedeckte Bergmassiv einem Gemälde gleich. Unweit des windgeschützten Ufers lernten die Kleinen zwischen sieben und zwölf Jahren das Segeln auf Optimisten. Er zählte sie durch, es war problemlos möglich. »Wie eine Entenschar hinter der Gänsemutter«, dachte er. Der nächste Schritt wäre das Regattasegeln, der Grundstein für eine Karriere im Wettfahrtsegeln. Draußen blies offensichtlich ein starker Wind, den die Segelboote nutzten oder gegen den sie ankämpften. Er liebte diese Idylle, von der er allerdings ständig fürchtete, dass sie ihm jederzeit aus den Händen gleiten könne – wie sein gesamtes Leben. Er war höchst angesehen aber auch höchst einsam.

Die Frau, die an seiner Seite nur noch zum Schein lebte, war wieder ins Haus gegangen. Sein Vorstandsmandat neigte sich dem Ende zu. Und dann? Was würde bleiben? Die Suche im Netz nach immer neuen kleinen Gefährten, wie er sie nannte, wurde zunehmend riskanter.

Es war ein Leben wie auf einem Schleudersitz mit gesicherter Landung hinter Gittern. Er kannte den Artikel 189 auswendig: Wer eine Person zur Duldung einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft.

Schlimmstenfalls bekäme er eine anschließende lebenslange Verwahrung.

In der Knasthierachie, hatte er gehört, seien pädophile Sexualstraftäter ganz unten. Sie würden von den anderen Insassen gemieden, verachtet, schikaniert, verprügelt und schlimmstenfalls selbst Opfer von Vergewaltigungen. Viele wollen mit Sexualstraftätern nichts zu tun haben, hieß es, besonders nicht mit Kinderschändern. Im leichtesten Fall lehnten sie Arbeitsverhältnisse mit Pädophilen ab und würden sie mobben. Für die Betroffenen blieben dann Tätigkeiten übrig, die keiner machen wollte, wie Putzen oder Aufräumen.

Er schüttelte sich allein bei dem Gedanken. Nach ROSE verhielt er sich vorsichtig, hinterließ keine Spuren, weder im Darknet noch bei den Treffs. Jetzt dieser Brief mit dem USB-Stick. Wie hatten sie seine Adresse gefunden? Möglicherweise waren ihm die ROSE-Ermittler von damals bereits auf den Fersen und suchten nach neuen strafbaren Handlungen. Davon gab es natürlich inzwischen Hunderte.

Herbert spürte, dass er müde wurde. Sollte er sich auf diese schmutzige Erpressung überhaupt einlassen? Wie würde die Forderung lauten? Welche Gegenleistung war von ihm zu erbringen? So gern würde er das Ermittlungsteam des Konzerns aktivieren. Doch für diese Art der persönlichen Erpressung existierte im Krisenhandbuch der Versicherung keine Checkliste.

Dann gab es noch dieses andere Gefühl, das ihn drängte, den Jakobsweg zu pilgern. Es hieß, dass der Weg eine Art Selbstreinigung sei. Sie fand vielleicht bei dem Erleben der Natur statt, an einem Wegekreuz, in Gesprächen mit anderen Pilgern oder mit sich selbst, vor allem aber in den Augenblicken der totalen physischen Erschöpfung. Vielleicht war der Jakobsweg seit Hape Kerkelings Buch Ich bin dann mal weg, längst auf eine Attraktion des Massentourismus reduziert, die man persönlich unbedingt erlebt haben sollte. Kerkeling hatte offensichtlich gefunden, was er suchte. Die Menschen nach ihm, hieß es, suchten jetzt ebenfalls und nahmen den Mainstream von über zweihunderttausend Pilgern pro Jahr allein auf dem Camino Francés in Kauf. Wie sollte man dort zu sich selbst kommen, fragte er sich.

Er war katholisch getauft, aber seinem Gott war er nie begegnet. Vielleicht würde sich Gott tatsächlich am Rande des übervölkerten Jakobswegs zeigen und ihm den Weg weisen, ihn von seinem Übel und seiner Schuld erlösen. Das kleine Kind in ihm wünschte sich nichts sehnlicher als eine Befreiung von seinem anderen Ich.

