Loe raamatut: «Die Tränen haben nicht das letzte Wort»
Josef Dirnbeck
Die Tränen
haben nicht das
letzte Wort
Wege durch die Trauer
2014
© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlaggestaltung: stadthaus 38, Innsbruck
Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag
Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien
ISBN 978-3-7022-3400-3 (gedrucktes Buch)
ISBN 978-3-7022-3401-0 (E-Book)
E-Mail: buchverlag@tyrolia.at
Internet: www.tyrolia-verlag.at
INHALT
ES VERSCHLÄGT EINEM DIE SPRACHE
Vom freudigen Ereignis zur Tragödie
Plötzlicher Kindstod
Und jetzt?
Die Frage nach dem Sinn
Gibt es eine Antwort?
NICHTS IST MEHR SO, WIE ES WAR
Du fehlst mir
Was ein Trauernder durchmacht
Sind Gläubige besser dran?
Das Leid fordert den Glauben heraus
Glauben mit geöffneten Augen
Trauern ist menschlich
Lass den Kelch an mir vorübergehen
WIE KANN MAN TRÖSTEN?
Ein Schicksalsschlag in Raten
Selig sind die Trauernden
Trost hier und jetzt
Hilfe bei der Trauerarbeit
Die Heilkraft der Zeit
ES GIBT EIN LEBEN NACH DER TRAUER
Wenn Trauern krank macht
Verunsicherung in Thessaloniki
Die Witwe von Ephesus
Es gibt ein Leben nach der Trauer
Die Liebe ist stärker als der Tod
JEMAND HAT ZU MIR GESPROCHEN
Selbstmord im Morgengrauen
Das Geheimnis des Tröstens
Was Trost spenden kann
Der Papst und der Arbeiter
Der untröstliche Vater
Eine schwere Kränkung
Das Glück und das Unglück
Trauere hoffend
ES VERSCHLÄGT
EINEM DIE SPRACHE
Am Heiligen Abend werden im Gottesdienst uralte Worte eines Propheten verlesen, die bei der Geburt im Stall von Bethlehem in Erfüllung gegangen sind: „Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt.“1 Und im Evangelium wird gesagt, dass die Freude über die Geburt dieses Kindes „allem Volk“ zuteil werden soll.2 Kurze Zeit später sind allerdings ganz andere Töne zu hören.
Am dritten Tag nach Weihnachten steht das Gedächtnis der „Unschuldigen Kinder“ im Kalender. Da werden wiederum uralte Worte verlesen, die ein Prophet aus dem Alten Testament gesprochen hat und die ebenfalls im Zusammenhang mit der Geburt des Jesuskindes in Erfüllung gegangen sind. Aber von der großartig angekündigten Freude ist nichts mehr zu spüren.
Vom freudigen Ereignis zur Tragödie
Das Evangelium erzählt die schockierende Geschichte von einem König namens Herodes, der von Sterndeutern aus dem Osten Besuch bekommt. Als er erfährt, dass sich diese Leute in sein Herrschaftsgebiet begeben haben, um hier ein Kind zu finden, dem sie als neugeborenem König der Juden huldigen möchten, da versetzt ihn diese Information dermaßen in Panik, dass er blindwütig ganze Geburtsjahrgänge von Kleinkindern in Bethlehem und Umgebung ausrotten lässt, und am Ende des Berichtes heißt es: „Damals erfüllte sich, was durch den Propheten Jeremia gesagt worden ist: Ein Geschrei war in Rama zu hören, lautes Weinen und Klagen: Rahel weinte um ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen.“3
Wie man sieht, ist es auch in der Weihnachtszeit, die so gerne als „fröhlich“ und „selig“ besungen wird, nicht anders als sonst im Leben: Geburt und Tod liegen nahe beisammen. Es begegnen uns Mütter, die eben erst unter Schmerzen ihre Kinder geboren haben und die diese zarten jungen Wesen, an denen ihr Herz hängt, schon bald darauf – wiederum unter Schmerzen, freilich unter ganz anderen und heftigeren Schmerzen – zu Grabe tragen müssen.
