Vinus und das Auge der Zyklopen: Die Abenteuer der Koboldbande (Band 4)

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Der Weg nach Bochea

Der Regen hatte in der Nacht nicht nachgelassen. Schlecht gelaunt sah sich Artur die dunklen Wolken am Himmel an. Dann ging er in das Baumhaus. Knurr spielte mit Barbaron ein Würfelspiel und einige Minitrolle sahen im Schein des Kaminfeuers gespannt zu.

Gerade gewann Knurr das dritte Mal hintereinander und Barbaron wurde ärgerlich. „Freund Knurr, das ist für heute das letzte Spiel, das du gewonnen hast. Jetzt werde ich drei Sechsen würfeln und schon hab ich das Glück auf meiner Seite.“

Barbaron nahm den Würfelbecher und schüttelte ihn. Dann ließ er ihn krachend auf dem Boden landen und hob ihn hoch. Die Würfel zeigten jedoch dreimal die Eins. Fluchend stand Barbaron auf. „Seitdem es heute Morgen diese neue Erschütterung der Magie gab, habe ich kein Glück mehr. Da ist wohl irgendein böses Wesen aufgewacht.“

Artur wollte gerade etwas sagen, doch Vinus kam mit seinem Becher herein und sah sich um. Dann setzte er sich neben dem Kamin auf eine Bank und sah zu Artur. Er schüttelte den Kopf und sprach, als wollte er zu sich selbst reden. „Ich konnte heute Morgen nicht aus meinem Becher trinken. Es geht nicht mehr. Der Wein hat sich in Blut verwandelt. Sieh ihn dir an.“ Vinus hielt Artur den Becher entgegen.

Erschrocken nahm Artur Vinus den Becher aus der Hand und sah hinein. Im Schein des Kaminfeuers konnte er erkennen, dass sein Bruder recht hatte. Der Becher war zur Hälfte mit Blut gefüllt. Er stellte ihn auf den einzigen Tisch im Raum, sodass Knurr und die anwesenden Minitrolle ebenfalls den Inhalt des Bechers betrachten konnten.

Leise flüsterte Knurr. „Die Erschütterung der Magie ist schuld. Wenn das so weitergeht, wird sie noch ihr Gleichgewicht verlieren und wir werden alle in ein schwarzes Chaos stürzen.“

Artur ermahnte Knurr sofort. „Sag nicht so etwas, du alter Schwarzseher! Solange wir das Böse bekämpfen können, wird es ein solches Chaos nicht geben!“

Barbaron erkannte schnell, dass Knurr sich mit Artur streiten wollte. Er sprang auf den Tisch und rief. „Wollt ihr nicht wissen, was die Ursache für die letzte Erschütterung gewesen ist?! Oder wollt ihr euch lieber erst ein wenig um die Wahrheit schlagen, obwohl sie keiner von euch kennt?“

Knurr und Vinus stimmten dem König aller Minitrolle zu und Artur forderte ihn auf, seinen Trollkompass zu befragen. Barbaron war jetzt in seinem Element. Er genoss die Aufmerksamkeit seiner Freunde und beschwor seinen Kompass. Der zeigte ihm zunächst den Ausgangspunkt der Erschütterung an. „Na da haben wir ja schon die erste Antwort.“ Mit stolzgeschwellter Brust sah der kleine König zu Artur. „Die Erschütterung wurde weit oben im Norden, im Gebiet der Schneeland-Elfen ausgelöst.“

Artur beugte sich gespannt zu Barbaron und sah auf den Kompass. „Und wer hat diese Dummheit begangen?“

Knurr und Vinus sahen ebenfalls auf den Kompass und Barbaron sprach ganz leise eine neue Beschwörung aus. Mit großen Augen starrten die drei Kobolde auf die Zeichen, die der Kompass ihnen zeigte.