Er blies den letzten Zug seines Zigarillos aus, ließ den Artikel über sein Porträt ungelesen zurück und rief seinen Fahrer an, der ihn mit der gepanzerten Mercedes-Limousine zu einem renommierten Züricher Outdoor- und Travel-Geschäft chauffierte. Er musste sich von Grund auf neu ausstatten und ließ sich dafür ausführlich beraten. Geringes Gewicht bei maximaler Effizienz war die Devise. Im Mai war mit niedrigen und hohen Temperaturen, mit Schnee und Sonne und vor allem mit Regen zu rechnen. Er kaufte nur das Beste. Regendichter Rucksack, Poncho, Wandersocken, Zip-Wanderhosen, Fleece-Jacke, Sonnenhut, lange Unterwäsche, Hygiene- und Erste-Hilfe-Ausrüstung.

Herbert rechnete mit zehn bis zwölf Etappen nach Burgos. Da er Gemeinschaftsunterkünfte aus hygienischen Gründen, wegen der vielfach geschilderten unangenehmen Geräuschkulisse und auch wegen seines mindestens zweimaligen nächtlichen Toilettenganges verwarf, würde er sich jeweils in einer Pension einbuchen. Selbst dafür hatte er sich einen Schlafsack, einen Kopfkissenbezug und Handtücher aus besonders leichtem High-Tech-Material gekauft. Zusätzlich hatte er sich mit Desinfektionsmittel und Seife eingedeckt, obwohl das durch Covid-19 schwer getroffene Spanien den Herbergen und Restaurants am wiedereröffneten Jakobsweg rigorose Hygienevorgaben auferlegt hatte. Der erste Wandertest mit der neuen Ausrüstung war eine einzige schmerzhafte Erfahrung, besonders bergab.

Voller Sorge saß er tags darauf mit einer MRT-Auswertung beim Orthopäden.

»Sie haben eine fortgeschrittene Arthrose in beiden Knien, mein lieber Herr von Bellheim, dazu links einen lädierten Innenmeniskus und rechts eine akute Patella-Sehnenentzündung«, sagte der. »Kein Wunder, dass Sie Schmerzen haben. Mit Physiotherapie ist da nichts mehr zu machen. Nach der Pilgerwanderung rate ich dringend zu einem operativen Eingriff.«

Er verordnete ihm Knieschoner, Schmerzgel und Salben.

»Gut, dass Sie diesen leichten, knöchelhohen Gore-Tex Wanderschuh gewählt haben. Laufen Sie die neuen Schuhe unbedingt täglich ein. Jeden Tag etwas mehr, abends Fußpflege mit Latschenkieferfett.«

Er sei selbst einmal den Camino Francés durch die Pyrenäen gewandert und wisse seitdem, warum die wahren Pilger von einst einen Pilgerstock und ein Minimum an Gepäck mit sich führten.

»Schleppen Sie nicht mehr als zehn Prozent Ihres Körpergewichtes, also zehn Kilogramm, in Ihrer Verfassung besser maximal sieben Kilogramm.«

»Das sollte möglich sein«, meinte von Bellheim. »Ich plane, nur mein Tagesgepäck zu tragen, das sonstige Gepäck wird extern transportiert.«

Dabei hatte er keine Ahnung, wie die Pilgerwanderung ablaufen würde. Die vermuteten körperlichen Strapazen und noch mehr die vollkommene Ungewissheit über das Ergebnis der Pilgerwanderung machten ihm schon jetzt zu schaffen. Er hasste Projekte, die nicht bis zum Letzten durchdacht waren. Doch in diesem Projekt war er nicht mehr als ein Objekt ohne irgendeine Entscheidungskompetenz. Er würde laufen, sich schinden und martern, aber wohin und wofür?

