Loe raamatut: «Mann werden – Mann sein»
Josef van Scharrel
Mann werden –
Mann sein
Vier-Türme-Verlag
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Printausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2020
ISBN 978-3-7365-0301-4
E-Book-Ausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2018
ISBN 978-3-7365-0318-2
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Erstellung: Dr. Matthias E. Gahr
Lektorat: marlene Fritch
Covergestaltung: wunderlichundweigand
Covermotiv: everst/shutterstock.com
www.vier-tuerme-verlag.de
Inhalt
Vorwort
Väter
Eine prägende Beziehung
Der Segen der Väter
Der große Jakobssegen
Wo sind die Väter heute?
Patriarchen und Patriarchat
Eine »unheilige Gesellschaftsform« – für Männer und Frauen
Rollenbilder
»Der Mann der Zukunft muss ein Liebender sein«
Die Archetypen und die Heldenreise
Der König
Der Krieger
Der Liebhaber
Der Magier
Die Heldenreise
Abschied von alten »Manns-Bildern«
Männer weinen nicht? – Zeig deine Wunden!
Abschied vom Krieger?
Nicht mehr kämpfen müssen
Initiation – eine vergessene Form der Mannwerdung
Der Steinkreis – heiliger Boden
Visionssuche und Walderfahrungen
Sich aushalten, statt nur zu überleben
Neuland!
Leben in Fülle
Post Skriptum, oder: Was noch zu sagen ist
Danke!
Literatur
Vorwort
Noch ein Buch über Männer? Ist nicht schon alles gesagt, was es dazu zu sagen gibt? Ich glaube, dass viele Männer heute immer noch auf der Suche nach ihrer Identität sind. Und dass man manche Dinge deshalb gar nicht oft genug sagen kann, weil sie wichtig sind, vielleicht sogar lebenswichtig. Denn die Frage, die sich noch immer viele stellen, ist: Wie kann ich ein »richtiger Mann« sein? Daraus ergibt sich gleich die nächste Frage, auf die die Antwort so schwerfällt: Was ist denn ein »richtiger Mann«? Und wer bestimmt, was ein »richtiger« Mann ist?
Mit diesem Buch möchte ich Männern Mut machen, einfach Mann zu sein, ohne irgendeinem Rollenbild oder irgendeiner Erwartung nachzulaufen oder gerecht werden zu wollen. Ich möchte Mut machen, dass sich Männer mit all ihren Gefühlen, den Ängsten und Freuden, mit ihren Stärken und Fehlern zeigen dürfen. Ich möchte dazu aufrufen, dass wir uns von all dem befreien, was wir als Männer »eigentlich« sein sollen, und so das Leben in Fülle leben können. Ich möchte die Freude am Mannsein entfachen und aufzeigen, dass wir mehr sind als »ein Fehler der Natur«, wie es einmal in einem STERN-Artikel zu lesen war. Wir sind aber auch mehr als das, was 7000 Jahre patriarchale Strukturen aus uns immer wieder zu machen versucht haben. Ich möchte Mut machen, dass Männer sich trauen, als Männer zu leben. Dieses Buch will also nicht weniger, als sich auf die Suche nach männlicher Identität und Spiritualität zu machen.
Bis vor wenigen Jahrzehnten existierte in den westlich-europäisch geprägten Ländern noch ein relativ klares Männerbild. Eigenschaften wie Dominanz, Ausdruck, Stärke, verbunden mit einem entsprechenden Auftreten, waren akzeptable Qualitäten für einen »richtigen« Mann. Heute lässt sich ein charakteristisches Männerbild nicht mehr so einfach entwerfen. Männer zeigen heute beispielsweise selbstverständlicher Gefühle und »Schwächen« – und das führt nicht gleich zu einem Knick in ihrer Männlichkeit, weder in ihrem eigenen noch in fremdem Ansehen.
Die traditionelle Männerrolle wird seit Längerem auch in der öffentlichen Diskussion hinterfragt, ist vielleicht sogar lädiert. In Bildung und Beruf droht Jungen und Männern der Abstieg, sie sind oft die Verlierer im schulischen Bereich, aber auch im universitären Umfeld und Ausbildungsberufen. Um die Gesundheit vieler Männer ist es ebenfalls nicht gut bestellt. Um ihrer Rolle oder ihren eigenen und fremden Ansprüchen zu genügen, gehen sie über ihre eigenen Grenzen, was häufig Burnout, Herzinfarkte oder Depressionen zur Folge hat. Vor diesem Hintergrund soll dieses Buch Männern die Möglichkeit geben, über sich, ihr Verhältnis zum Mannsein und über ihr Rollenverständnis nachzudenken.
Angesprochen sind dabei Männer, die auf der Suche nach Sinn sind – junge Männer auf dem Weg zu ihrer Initiation (Mannwerdung) oder ihrer Berufsfindung ebenso wie Männer in der zweiten Lebenshälfte, die noch einmal vor der Frage stehen, wie es nun für sie weitergehen kann – und natürlich auch ältere Männer auf dem Weg in den Lebensabend.
Väter
Eine prägende Beziehung
Für die meisten Menschen ist der »erste Mann im Leben« der (leibliche) Vater. Er hat als solcher grundlegenden Einfluss auf uns und unsere Persönlichkeit, weil er uns vorlebt, wie wir mit der Welt, mit anderen Menschen, mit unserem eigenen Leben umgehen können. Er ist unser erstes Vorbild, wie wir die Welt betrachten und begreifen, und wahrscheinlich wird es keine andere Bindung – außer die zur Mutter – geben, die für uns so prägend ist, was unser Selbstbild als Mann, aber auch, was generell unser Männerbild angeht.