Der kleine König schaute in die Gesichter der Kobolde und drückte Vinus den Mund zu. „Da habt ihr es. Ein Hexenmeister wurde erweckt. Jetzt sollten wir noch wissen, was er vorhat. Da der Becher von Vinus mit im Spiel ist, habe ich auch schon eine Idee. Diese Kerle führen meist Aufträge von besonders boshafter Natur aus.“

Der Kompass verriet noch den Namen des Ortes, den der Hexenmeister aufsuchen wollte. „Bochea“, flüsterten die drei Kobolde gleichzeitig und Vinus fügte noch hinzu. „Es gibt nur einen wirklich wertvollen Schatz in dieser Stadt und ich wollte im Frühjahr dort hin. Jetzt will mir wohl jemand zuvor kommen und etwas Schreckliches tun.“

Artur und Knurr nickten sich zu und schauten dann zu Vinus. Barbaron steckte seinen Kompass weg und fragte sogleich. „Mein lieber Freund Vinus, da du den Becher des Schöpfers gefunden hast, willst du ihn wohl nach Bochea bringen?“

Vinus nickte. „Ich dachte, ich hätte bis zum Frühjahr Zeit und könnte dann die Tafel hierher zu uns bringen. Doch jetzt haben sich die Dinge geändert. Ich muss so schnell wie möglich nach Bochea um die Feenkönigin Theodora zu warnen. Wenn sie den Becher und die Altartafel vereinen kann, werden sie der Königin die magische Kraft geben, jeden Feind abzuwehren. Das hoffe ich jedenfalls.“

Barbaron rieb sich die Hände und schwebte plötzlich mit der Hilfe seines blauen Kristalls neben Vinus. Er klopfte dem Kobold auf die Schulter und rief. „Das wird bestimmt eine spannende Sache und wir Minitrolle werden dich selbstverständlich begleiten.“

Vinus schüttelte den Kopf. „Nein Barbaron. Ich gehe lieber allein. Das ist bestimmt sicherer. Mit einer großen Schar Minitrolle falle ich überall sofort auf und es werden Feinde auf uns aufmerksam, denen ich allein entgehen kann.“

Barbaron war damit überhaupt nicht einverstanden. Er holte tief Luft und wollte etwas erwidern, doch Artur kam ihm zuvor. „Er hat recht, Barbaron. Wenn du mit deinem Volk Vinus begleitest, wird jeder Lump es wissen und wir werden nie erfahren, wo sich Dämonicon aufhält. Selbst dein Kompass kann uns das nicht sagen.“

Barbaron setzte sich auf den Tisch und verschränkte beleidigt seine Arme. „Sollen wir Minitrolle etwa den ganzen Winter nutzlos in diesem Tal verbringen, während sich Vinus in Bochea so vielen Gefahren aussetzt?“

Artur versuchte, den kleinen König zu beschwichtigen. „Ihr Minitrolle seid doch nicht nutzlos. Ich werde mir eine Aufgabe für euch einfallen lassen und ich bin mir sicher, sie wird euch gefallen.“

Barbaron sprang vom Tisch und rief. „Nein Artur, wir suchen uns unsere Aufgaben lieber allein!“ Er verließ mit seinen Minitrollen das Baumhaus und Artur zuckte mit den Schultern.

Vinus nahm seinen Becher und betrachtete ihn wieder. Dabei flüsterte er vor sich hin. „Morgen breche ich in aller Frühe auf. Dann werde ich ja sehen, welches Schicksal uns zugedacht ist.“

Der nächste Morgen war etwas freundlicher. Es regnete nicht mehr und der Nebel verzog sich langsam aus dem Tal. Vinus verabschiedete sich und versuchte seine Brüder und die Minitrolle zu beruhigen. „Nur keine Sorge. Ich werde mich beeilen und vor dem Winter zurück sein.“

Vinus drehte sich um und ging zum geheimen Gang, der durch einen Berg in das nächste Tal führte. Dort wollte der Kobold mit seiner Flugschale starten. Barbaron fragte Artur verärgert. „Bist du dir sicher, das Vinus dieser Aufgabe gewachsen ist? Das wird bestimmt kein Spaziergang.“

Artur tippte dem kleinen König mit seinem Zauberstab auf dessen Bauch und antwortete ihm. „Das ist nicht sein erster Flug nach Bochea. Er hat schon viele Abenteuer allein bestanden und er kennt das Steppenland sehr gut. Glaub mir, wenn er Hilfe brauchen würde, so hätte er uns darum gebeten. Geh du lieber mit deinen besten Jägern auf die Schweinejagd. Dann werden dir die düsteren Gedanken schon vergehen.“