Das Wort von der Rahel, die sich nicht trösten lassen will, ist zur sprichwörtlichen Redewendung geworden. Frauen, denen es so geht, wie es der jüdischen Stammmutter gegangen ist, hat es immer wieder gegeben. Mütter, die um ihre Kinder weinen und sich nicht trösten lassen, kann man auch heute noch antreffen. Zum Beispiel auf einem katholischen Friedhof.
Ein kleiner Leichenzug bewegt sich zu einem kleinen Grab. Auch der Sarg ist klein. In ihm liegt ein Kind. Es hat nur acht Monate gelebt. „Plötzlicher Kindstod“, lautet die Diagnose.
Plötzlicher Kindstod
Die junge Frau, die hinter dem Sarg geht, ist untröstlich. Sie kann und will nicht begreifen, dass sie ihr Kind nun für immer und ewig hergeben soll. Sie fragt sich: „Warum musste dieses Kind sterben? Wie konnte Gott das zulassen?“ Und sie stellt die Frage: „Was ist das für ein Gott, der so etwas zulässt?“
Die trauernde Mutter, die hinter dem kleinen Sarg geht, hat sich ein besonderes Ritual ausgedacht, um sich von ihrem toten Kind zu verabschieden. Sie hat die Kleider und die Spielsachen des Kleinen auf ein Kissen gelegt und trägt sie vor sich her, um sie ihm mit ins Grab zu geben. Alle, die es miterleben, sind tief erschüttert. Man kann sich kaum vorstellen, dass das Leid, das diese junge Frau durchmacht, noch zu steigern ist. Und doch! Der Pfarrer bringt es fertig. Der Geistliche, der das Begräbnis hält, sorgt dafür, dass die Frau vor dem kleinen Sarg noch heftiger zu weinen beginnt.
Der Priester handelt keineswegs in böser Absicht. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist ihm in diesem Moment einfach eine Fehlleistung unterlaufen, ein Versprecher, wie er jedem einmal passieren kann. Oder aber er war nicht richtig informiert worden und hatte sich etwas Falsches auf seinem Zettel notiert. Er ahnt gar nicht, was er mit seinen Worten anrichten wird. Er verkündet nämlich der trauernden Gemeinde, dass das Kind, das heute begraben wird, „leider nur acht Jahre“ gelebt hat.
Acht Jahre statt acht Monate – dieses Wort fährt der Mutter wie ein Schwert durch die Seele. „Ja, wenn der kleine Michael wenigstens acht Jahre leben hätte dürfen“, denkt sie bitter, „das wäre ein Trost!“ Aber nicht einmal ein Jahr war ihm gegönnt. Schon nach acht Monaten war es mit ihm zu Ende. Und wiederum erfüllt sich das uralte Wort des Propheten: Eine Mutter weint um ihr Kind und will sich nicht trösten lassen.
Mit der Trauer sind nicht nur Mütter vertraut. Mit diesem Problem haben es alle Menschen zu tun. Ausnahmslos alle. Keiner kann sich ihm entziehen. Früher oder später ist jeder damit konfrontiert. Jeden Augenblick kann es aktuell werden. Von heute auf morgen kann es mich treffen. Sei es in der Form, dass ich selber der Trauernde bin und den Verlust eines Menschen zu beklagen habe, der mir viel bedeutet hat. Oder sei es, dass ein Mensch, der mir nahesteht, einen solchen Verlust erlitten hat, und ich nun gefordert bin, ihn in seiner Trauer zu begleiten, ihm beizustehen, ihm zu helfen, so gut es geht – falls es überhaupt geht.
Oft erlebt man in solchen Momenten eine große Hilflosigkeit. Man möchte gern helfen, fühlt sich aber selber genauso hilflos wie die Person, der man helfen will. Man weiß nicht, was man sagen soll. Es verschlägt einem die Sprache. Es bleibt einem im wahrsten Sinne des Wortes „die Spucke weg“.
Was sagt man zu einem Menschen, der einen tragischen Schicksalsschlag erlitten hat? Womit kann man ihn trösten? Ist es überhaupt möglich, mit Worten Trost zu spenden?