Der Arzt sah seinen wortkargen Patienten kritisch an, wie der sich mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht die Schuhe zuknöpfte. »Wollen Sie nicht doch noch mit der Pilgerwanderung warten, mein Lieber? Wenn die Seele aus dem Takt ist, helfen auch keine Knie-Bandagen.«

»Keine Sorge, Doktor, mein Jakobsweg schließt die Überwindung von Knieschmerzen ein.«

Der Arzt überreichte ihm zum Abschied Magnesiumtabletten und sah ihm nachdenklich hinterher, als ahnte er, dass die Knieschmerzen seines Patienten dessen geringstes Problem werden würden.

Doch Herbert von Bellheim hatte sich für den Jakobsweg entschieden. Auf dem Weg nach Saint Jean würde er seinem Fahrer sagen, dass man einen Abstecher über Salem mache. Sein Plan war es, mit seinem Sohn Holger noch vor der Jakobsreise zu sprechen. Er fühlte, dass eine Klärung mit seinem Sohn die wichtigste Voraussetzung für eine Selbstreinigung war. Er überlegte Trautmann, den Leiter des Internates, höflichkeitshalber vorab zu informieren, hielt das dann aber für keine gute Idee.

7.
SAINT-JEAN-PIED-DE-PORT

– Camino –

Die internationale Pilgerschar strömte aus dem Bahnhof der französischen Stadt Bayonne. Das nächste Ziel, Saint-Jean-Pied-de-Port, lag eine Stunde Zugfahrt entfernt. BKA-Kriminalhauptkommissar Joe Jaeger, genannt Hunter, blickte missmutig nach oben. Es schüttete wie aus Kübeln. Dabei hatte er sich auf den Anblick der nahen Pyrenäen gefreut. Der Himmel gab einen Vorgeschmack auf das, was ihn erwarten könnte.

Endlich! Ende der langen Anreise. Das Bahnhofsschild von Saint-Jean-Pied-de-Port nahm er unter seiner runden und wieder einmal beschlagenen Nickelbrille nur verschwommen wahr. Er überlegte, ob er sich einen Augenblick unterstellen sollte. Doch der kleine, kompakte weiße Bahnhofsbau mit seinen roten Türen und Fensterläden bot nicht den geringsten Schutz. Der Bau strahlte regelrecht aus: Pilger mach‘ dich auf den Weg, auch wenn es ungemütlich wird.

Hunter zog seinen dunkelgrünen Poncho über und die Kapuze eng an das Gesicht. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass der Wind den Regen in den Nacken drückte. Er würde nass sein, bevor die Pilgerreise überhaupt begann. Doch die aufgekratzten Menschen um ihn herum lachten, als gehörte diese Flut zur ersten Prüfung des Heiligen Jakobus. Eine Frau, offensichtlich aus den USA, rief ziemlich hysterisch in die Menge „Buen Camino!“ Das stand wohl so im Reiseführer für die Ankunft in Saint-Jean-Pied-de-Port, dachte er.

Auf der einundzwanzigstündigen Zugfahrt von Frankfurt nach Bayonne hatten sich die Wanderer schnell gezeigt. Man erkannte sie natürlich am Rucksack, doch einige Pilgerwanderer vor allem an deren Mitteilsamkeit. Sie erzählten ungefragt ihre Lebensgeschichte, so als wäre ein öffentliches Bekenntnis im Zugabteil über persönliche Schicksalsschläge die zwingende Voraussetzung für das Betreten des Jakobsweges. Wenn einer zu Ende gesprochen hatte, verstanden andere das als eine Aufforderung, sich ebenso zu outen. Tod in der Familie, Berufswechsel, Gottsuche, Ehekrisen, Selbstfindung und so weiter. Ein Mann im mittleren Alter meinte, seine einzige Motivation für die Pilgerfahrt sei es, eine Lebenspartnerin zu treffen: »Wenn es jemand mit mir über achthundert Kilometer aushalten wird, dann auch für den Rest des Lebens.« Einige lachten.

Hunter hatte gelesen, dass der Jakobsweg längst auch ein Weg für die Partnersuche sei und auf Apps wie Tinder eingesetzt wurde, um das Kennenlernen von Menschen in der näheren Umgebung zu erleichtern. Das Hobby-Wandern hatte man bereits gemeinsam, für das Kennenlernen gab es Zeit auf dem Weg und in den Herbergen.