Artur drehte sich um und ließ Barbaron mit seinem Volk allein. Sein Hauptmann stellte sich neben ihm und flüsterte ihm ins Ohr. „Mein König, du solltest Vinus nicht ganz aus den Augen lassen. Verfolge ihn doch mit deinem Kompass. So weißt du immer, ob es ihm gut geht.“

Barbaron grinste den Hauptmann an. „Ich habe nichts anderes vor, mein treuer Freund. Dieser Artur ist mir etwas zu unbesorgt.“

Unterdessen startete Vinus seinen Flug. Er nahm auf seiner Schale Platz und flog im nächsten Augenblick über die Bäume, die das dunkle Tal umgaben. Sein Weg führte ihn durch die Schluchten und Täler des Drachengebirges. Er folgte den Bächen und Flüssen und erreichte schon am frühen Mittag das Tiefland der Zwerge. Es war für den Kobold nicht schwer, mit der Hilfe der Straßen und Flüsse den Weg zum Steppenland zu finden. Doch in der Steppe war das schon schwieriger. Hier gab es keine Flüsse und nur staubige Wege, die in der Luft schlecht zu erkennen waren.

Vinus landete am frühen Nachmittag und rastete im Schatten einiger Büsche. Bäume gab es in dieser Gegend nur selten. Sein Rastplatz lag in einem flachen Tal und er blieb nicht lange unentdeckt. Ein Rudel hungriger Steppenwölfe umringte ihn. Die Tiere legten sich auf die Lauer und schlichen sich Stück für Stück an ihn heran. Der Duft von frischem Brot und Speck ließ sie schnell jede Vorsicht vergessen und sie rasten von allen Seiten gleichzeitig auf den Kobold zu. Doch ein Schutzbann, den Vinus ausgelegt hatte, ließ die Wölfe plötzlich stoppen. Sie erkannten die Gefahr und zogen sich knurrend und zähnefletschend zurück.

Ohne Hast stand Vinus auf und sah sich um. Er zählte neun Angreifer. In sicherer Entfernung warteten sie auf eine zweite Gelegenheit. Doch Vinus hatte keine Lust, mit ihnen zu kämpfen. Er setzte sich wieder auf seine Flugschale und ließ die Wölfe allein. Ihr Geheule hörte er bald nicht mehr. Dafür kam er der Stadt Bochea immer näher.

Eine Meile vor der Stadt landete Vinus. Er steckte seine Schale ein und machte sich zu Fuß auf den Weg. Trocken und staubig war die Straße. Es hatte hier schon lange nicht mehr geregnet. Doch über der Steppe zogen schwarze Wolken auf und der Wind wurde stärker. In der Nacht würde es in der Gegend ein Unwetter geben. Vinus beeilte sich, denn er wollte die Stadt mit trockenen Sachen erreichen.

Es war kurz vor der achten Stunde, als der Kobold das große Stadttor erreichte. Zwei gewaltige Riesen und eine Horde Steppenland-Elfen bewachten es. Sie kontrollierten jeden, der in die Stadt wollte. Die Riesen hatten mitten auf der Stirn ein drittes Auge. Sie sahen sich die Karren der Händler an und die Elfen fragten sie nach ihrer Herkunft und den Grund für die Reise nach Bochea aus.

Vinus musste sich in die Schlange der Händler einreihen. Einer der beiden Riesen beugte sich zu ihm herunter und betrachtete ihn kurz. Dann kam der Anführer der Elfen auf ihn zu. Mit heiserer Stimme sprach er Vinus schroff an. „Na, was haben wir denn hier für einen komischen kleinen Kerl? Du bist doch bestimmt ein Dieb, hä? Oder bist du sogar ein Mörder?“

 

Vinus war sofort erbost. Wütend entgegnete er dem Elfen. „Da hast du völlig recht! Ich erwürge gern Riesen im Schlaf und dir werde ich deine lose Zunge stehlen, wenn du mich noch ein wenig reizt!“ Der Kobold streckte dem Elfen seine Hände entgegen und eine Feuerkugel schwebte plötzlich vor ihm.