Das waren nur einige der Fragen, die Martin Gutl und mich beschäftigt haben, als wir seinerzeit darangegangen sind, gemeinsame Texte zu schreiben. Gutl war eben erst Studentenseelsorger geworden, und ich – der um sechs Jahre Jüngere – befand mich in der Schlussphase meines Studiums, da lernten wir einander kennen. Bald stellte sich heraus, dass wir etwas Bestimmtes gemeinsam hatten: Jeder von uns hatte begonnen, Texte ähnlicher Art über Themen ähnlicher Art zu schreiben – und so kamen wir auf die Idee, wir sollten versuchen, ein Buch miteinander zu schreiben.
Und jetzt?
Einer der ersten Texte, die auf diese Weise entstanden sind, bezog sich auf einen konkreten Fall – auf den plötzlichen Tod einer jungen Frau.
Jung war sie.
Vital war sie.
Intelligent war sie.
Tolerant war sie.
Hilfsbereit war sie.
Lehrerin war sie.
Studentin war sie.
Mutter war sie.
Christin war sie.
In einer großen Kurve
stießen die Autos zusammen.
Nach ein paar Stunden im Spital
war sie tot.
Achtundzwanzig Jahre alt
war sie.
Und jetzt?
Josef Dirnbeck / Martin Gutl4
Martin Gutl hatte die Tote, von der in diesem Text die Rede ist, persönlich gekannt. Er erzählte mir von dieser achtundzwanzig Jahre alten Familienmutter, die bereits im Berufsleben stand und nun auch noch ein Studium angefangen hatte. Aber jetzt war ihr Leben plötzlich zu Ende, weil sie das Opfer eines Verkehrsunfalls wurde und ihren schweren Verletzungen erlag, nachdem man sie aus dem zerbeulten Autowrack geborgen und ins Krankenhaus verfrachtet hatte. Gutl war tief erschüttert. „Es ist schrecklich, wenn du so etwas erlebst“, sagte er, „wenn du sehen musst, wie ein viel versprechendes Leben mit einem Schlag ausgelöscht worden ist.“
Nun ist es ja keineswegs so, dass solche Geschichten eine Seltenheit wären oder dass uns Vorfälle dieser Art immer im gleichen Ausmaß nahegehen würden. Tag für Tag sterben Menschen, die Opfer von Unfällen geworden sind – und nicht jedes Mal reagieren wir mit gleicher Betroffenheit. Außerdem gibt es unzählige Fälle, die weitaus tragischer und spektakulärer verlaufen. Warum ging uns dieser Unfalltod damals so sehr unter die Haut?
In erster Linie natürlich wegen der persönlichen Bekanntschaft, die zwischen dem Studentenseelsorger und der tödlich Verunglückten bestand. Hinzu kam, dass wir selber in jener Zeit ebenfalls noch so jung waren wie die Verstorbene oder – wie in meinem Fall – noch nicht einmal so alt. Der Gedanke lag also nahe, dass wir uns sagten: Das, was ihr passiert ist, hätte genauso gut jedem von uns passieren können.
Doch auch solche Überlegungen sind nichts Außergewöhnliches. Eigentlich denkt man so etwas in solchen Situationen ganz automatisch. Der springende Punkt war, dass es hier etwas gab, das uns theologisch herausforderte.
Die Frage nach dem Sinn
Bei diesem Verkehrsunfall war eine offenbar besonders charismatische Person ums Leben gekommen. Eine Frau, die ein engagiertes Mitglied in ihrer Pfarrgemeinde gewesen war und die immerzu vor neuen Ideen sprühte. Eine Aktivistin, die von den Idealen des Zweiten Vatikanischen Konzils beseelt war und die bereits in jungen Jahren sehr viel Gutes für die Kirche gewirkt hatte. „Laienapostolat, wie man es sich als Priester nicht besser wünschen kann“, sagte Gutl.