»Ja«, meinte eine kleine, kompakte Frau mit kurzgeschorenem, grauem Haar und einem riesigen Rucksack: »Es ist ein wunderbares Wandern, wenn einer ist Kamerad des andern.« Hunter gehörte zu den wenigen Verschlossenen. Er wäre nie auf die Idee gekommen, über die schwere Zeit mit seiner sterbenskranken Frau hier zu unbekannten Menschen zu reden. Anderen Pilgern ging es offensichtlich ähnlich.

Er versuchte herauszufinden, ob unter den Verschlossenen ein Teilnehmer der Pilgergruppe ROSE, wie er sie für sich getauft hatte, sein könnte. Doch er wurde nicht fündig. Missbrauchstäter hatten keine spezifischen Wesenszüge, an denen man sie erkennen konnte, wusste er. Sie lebten perfekt getarnt in der Mitte der Gesellschaft und zeigten ihr wahres Gesicht erst im Gericht, wo ihnen der Spiegel über das durch sie verursachte Leid vorgehalten wurde.

Er erinnerte sich an den Kinderschänder aus Würzburg, der als Logopäde in 64 Fällen des Missbrauches für schuldig befunden wurde, dafür mehr als elf Jahre Haft bekam, und von dem der Richter gesagt hatte: »Der nach außen so angenehme Mann hat ganze Familien pulverisiert.« Erst am Ende des Prozesses zeigte der Täter eine gewisse Reue, aber wohl mehr um das Strafmaß zu senken.

Oder jener 27-jährige Mann, der im Kindermissbrauchsfall von Bergisch Gladbach gestanden hatte, vier kleine Kinder im Alter zwischen einem und fünf Jahren in über dreißig Fällen zum Teil schwer missbraucht zu haben, wofür er zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Immerhin hoffte auch der, »dass die Kinder das verarbeiten könnten.«

Was für eine verzerrte Wahrnehmung! Hunter kannte zu viele geschändete Kinder, die den physischen Missbrauch zwar überstanden hatten, aber nicht die Gewalt an ihrer Seele. Kinder, denen für immer etwas Zentrales genommen worden war, was ihnen die so wichtige Bodenhaftung gab. Kinder, die später im Leben privat oder beruflich scheiterten. Immerhin wurde jener Soldat in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen und würde nie wieder Kindern Schaden antun können.

Und was ist mit denen, die ihre Strafe abgebüßt haben und vielleicht sogar vorzeitig wieder freikommen? Hunter kannte die hohe Rückfallquote bei Triebtätern. Er dachte an seine dreizehnjährige Enkeltochter Marta in Wiesbaden, die ihm angesichts seiner überbordenden Sorge, sie vor Missbrauch im Netz und auf der Straße zu schützen, inzwischen vorhielt, dass er sie nerve. Wie sollte sie auch wissen, was er täglich erlebte. Er konnte nicht einmal ermessen, ob und wie tief sie mit ihren vielen Chat-Gruppen auch über Sexthemen im Gespräch war.

Hunter verließ den Bahnhofsbereich, marschierte in den Ort hinein und tat so, als würde ihm der Dauerregen nichts ausmachen. Er besah seine ledernen Wanderschuhe, sie schienen dicht zu sein, trotzdem vermied er die tiefen Pfützen. Die Jeans waren durch den Poncho einigermaßen geschützt wie auch der Rucksack, von dem es hieß, dass er regendicht sei, was allerdings noch zu beweisen war. Hunter konnte sich nicht erinnern, dass er jemals so penibel seine Ausrüstung geprüft hatte. Aber der Jakobsweg war auch seine erste größere Wandererfahrung, die auf keinen Fall an einer falschen Ausrüstung scheitern sollte.