Erschrocken wichen die Elfen zurück und die Riesen grinsten. Sofort kam ein weiterer Elf in prächtiger Rüstung auf Vinus zu und sprach zum Anführer der Wachen. „Lass den Kobold in die Stadt herein. Er heißt Vinus und er ist ein Freund unserer Königin. Ich kenne ihn schon sehr lange und ich verbürge mich für ihn.“

Der Anführer war erschrocken und er verbeugte sich. „Entschuldigt bitte, Herr Vinus. Ich wusste nicht, wer Ihr seid. Aber in letzter Zeit versucht hier allerlei Gesindel, in unsere Stadt zu kommen. Da müssen wir uns jeden Besucher genau ansehen.“

Vinus ließ die Feuerkugel verschwinden und zeigte zu den beiden Riesen. „Frag das nächste Mal diese großen Kerle. Die kennen mich auch.“

Die Riesen nickten und einer sprach zum Anführer. „Er hat recht. Wir sehen diesen Kobold nicht zum ersten Mal. So einen guten Zauberer wie ihn findest du nicht alle Tage in der Stadt. Ihr weißen Steppenland-Elfen solltet euch lieber nicht mit ihm anlegen.“

Der Elf mit der prächtigen Rüstung geleitete Vinus in die Stadt hinein. Sie gingen zu einem guten Wirtshaus. „Mein lieber Vinus, ich hätte nicht gedacht, dich hier noch einmal zu sehen. Seit deinem letzten Besuch ist viel Zeit vergangen.“

Vinus nickte und öffnete die Eingangstür eines großen Wirtshauses. Willst du mit mir einen guten Becher Wein trinken, Fürst Silberhand? Ich habe einige Neuigkeiten für dich und noch viel mehr Fragen.“

Der Fürst schüttelte den Kopf. „Nein, ich muss die Wachen in der ganzen Stadt kontrollieren. Für dich habe ich jetzt keine Zeit. Doch ich werde dich aufsuchen, wenn es mein Dienst erlaubt. Für heute wünsche ich dir einen guten Abend.“

Vinus ging allein in die Schankstube des Wirtshauses und sah sich um. Der Wirt kam sofort angelaufen und bat den Kobold, an einem Tisch Platz zu nehmen. Einen Krug mit süßem Wein, einen Becher und ein leckeres Abendmahl brachte eine junge Magd heran und Vinus langte schnell zu. Dabei betrachtete er die anderen Gäste.

In so einem Wirtshaus konnte man alle möglichen Gestalten finden. An einem Tisch saßen drei Zwerge und redeten mit einem blauen Gnom über einen Handel. Am nächsten Tisch saßen sechs weiße Elfen. Die Wappen auf ihren langen Mänteln verrieten, dass sie Jäger aus dem Flussland waren. Zwei dunkle Sumpfland-Elfen unterhielten sich am Schanktisch mit einem Obinarer und der Wirt selbst war ein Mensch.

Vinus lenkte seinen Blick zurück auf seinen Teller und seine Gedanken wanderten zu seinen Freunden. Dass er noch vor dem Winter hier nach Bochea reisen musste, das passte ihm gar nicht. Im nächsten Frühjahr wäre ihm die Reise lieber gewesen. Aber wenigstens hatte er diese aufdringlichen Minitrolle nicht mitnehmen müssen. Dieses quirlige Durcheinander und die vielen derben Späße waren nichts für ihn.

Bestimmt würde Barbaron versuchen, ihn mit seinem Kompass zu überwachen. Doch die Aura der Stadt würde das verhindern. Die Königin Theodora hatte sie wie eine große unsichtbare Glocke über die Stadt gelegt, um zu verhindern, dass jemand mit einem Orakelkristall oder einem ähnlichen magischen Gegenstand das Auge der Zyklopen finden konnte.