Und diese Frau war nun „vom irdischen Leben in die ewige Heimat abberufen“ worden. So stand es auf der Traueranzeige geschrieben. Das provozierte die Frage, wie um alles in der Welt der liebe Gott auf die Idee gekommen sein mochte, ausgerechnet ein Talent wie dieses „abzuberufen“ – eine so mustergültige Gläubige, die er doch erst vor kurzer Zeit dazu berufen hatte, für ihn etwas zu tun, und zwar mit großem Erfolg.
Diese Tote, die nun auf dem Friedhof ruhte, hätte gut und gern noch ein paar Jahrzehnte lang segensreich in dieser Welt wirken können, um – biblisch gesprochen – am Aufbau des Reiches Gottes mitzuhelfen. Welchen tieferen Sinn sollte es haben, dass Gott gerade jemanden, der so hoch motiviert war, kurzerhand aus dem Verkehr zog?
„Kein Firmenchef, dem am Wohl seines Unternehmens etwas liegt, würde so etwas tun“, sagte Martin Gutl. „Wenn er schon gezwungen wäre, Personal zu entlassen, dann würde er doch nicht ausgerechnet bei seinen besten Mitarbeitern anfangen. Da wird man doch fragen dürfen, ja vielleicht sogar fragen müssen: Was soll das?“
Der Text, den wir damals aus gegebenem Anlass geschrieben haben und der dann später in unserem ersten gemeinsamen Buch abgedruckt worden ist, umfasst nur wenige Zeilen. Aber es hat lange gedauert, bis das Manuskript fertig war. Wir haben eine respektable Menge an Papier verbraucht. Immer wieder wurde ein neues Blatt in die Schreibmaschine gezogen und munter drauflosgehämmert. Wir haben nicht gezählt, wie viele Fassungen wir geschrieben und wieder verworfen haben. Manche davon waren drei oder vier Seiten lang. Dann wurde wieder gekürzt, gestrichen, komplett neu begonnen. Nur der Anfang blieb gleich – die Schilderung des Vorfalls, der so war, wie er war. Daran gab es nichts zu rütteln. Aber was sollte man zu diesem Unglücksfall sagen? Was waren die geeigneten Worte, um dazu Stellung zu nehmen?
Nicht, dass uns nichts eingefallen wäre. Im Gegenteil, es ist uns viel zu viel eingefallen! Wir haben uns eine halbe Nacht lang die Köpfe heißgeredet und die einschlägigen Erklärungsmuster durchexerziert.
Gibt es eine Antwort?
Es herrschte wahrlich kein Mangel an Worten, die man angesichts dieses Todesfalls hätte sagen können. Wir haben die Antworten Revue passieren lassen, die in den Vorlesungen an den theologischen Fakultäten zu hören sind – die Argumente der so genannten „Theodizee“, also jenes Spezialgebietes innerhalb der Theologie, in welchem es um die „Rechtfertigung Gottes in Betreff der Übel in der Welt“ geht.
Wir haben bei Shakespeare nachgeschlagen, bei Seneca und Albert Camus, und wir haben auch noch viele andere Dichter und Denker zu Rate gezogen. Überall haben wir wunderschön formulierte Aussagen gefunden. Selbstverständlich sind wir auch in der Bibel und in den Heiligen Schriften anderer Religionen fündig geworden. Aber zu guter Letzt haben wir alles wieder verworfen.
Je mehr wir uns bemühten, eine Antwort zu finden, die die Frage nach dem Sinn eines solchen Todes schlüssig und zufriedenstellend beantworten würde, umso deutlicher erkannten wir: Es gibt keine solche Antwort.
Es lässt sich keine Antwort finden, die nicht sofort wieder neue Fragen provozieren würde. Es gibt nicht „die“ Antwort, die man getrost schwarz auf weiß nach Hause tragen – oder eben in ein Buch hineinschreiben – könnte. Es gibt nur Antworten – in der Mehrzahl. Eine Vielzahl unterschiedlicher Antworten, die zwar alle durchaus sinnvolle und einsichtige Erklärungen zu liefern vermögen, allerdings darf keine beanspruchen, die einzig mögliche, richtige und letztgültige zu sein. Die Frage ist lediglich: Womit begnüge ich mich? Mit welcher Antwort gebe ich mich zufrieden?