Plötzlich rannten die Menschen los. Sie hatten das Pilgerbüro entdeckt, in dem es die begehrten Pilgerpässe gab. Hunter nahm das belustigt zur Kenntnis und folgte dem Weg zum vorgegebenen Treffpunkt, dem von ihm reservierten Hotel Pilgrim. Seine Hand glitt wieder einmal prüfend nach rechts unten. Die Dienstwaffe saß fest im Holster. Er fasste auf seinen Gürtel, aus dem das dort versteckte GPS-Modul stets seine Position an Heike Rauch in Wiesbaden meldete. Er hatte nun – ein Tag vor dem anberaumten Treffen – genügend Zeit, sich auf den Jakobsweg einzustimmen.

»Monsieur Ballhaus, willkommen in Saint-Jean-Pied-de-Port.« Der Portier gab Hunter die Nummer für sein Bett und führte ihn mit anderen Pilgern in den Schlafsaal. Hunter hatte auf ein Einzelzimmer gehofft, aber die schien es gar nicht zu geben. Das Hotel war für Pilger ausgelegt, die täglich in großer Zahl an- und abreisten.

Er überflog den Raum und schätzte ihn auf dreißig Schlafplätze. Auf vielen war bereits Gepäck gelagert. Er registrierte ein Kommen und Gehen in einem internationalen Sprachmix. Hunter beließ es bei einem freundlichen Bonjour. Er sah sich um. Vermutlich war er nicht der Einzige der Gruppe ROSE, der bereits am Vortag anreiste. Der mit Stockbetten gefüllte, große Raum machte einen sauberen Eindruck, der sich durch einen kurzen Blick in die sanitären Anlagen bestätigte.

Neben ihm unterhielt sich ein Paar auf Deutsch. Der Mann stützte sich auf seinem Gehstock ab und sah ihn unvermittelt interessiert an.

Hartmann … »Das musste Dr. Johannes Hartmann sein, der Internatsleiter von Maria Hilf«, dachte Hunter. Der Mann sah kränklich aus, aber kein Zweifel: Er war es.

Hunter lächelte freundlich zurück, legte seinen Rucksack ab und verließ das Hotel. Auf keinen Fall Kontaktsuche heute! Seine Mission würde morgen Abend um 18:00 Uhr als Gerd aus Deutschland starten. Allerdings gab er die Nachricht über das Eintreffen von Hartmann in Begleitung einer von ihm präzise beschriebenen Frau an Wiesbaden durch.

»Augenblick, habe ich gleich«, sagte Heike.

Wenig später sah er das Foto auf dem Handy.

»Ja, Treffer, Heike, das ist sie.«

»Christiane Hartmann, Verwaltungsangestellte im Internat, seine Schwester. Unverheiratet, keine Kinder, nicht vorbestraft, keine Besonderheiten. Was will die denn auf eurem Ausflug?«

»Das wird sich zeigen, Heike. Doch so wie er ausschaut, braucht er wohl eine Krankenschwester.«

Der Regen war einer warmen Nachmittagssonne gewichen, die das Nass auf der Straße zum Dampfen brachte. Auf einer Informationstafel lernte er, dass die kleine französische Stadt am Fuße der Pyrenäen für den Endpunkt des Französischen Jakobsweges Via Podensis und für den Beginn des Camino Francés stand.

Hunter verfolgte auf der Informationstafel den anstehenden 27 Kilometer langen Weg auf der Route Napoleon über den Ibañeta-Pass in das spanische Roncesvalles. Die Legende der Karte gab dafür eine Wanderzeit von sechs Stunden und siebzehn Minuten an. Dabei hatte Google wohl die achthundert Höhenmeter nicht berücksichtigt, dachte er.

»Wollen Sie auch die Pyrenäen überqueren?«, fragte ihn plötzlich eine Stimme von hinten.

Hunter ließ sich nichts anmerken, als er in Hartmanns Gesicht sah. Der Mann war allein.