Vinus war so tief in seine Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkte, wie die Magd seinen leeren Becher nachfüllte. Erst als der Wirt an seinen Tisch kam, löste er sich von ihnen. Der Wirt sah ihn freundlich an und wischte den Tisch mit seiner Schürze ab. Vinus legte ein Goldstück auf den Tisch. „Reicht dir das als Lohn für deine Mühen?“

Der Wirt nickte und steckte das Goldstück schnell weg. „Wenn Du ein Zimmer haben willst, dann sag es mir. Bald ist Sperrstunde und dann darf niemand mehr bis zum nächsten Morgen die Straße betreten. Der Herr der Wachen, Fürst Silberhand, hat das so angeordnet. Vor einigen Tagen wurden im Süden Zentauren gesichtet und jetzt haben die Elfen Angst. Auch die Feen im Tempel und die Riesen sind beunruhigt.“

Vinus gab dem Wirt ein zweites Goldstück und ließ sich von der Magd ein Zimmer geben. Es war klein und hatte nur einen Tisch, einen Hocker und ein Bett. An dessen Fußende stand eine Truhe. Aus ihr holte die Magd eine Decke und ein Kissen für die Nacht.

Vinus wollte das Fenster öffnen, doch die Magd war sofort dagegen. „Bitte nicht Herr Kobold, wenn das die Stadtwachen sehen, dann werden sie kommen und wir müssen eine Strafe zahlen. Es ist streng verboten, in der Nacht ein Fenster zu öffnen.“

Vinus war jetzt sehr verwundert. „Ich war vor vielen Jahren schon ein Mal in dieser Stadt, aber damals gab es solche Verbote nicht. Hier hat sich seit dem vieles verändert.“ Die Magd nickte hastig und verließ das Zimmer.

Vinus sah zum Fenster. Er konnte durch einen Spalt zwischen den Fensterklappen auf die Straße schauen. Es war niemand zu sehen. Er setzte sich auf das Bett und sah in die Dunkelheit der kleinen Kammer. Seine Gedanken wanderten zu dem Tempel, in dem Theodora, die Königin von Bochea herrschte. Ihr wollte Vinus den Becher geben. Er hoffte, dass sie mit ihrer Weisheit die Veränderung seines Bechers erklären konnte.

Der Kobold zog seinen Mantel aus und legte sich hin. Seine Gedanken kreisten um den Tempel und der Königin. Der Schlaf überkam ihn und bald war nur noch ein gleichmäßiges Schnarchen zu hören.

Mitten in der Nacht wachte Vinus jedoch auf. Ein Geräusch ließ ihn in die Höhe fahren und er sah durch den Spalt zwischen den Fensterklappen auf die Straße. Im Schein des Mondlichtes konnte Vinus zwei Gestalten erkennen. Der eine war groß und schlank, der andere eher klein und von breiter Gestalt. Vinus rieb sich den Schlaf aus den Augen. Waren diese beiden Kerle nicht der Obinarer und der blaue Gnom. Er hatte sie im Schankraum gesehen.

Die Neugierde plagte sofort den Kobold und er wollte wissen, was sie mitten in der Nacht trotz Sperrstunde auf der Straße zu suchen hatten. Er sah, wie die Beiden in die Richtung des Tempels davon schlichen. Vorsichtig öffnete Vinus das Fenster und er sprang auf die Straße. Mit einem magischen Wink schloss er das Fenster wieder. Dann schlich er dem Obinarer und dem Gnom nach. Drei Mal mussten sie sich vor den Wachen der Elfen verstecken. Für Vinus wäre es leicht gewesen, Alarm zu schlagen, doch er tat es nicht. Er wollte wissen, was die anderen vorhatten.

Je näher sich der Obinarer und der Gnom an den Tempel schlichen, des so heller wurde die Umgebung durch die Fackeln der Wachen. Doch sie kamen unerkannt in den Hinterhof eines Hauses an, das dem Tempel direkt gegenüberstand. In der Mitte des Hofes stellten sie sich hin und der blaue Gnom zog eine magische Rute aus einer Tasche seines Mantels. Vinus war mit seiner Flugschale das letzte Stück des Weges geflogen und leise auf dem Dach des Hauses gelandet. Jetzt konnte er das erste Mal einem blauen Gnom bei seiner Arbeit zusehen. Der Kobold ahne, was jetzt geschehen würde.

Mit der magischen Rute hatte der Gnom eine große Wasserader gefunden. Durch eine Beschwörung ließ dieser Gnom ein Loch im Boden des Hofes entstehen. Sie stiegen hinein und das Loch verschloss sich hinter ihnen. Es sah aus, als wären sie nie hier gewesen. Vinus wusste nun, was zu tun war. Jetzt musste er die Wachen alarmieren.