Genügt es mir zum Beispiel, wenn ich die Auskunft erhalte: „Es ist bestimmt in Gottes Rat, dass man vom Liebsten, das man hat, muss scheiden?“5Oder möchte ich dann schon noch ein wenig genauer wissen, von welchen Kriterien sich der Allmächtige bei diesem Ratschluss leiten ließ?
Ein bedächtiger Prediger könnte mein bohrendes Nachfragen vielleicht mit folgendem Hinweis beantworten: „Infolge seiner Allwissenheit ist Gott imstande, alles vorauszusehen, was mit einem Menschen geschehen wird. So weiß er zum Beispiel auch, was für ein bitteres Schicksal ihm erspart bleibt, falls er zu einem bestimmten Zeitpunkt eben nicht mehr lebt. Und wenn Gott dann in Würdigung der Verdienste unseres lieben Verstorbenen und in Kenntnis aller Dinge, die uns verborgen bleiben müssen, die Entscheidung getroffen hat, dass dieser Mensch eben jetzt und in dieser Weise ums Leben gekommen ist, dann können wir sicher sein, dass dies das Beste für ihn war. Mit kurzsichtigen Augen betrachtet mag uns dieser Tod als ein grausames Schicksal erscheinen, während es sich in Wahrheit um ein freundliches Entgegenkommen Gottes handelt, so dass man – analog zur Rede von der ‚Gnade der späten Geburt‘ – durchaus von einer ‚Gnade des frühen Todes‘ sprechen könnte.“
Aber wiederum fragt man sich, ob dies eine Antwort wäre, mit der ich mich zufriedengeben könnte. Wobei noch lange nicht gesagt ist, dass eine Antwort, in der vielleicht meine Vernunft ihr Genüge finden könnte, auch die Antwort sein muss, mit der sich mein Gemüt zufriedengeben würde.
Solche Gedankengänge verfolgten Martin Gutl und ich damals, als wir den Text mit dem Titel „Jung war sie“ verfassten – und am Ende entschieden wir, den Text so zu beenden, wie wir ihn beendet haben. Nämlich mit der Frage: „Und jetzt?“
Es hat Leser gegeben, die diesen Text als besonders gut gelungen bezeichnet haben, weil er so lapidar formuliert ist. Sie fanden es gut, dass wir nichts weiter getan hatten, als umrisshaft eine kleine Charakterskizze von einer jungen Frau zu entwerfen, um dann mit Worten nüchternster Art ihren plötzlichen und unerwarteten Tod festzustellen. Sie begrüßten es, dass in diesem Text nicht so getan wird, als wüsste man Bescheid und könnte ganz genau sagen, „was jetzt ist“ – mit dieser Toten, mit ihren Hinterbliebenen und mit der Lücke, die sie hinterlassen hat.
Allerdings hat es auch Leser gegeben, die nicht so begeistert waren, sondern diesen Text als besonders schwach empfunden haben – und die uns deshalb temperamentvoll kritisierten. Man sagte zum Beispiel: „Euer Buch ist ja gar nicht so schlecht, aber zu dieser Frau mit dem Verkehrsunfall ist euch nicht viel eingefallen! Da habt ihr es euch schon sehr leicht gemacht! Ihr habt einfach die Frage ‚Und jetzt?‘ hingeschrieben, statt dass ihr wenigstens versucht hättet, einen Fingerzeig für eine richtungsweisende Antwort zu geben.“
Diejenigen, die den Text als positiv empfunden haben, lobten uns hingegen genau deswegen, weil wir uns darauf beschränkt hatten, einfach die Frage hinzuschreiben, die sich angesichts dieses Todes stellt. Das sei doch die Stärke dieses Textes, sagten sie, dass er keine Antwort versucht, sondern die Frage offenhält.
Die Frage im Text weist auf die Frage hin, die die Wirklichkeit stellt – und das ist eine Frage, der man in keiner Weise ausweichen kann, schon gar nicht dadurch, dass man voreilig irgendeine Antwort gibt. Vor allem, wenn man diese Antwort jemand anderem gibt. Zum Beispiel demjenigen, der um diesen Menschen trauert.