»Ja, wenn das Wetter mitspielt. Sonst marschiere ich wohl auf der N 135. Das Pilgerbüro soll angeblich wissen, ob der Pass gesperrt ist.«

»Ach, das ist gut zu wissen. Wussten Sie, dass Karl der Große im Jahr 778 den Pass auf seinem Feldzug nach Spanien erreicht hat? Also sollten wir es auch schaffen. Ich starte übermorgen und Sie? Mein Name ist übrigens Johannes.«

»Angenehm, ich bin Gerd. Dann werden wir uns sicherlich sehen. Ich starte auch übermorgen früh – mit einer Gruppe.« Hunter bemerkte, wie Hartmanns Augen ihn noch stärker fixierten. Er spürte förmlich, wie sein Gegenüber seine Wiedererkennungserinnerung bemühte. Doch das war vollkommen aussichtslos. Hunter war für ihn kein Gesicht aus Maria Hilf und schon gar nicht als Ermittler im Fall. Das schien ihn äußerst nervös zu machen. Das Psycho-Spiel Wer-Ist-Wer hatte begonnen, bevor es offiziell anlaufen sollte.

»Also, dann, Buen Camino, Johannes!«

»Buen Camino, Gerd, bis übermorgen!«

Im Weggehen sah Hunter, wie Hartmann telefonierte. Auch schien der besser zu Fuß zu sein, als es zunächst im Hotel den Anschein hatte.

Hunter folgte den mittelalterlichen Gassen bis zur hölzernen Markthalle, wo die Lebensmittelprodukte der unteren Navarra angeboten wurden. Er genoss es, in einem Ort ohne die bekannten Einkaufsketten zu sein. Die Türen zu den kleinen Werkstätten standen offen. In einem Werkstattladen nähte eine Frau Espadrilles. Er sprach mit ihr und lernte, dass es regelmäßig Pilger gab, die mit diesen traditionellen baskischen Alltagsschuhen tatsächlich den Jakobsweg erwanderten.

Der ganze Ort war auf Pilger ausgerichtet. Pilger-Herbergen, Pilger-Menüs, Pilger-Ausrüstung. Verärgert stellte Hunter fest, dass die Schuhe, Wanderstöcke und Textilien preislich deutlich günstiger lagen als zu Hause, einschließlich der Pilgermuschel, auf die er allerdings verzichtet hatte. Wer auf dem Jakobsweg wanderte, der musste sich nicht noch öffentlich mit dem Erkennungszeichen der Pilger dekorieren, war sein Standpunkt.

Doch seiner Enkeltochter Marta, die in der Zeit seiner Abwesenheit von seiner Haushälterin in deren Wohnung betreut wurde, hatte er einen Pilgerpass mit vielen Stempeln versprochen – ein kleiner Ersatz dafür, dass sie ihn nicht begleiten durfte.

»Sie wissen, warum Sie den benötigen?«, fragte ihn der Leiter des Pilger-Büros.

»Nun, damit ich in Santiago de Compostela eben die Compostela-Pilgerurkunde bekomme, als Nachweis, dass ich den Weg wirklich gepilgert bin.«

»Richtig, und zwar die letzten einhundert Kilometer auf dem Camino zu Fuß, zu Pferd oder im nicht motorisierten Rollstuhl oder zweihundert Kilometer per Rad.«

»Die Kirche hat tatsächlich an alles gedacht«, meinte Hunter lachend.

»Die Stempel bekommen Sie in den Unterkünften und Kirchen am Jakobsweg. Vergessen Sie nicht: Auf den letzten einhundert Kilometern benötigen Sie dann täglich Stempeleinträge von zwei Orten.«

»Warum diese Stempelwut?«, fragte Hunter.

Der Baske lächelte.

»Damit Jakobus nicht zu leicht betrogen wird … Oder wollen Sie eventuell gar nicht bis nach Santiago pilgern?«

»Stimmt, ich wandere nur bis nach Burgos. Mir geht es, offen gestanden, auch nicht um die Urkunde in Compostela. Meine Enkeltochter hat sich einen Pilgerpass mit den Stempeln meiner Wanderung gewünscht.«

»Dann erzählen Sie ihr auch von Ihren Erlebnissen und Selbsterfahrungen.«

»Sofern ich mich überhaupt selbst erfahre«, meinte Hunter freundlich, den leeren Pilgerpass durchblätternd.

Der Baske lächelte ihn von oben bis unten musternd an. Er kannte offensichtlich Pilger jeglicher Herkunft. Immerhin starteten jedes Jahr über sechzigtausend von hier.