Mit seiner Flugschale landete er direkt vor dem Lagerfeuer einiger Wachen am Tor des Tempels. Den verdutzten Kriegern rief er zu. „Gebt Alarm, es sind zwei gefährliche Diebe in den Tempel eingedrungen!“

Sofort dröhnte ein Horn durch die Stille der Nacht und Fürst Silberhand kam mit weiteren Kriegern angelaufen. Vinus rief ihm zu, das er den Tempel unbedingt nach den beiden Dieben durchsuchen sollte. Der Fürst teilte seine Krieger in mehrere Gruppen ein und rief dem Kobold zu. „Folge mir, einen Kobold wie dich kann ich jetzt gut gebrauchen.“

Vinus flog einfach dem davoneilenden Fürsten hinterher. Im Tempel wurde es immer lauter. Waffen klirrten und die Rufe der Wachen waren weithin zu hören. Ihre Stiefel stampfen auf den Boden auf und die Königin Theodora erschien im großen Saal. Ihre Dienerinnen hielten Fackeln in den Händen und ihr Ruf hallte durch den Tempel. „Fürst Silberhand, könnt Ihr mir erklären, was dieser nächtliche Lärm zu bedeuten hat?!“

Der Fürst lief zur Königin und verbeugte sich kurz. „Ein alter Freund beehrt uns mit seiner Anwesenheit und zeigt uns, wie nützlich er uns sein kann. Seht, hier ist der Kobold Vinus. Er hat zwei Diebe entdeckt. Sie sollen sich bereits im Tempel befinden. Jetzt suchen wir sie.“

Die Königin schaute verwundert zu Vinus. Der schwebte immer noch mit seiner Flugschale im Saal. Der Kobold grüßte mit einer Handbewegung. „Verzeiht die Störung zu dieser Stunde, verehrte Königin, aber Euer Tempel ist in Gefahr. Ein blauer Gnom und ein Obinarer sind durch eine Wasserader in Eure heiligen Hallen eingedrungen. Bestimmt sind sie schon in den Gewölben und suchen nach Beute. Der Gnom hat eine magische Rute bei sich. Das ist ein gefährliches Ding.“

Die Königin war entsetzt. „Was, wir haben Diebe im Gewölbe? Oh nein, so einen Frevel lasse ich nicht zu! Wo ist meine Tochter Helena?! Wir müssen zum Wächter, die Tafel ist in Gefahr!“

Die Prinzessin zog ihre Mutter am Ärmel ihres Mantels. „Ich stehe genau hinter dir, Mutter. Jetzt beruhige dich und lass mich mit dem Schlüssel vorausgehen.“

Die Prinzessin nahm ihre Mutter an die Hand und zog sie zur Mitte des Saals. Dort führte eine steile Wendeltreppe in das Gewölbe des Tempels. Der Königin und ihrer Tochter folgten der Fürst und der Kobold. Dann kamen die Wachen und die Dienerinnen.

Helena öffnete mit einem großen Schlüssel das Tor zum Gewölbe. Dieses Gewölbe war groß und die Gänge verzweigten sich immer wieder. Ohne einen Plan würde man sich früher oder später hier verlaufen. Um sich nicht zu verirren, hatten die beiden Eindringlinge einen sicheren Weg gewählt. Die Wasserader führte sie direkt zu einer Grotte, durch die das Wasser hindurchfloss. Die Feen nannten sie die Quellengrotte.

Völlig durchnässt kamen der Obinarer und der Gnom in dieser Grotte an. Mit der Hilfe seiner magischen Rute konnte der Gnom die finstere Grotte beleuchten. Außer zwei großen Löchern, durch die das Wasser hinein und wieder hinaus floss, gab es noch drei Türen. Die ersten beiden Türen waren klein und unscheinbar. Die andere Tür war dagegen groß und breit. Hinter dieser Tür vermuten die beiden Diebe einen besonderen Schatz. Gerade wollte der Gnom mit seiner Rute die große Tür öffnen, da sprang eine der beiden kleinen Türen auf und die Königin stürmte mit ihrem Gefolge in die Grotte. Sofort warf sie mit ihren Zauberkräften die Eindringlinge zu Boden und die Wachen stürzen sich auf sie. Gefesselt an Händen und Füßen wurden sie davon getragen.