Natürlich kann man alles Mögliche sagen und irgendetwas Passendes aus dem Repertoire frommer Sprüche hervorholen. Nicht irgendeinen Schwachsinn, nichts Falsches, Verbogenes und Verlogenes, sondern etwas Hieb- und Stichfestes. Etwas, das dem Glauben entspricht. Etwas, das unanfechtbar richtig ist. Aber ob dieses an und für sich Richtige dann im konkreten Fall tatsächlich das Richtige wäre, das steht auf einem anderen Blatt.
Wir hatten es ja versucht. Unser Papierkorb war voll mit allen möglichen Worten, die man in einer solchen Situation sagen kann – mit christlichen und allgemein menschlichen Sentenzen, mit durchaus sinnvollen und richtigen Argumentationen. Eine Formulierung lautete zum Beispiel: „Es ist trostvoll zu wissen, dass diese Frau nun in Gottes Hand ist. Sie ist bei Gott angekommen.“ Das ist eine durchaus respektable Aussage, die fest im Boden biblischer Frömmigkeit verwurzelt ist. Aber woher will ich wissen, ob diese Worte so ankommen, wie ich sie gemeint habe, und für den, der damit getröstet werden soll, wirklich ein Trost sind?
Ich selber mag noch so sehr davon überzeugt sein, dass der Gedanke, einen Verstorbenen „in Gottes Hand“ zu wissen, überaus tröstlich ist. Aber was nützt es, dass ich so denke und empfinde? Für meinen Gesprächspartner kann die gleiche Botschaft eine Drohbotschaft sein, die ihn wie ein Schlag ins Gesicht trifft – jedenfalls jetzt, in diesem Moment, in dem er trauert und mit seinem Schicksal hadert.
Wenn ich mir vorstelle, ich wäre eine Mutter, die sich vor Schmerz gar nicht fassen kann, weil ihr durch den Tod ihr Kind entrissen wurde, und dann käme einer und spräche zu mir: „Kopf hoch, gute Frau! Seien Sie getrost, Ihr Kind ist in Gottes Hand. Sie wissen doch: Wie tief wir auch fallen, wir können nicht tiefer fallen als in Gottes Hände …“ – ich wäre nicht sehr erbaut. Die Botschaft, die bei mir ankäme, wäre so ziemlich das Gegenteil von dem, was man mir hatte vermitteln wollen. Der Zuspruch würde mich nicht beruhigen, sondern noch rebellischer machen. Ich würde mir sagen: „Was soll das? Ich ringe gerade mit der Frage, wie es sein kann, dass der gütige Vater im Himmel so grausam ist und mir so etwas antut – und dann kommt einer und mutet mir zu, dass ich auch noch dankbar sein soll für die Grausamkeit!“
Ich rede nicht wie ein Blinder von der Farbe. Ich brauche mich nur an meine Mutter zu erinnern. Als ihr ältester Sohn mit fünfundzwanzig Jahren an einer heimtückischen Krankheit starb, da haben wohlmeinende Leute zu ihr gesagt: „Er war halt früh vollendet.“ Auch zu mir haben sie es gesagt: „Es ist schade um deinen Bruder, aber der liebe Gott wird schon wissen, warum er ihn zu sich genommen hat. Er war halt früh vollendet.“
Sie meinten es als Trost. Aber – leider Gottes – es tröstete uns nicht. Es entsprach absolut nicht unserer Gefühlslage. Wir hätten durchaus nichts dagegen gehabt, wenn der Tote, um den wir trauerten, etwas später vollendet gewesen wäre.
1Jesaja 9,5.
2Lukas 2,10.
3Matthäus 2,17–18.
4Dirnbeck, Josef / Gutl, Martin: Ich begann zu beten. Meditationstexte. Styria-Verlag, Graz 1973. S. 67.
5Aus einem volkstümlichen Lied nach einem Text von Ernst von Feuchtersleben.
Tasuta katkend on lõppenud.