»Wer wandert, wird sich verwandeln, auch du.«

Hunter nahm diese Weisheit nur nebenbei zur Kenntnis und sah sich im Pilgerbüro um. Tatsächlich interessierte er sich mehr für die Menschen. Er war froh, dass seine konspirative Mitarbeiterin und Journalistin, Hanna Dohn, morgen am 13. Mai, dem Tag der allgemeinen Anreise, eintreffen würde. Hunter lachte in sich hinein, als er an die gemeinsame Doppelrolle dachte. Für ihn, alias Gerd Ballhaus, war der Gebrauch eines Pseudonyms gelebter Alltag. Aber für Hanna Dohn, nun Maria Feldmann, keineswegs. Gerd und Maria, inhaltlich bestens vorbereitet und durchgehend mit dem BKA verbunden, waren das erste Pilgerpaar des Amtes auf dem Jakobsweg.

Als er das Büro verließ, wurde er von einem kleinen Hund begleitet. Nachdem der auch einige hundert Meter weiter nicht von ihm abließ, blieb Hunter stehen und schaute sich nach dem Besitzer um. Niemand suchte ihn. Der mittelgroße Hund mit glattem, braunem Fell trug kein Halsband. Hunter schüttelte den Kopf, der Hund wackelte mit dem Schwanz und fixierte ihn mit seinen tiefbraunen Augen, wobei ein Ohr leicht hochstand, das andere lag flach an.

»Ich habe nichts für dich, lauf nach Hause!«

Der Hund stand weiterhin wie angewurzelt vor ihm, hielt den Kopf leicht schräg und wedelte weiter mit dem Schwanz. Aus seinem Gebiss ragte leicht ein seitlicher Zahn heraus, was ihm den Anschein eines ständigen Lachens gab.

Hunter wandte sich ab und suchte den Weg zur Brücke über den Fluss Nive.

Der Hund folgte ihm.

Hunter blieb erneut stehen und wies ihm nun energisch den Weg in die entgegengesetzte Richtung. Der Hund blickte ihn wedelnd an.

»Dich werde ich gleich los«, murmelte Hunter, als er die Kirche Notre-Dame betrat und sich vergewisserte, dass sich der Hund nicht an seine Ferse geheftet hatte. Tatsächlich blickte der kurz zu ihm, gab auf und verschwand.

Als Hunter die Kirche verließ, sprang der Hund erfreut auf ihn zu.

Sie liefen gemeinsam auf der Wehrmauer entlang, sodann zur Zitadelle, wo der Hund wieder auf Hunter wartete. Es war Zeit, das Tier endgültig loszuwerden.

»Wissen Sie, wem der Hund gehört?«, fragte er den Leiter des Pilgerbüros.

Der Baske sah sich den Hund an.

»Nein, er scheint herrenlos zu sein. Eine typische Promenadenmischung, etwas Ratonero, etwas Galgo, davon gibt es hier einige. Sehr hübsch, vielleicht ein Jahr alt und offensichtlich sehr aufgeweckt.«

»Gibt es hier ein Tierheim?«

»Soviel ich weiß, nein.«

»Und nun? Der weicht nicht mehr von meiner Seite.«

»Dann hat er sich Sie ausgesucht, Pilger.«

»Das wüsste ich aber! Tun Sie mir bitte einen Gefallen. Ich gehe jetzt hier hinaus, und Sie halten bitte einen Moment die Tür geschlossen, bis ich verschwunden bin.«

»Wie Sie mögen, Monsieur.«

Hunter eilte die Rue de la Citadelle hinunter, sodann in die Rue de France, drehte sich um – seinen Begleiter war er los – und suchte sich einen Platz im baskischen Restaurant Chez Dédé, das von der Hauptstraße aus nicht sichtbar war. Das einfache Menü mit liebevoll zubereiteten Qualitätsprodukten und einem trockenen Hauswein entschädigte ihn für die Strapazen der Anreise und der lästigen Begegnung mit dem Straßenhund.

Tasuta katkend on lõppenud.

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