Erstaunt schaute der Kobold den Wachen nach. Er hatte eigentlich mit etwas mehr Gegenwehr gerechnet. Dass sich diese Kerle so einfach fangen ließen, das hätte er nicht gedacht.

Einige Minuten später standen die beiden Übeltäter im großen Saal des Tempels vor der Königin. Grimmig sah sie sich die dreisten Gestalten an. Sie setzte sich auf ihren Thron und sprach zu ihnen. „Was jetzt auf euch für eine Strafe zukommt, das könnt ihr Diebe euch doch denken. Wir werden euch morgen vor der Stadt hängen lassen. Das ist mein Urteil für euch Verbrecher.“

Fürst Silberhand mischte sich sogleich ein. „Entschuldigt, meine Königin, doch dieses Urteil könnt Ihr nicht verhängen. Das wäre zu hart, trotz der nächtlichen Aufregung. Sie haben keinen Schaden verursacht und Ihr habt sie noch nicht einmal angehört.“

Die Königin sah den Fürsten überrascht an. „Wollt Ihr, Fürst Silberhand, mir damit sagen, dass ich kein gerechtes Urteil gefällt habe? Oder wollt Ihr mich über unsere Gesetze aufklären?“

Vinus erkannte die Feindseligkeit im Blick des Fürsten und er spürte die Kälte in seiner Stimme, als er der Königin antwortete. „Lasst es für heute Nacht genug sein, Königin Theodora. Eure Schätze sind sicher verwahrt und es gibt keinen Grund für Eure unnötige Härte. Ich werde diese beiden Diebe in Gewahrsam nehmen und sie in sieben Tagen aus der Stadt werfen lassen. So ist das Gesetz und so soll es geschehen.“

Die Königin erhob sich von ihrem Thron und auch ihr Blick gab ihre Wut wieder. Trotzdem sprach sie unerwartet ruhig. „Fürst Silberhand, ich habe mich wohl etwas von meinem Zorn hinreißen lassen. Natürlich werden sie bestraft, wie Ihr es sagtet. Ich ziehe mich jetzt in meine Gemächer zurück.“ Sie gab ihrer Tochter einen Wink und ging.

 

Die Prinzessin kam auf Vinus zu und lächelte ihn an. „Meine Mutter würde sich gern mit dir unterhalten. Jetzt zu Bett zu gehen hat keinen Sinn mehr. Die Nacht ist gleich vorbei und nach dieser Aufregung kann die Königin nicht mehr schlafen.“

Vinus nickte nur und stieg von seiner Flugschale ab. Er steckte sie ein und folgte der Prinzessin. Vom Saal führte ein Flur zu den königlichen Gemächern. Eines dieser Gemächer war ein Arbeitszimmer. Die Königin saß an einem Tisch und lass in einem Brief, als Helena und Vinus hereinkamen. Ohne viele Umstände bat sie den Kobold, sich in einem bequemen Sessel zu setzen. Dann bot sie Vinus einen guten Wein in einem Kelch an und trank selbst einen Schluck.

Helena hatte das Zimmer verlassen und der Kobold leerte den Kelch in einem Zug. Dann stellte er ihn auf den Tisch.

Die Königin sah ihn aufmerksam an. „Mein lieber Vinus, dein Durst scheint nicht schwächer zu werden. Seid unserer letzten Begegnung ist sehr viel Zeit vergangen, doch du bist nicht um einen Tag gealtert. Ist das bei euch Kobolden so üblich?“

In Vinus Kopf arbeiteten die Gedanken, doch er lächelte und antwortete der Königin. „Wir Kobolde sind von einer besonderen Art. Uns gibt es nur sieben Mal in dieser schönen Welt. Warum sollten wir es also eilig mit dem Alter haben. Das kommt bestimmt noch früh genug.“

Die Königin sah auf den Tisch und zeigte mit einer Gänsefeder auf die vielen Briefe und Berichte, die vor ihr lagen. „Das alles sind Schriftstücke, die ich von Königen und Fürsten bekomme. Manche sind auch von Kaufleuten und Handwerkern. Sie alle berichten mir, was sich in dieser Welt zugetragen hat. Krieg, Frieden, Glück und unsägliches Leid sind da oft eng beisammen. Was dem einen Kaufmann Wohlstand bringt, das lässt den anderen Kaufmann arm werden. Viele möchten einen guten Rat von mir, oder sogar dringende Hilfe.“ Theodora sah dem Kobold in die Augen und sprach weiter. „Doch jetzt brauche ich selbst einen guten Rat und dringende Hilfe. Verstehst du das, Vinus?“

Der Kobold holte tief Luft und zog ein Bündel aus seiner Manteltasche. Er wickelte es aus und der Becher des Schöpfers kam zum Vorschein. Vorsichtig stellte er ihn auf den Tisch. „Als ich vor langer Zeit von Euch ging, Königin Theodora, da wollte ich unbedingt der Wächter dieses edlen Gefäßes sein. Ich wollte ihn beschützen und dachte, wenn ich ihn hätte und nicht ihr, dann wäre Eure Macht nicht so groß und ihr könntet sie dann auch nicht falsch gebrauchen. Doch nun hat sich der Wein, der immer im Becher war, in Blut verwandelt. Ich bin also zu Euch geeilt, weil auch ich Rat und Hilfe suche.“

Die Königin sah in den Becher und erschrak. „Seit der Zeit der ersten Feen ist dieser Becher in unserer Welt. Er hat dem durstigen Wanderer immer Wein gespendet, so wie der Feenbecher Wasser aus den heiligen Quellen unserer Grotte gibt. Wir Feen konnten früher die Wege des Schicksals genau vorherbestimmen, doch die Zeit der Orakel ist vorbei. Jetzt sind wir auf die Hilfe von weißen Elfen und Riesen angewiesen und wir können unsere Stadt nicht mehr selbst schützen. Wenn du mir den Becher des Schöpfers überlässt und ich ihn mit der Altartafel vereinen kann, wird sich meine Kraft so stark vermehren, dass ich wieder die Wege des Schicksals erkennen kann. Dann werde ich nicht nur eine Feenkönigin sein, dann bin ich viel mehr.“

Sie sah den Kobold eindringlich an. „Verstehst du es? Ich werde wieder meine alten Kräfte haben und ein Orakel sein. Doch da ich es noch nicht bin, vermag ich dir auch nicht zu sagen, was den Wein des Bechers in Blut verwandelt hat. Es muss eine dunkle Macht dahinter stecken.“

Vinus nickte bedächtig. „Wenn Ihr das Ritual des Schöpfers vollzogen habt und sich der Becher von selbst auf die Tafel stellt und wenn er wieder Wein von sich gibt, dann wird die alte Kraft der Feen zu Euch zurückkehren. Doch vorher habe ich noch eine Frage. Was war das vorhin für ein seltsamer Urteilsspruch?“

Die Königin verzog das Gesicht, als hätte sie in etwas sehr saures gebissen. „Das war nichts weiter. Der Fürst und ich, na ja, wir haben da so eine kleine Meinungsverschiedenheit. Er ist der Anführer der Kriegergilde und der Wachen. Das bedeutet, dass er eigentlich auch als Richter die Urteile über die Verbrecher fällt. In letzter Zeit haben wir uns ein wenig gestritten. Aber ich halte ihn trotzdem für einen treuen Freund und vertraue ihm.“

Vinus stand auf und sah zum Fenster. Es wurde langsam hell und er hatte seine Aufgabe erfüllt. Das war sogar schneller geschehen, als er es wollte. Sein Blick wanderte zum Becher auf dem Tisch und er spürte, dass es ein endgültiger Abschied von ihm war. „Königin Theodora, Ihr könnt den Becher behalten. Ich überlasse ihn Euch. Hoffentlich gehen Eure Wünsche in Erfüllung.“

Mit einem gütigen Lächeln verabschiedete sich die Königin von dem Kobold. „Mein lieber Vinus, du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde gut auf den Becher achten. Das verspreche ich dir. Bleib in der Stadt, solange du willst. Ich lasse dir im Tempel ein Zimmer herrichten. In einigen Tagen ist Vollmond. Dann können wir das Ritual vollziehen und du wirst sehen, dass es nichts gibt, was dir Sorgen bereiten könnte.“

Vinus dankte der Königin für ihre Worte, doch ein kleiner Zweifel blieb zurück.