»Warum nur bleibt ein Schweigen zwischen Vater und Sohn«, heißt es im Refrain eines Liedes von Udo Jürgens – das ist die Rückseite dieser ersten Prägung, die viele Männer ebenfalls erfahren haben. Es ist diese Ambivalenz, die das Verhältnis zu dem Mann, der mir das Leben ermöglicht hat und dafür gesorgt hat, dass ich ein Zuhause habe und auch sonst mit allem Nötigen versorgt wurde, so schwierig und gleichzeitig interessant macht.
In den Männerkursen, die ich in den letzten Jahren gegeben habe, ist das Vaterthema immer wieder aufgekommen. Es ist die Spannung, die viele spüren und in die sie gestellt sind: Einerseits möchten sie sich vom Vater, von der Vaterfigur, lösen, und gleichzeitig wollen sie ihm noch immer gefallen, seine Erwartungen erfüllen. Dahinter steht die Suche nach dem Vater, der mich versteht und zu dem ich aufblicken kann, der mich andererseits aber auch in die Freiheit entlässt, ohne sich von mir zu lösen, und von dem ich mich lösen kann, ohne dass ich ihn verleugnen muss.
Auch für Henri Nouwen, den bekannten niederländischen Priester und Psychologen, war die Auseinandersetzung mit der Vaterfigur ein Thema, das ihn immer wieder beschäftigte. Für ihn steht hinter dieser Auseinandersetzung aber noch etwas anderes Wesentliches, das hier seinen Ausdruck findet. Er sagt: »Hör auf, allen gefallen zu wollen.« Dahinter steckt der unbewusste Wunsch beinahe jedes Mannes, dass der Vater – egal, wie alt man selbst ist – stolz sein kann auf seinen Sohn. Henri Nouwen meint: »Hör auf, dich mit ihren Augen zu sehen. Denn solange du dich erinnern kannst, hast du alles getan, um zu gefallen; hast du deine Identität vom Urteil anderer abhängig gemacht, was du nicht nur negativ zu sehen brauchst. Du wolltest dein Herz anderen geben und hast es leicht und gern getan. Aber jetzt kommt es darauf an, diese vielen selbstgemachten Stützen loszulassen und darauf zu vertrauen, dass Gott für dich genug ist. Du musst aufhören, anderen gefallen zu wollen, und deine Identität als freies Selbst in Anspruch nehmen« (Die innere Stimme der Liebe, S. 21).
Die Suche nach dem Vater ist eine der großen Aufgaben des Mannes und der Mannwerdung. In vielen Märchen und Weisheitsgeschichten finden wir dieses Thema. Sie erzählen uns von Söhnen, die auszogen und Heldentaten vollbrachten, um das Leben des Vaters zu retten oder das Königsreich des Vaters zu befreien, wie wir das zum Beispiel in den Märchen »Der goldene Vogel«, »Eisenhans« oder »Das Wasser des Lebens« von den Brüdern Grimm lesen können. Und auch in der Bibel finden wir das Thema wieder, denn beispielsweise das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist auch ein Gleichnis vom wiedergefundenen Vater.
Der deutsche Theologe und Autor Wilhelm Bruners hat sich in seinem Buch »Wie Jesus glauben lernte« mit diesem Thema in Bezug auf die Geschichte Jesu auseinandergesetzt. Bei Exerzitien, die er im Kloster Nütschau hielt, deutet er seine Taufe als die Suche nach seinem Vater. Hier hört er die Stimme aus dem Himmel, die ihm sagt: »Dies ist mein geliebter Sohn, an ihm habe ich Gefallen gefunden.« In den Evangelien wird Josef immer als der Adoptivvater Jesu dargestellt, also nicht als sein leiblicher Vater. In einem kleinen Dorf wie Nazaret bleibt so etwas nicht geheim. Man wusste also davon, dass Jesus keinen »echten« Vater hatte, und selbst wenn die Erwachsenen hinter vorgehaltener Hand darüber sprachen, wussten es wahrscheinlich auch die Kinder des Dorfes, die Jesus sicher manchmal »Bastard« gerufen haben. Jesus war also bekannt, dass Josef nicht sein richtiger Vater war. Mit etwa dreizehn Jahren, als er zum ersten Mal mit seinen Eltern zum Pessachfest nach Jerusalem geht, bricht er aus und macht sich auf die Suche nach seinem »richtigen« Vater (Lukas 2,41ff).
Die Eltern finden ihn nach langer Suche im Tempel wieder. Auf die Frage: »Kind, wie konntest du uns das antun?« antwortet Jesus beinahe selbstverständlich: »Wusstet ihr nicht, dass ich im Haus meines Vaters sein muss?« Wir werden hier sozusagen Zeugen der Suche des pubertierenden jungen Mannes nach sich selbst und seinen Wurzeln – und wo sonst kann er diese Wurzeln finden außer im Haus seines Vaters? Jesus geht es hier nicht anders als vielen Jugendlichen, die adoptiert wurden und in diesem Alter anfangen, nach ihren »echten« Vätern und Müttern zu suchen.
Selbst Kinder, die ihren Vater kennen und in einer Familie mit beiden Elternteilen aufgewachsen sind, suchen nach ihrem Vater, weil dies immer auch die Suche nach der eigenen Identität, nach dem Mann als Gegenüber und der eigenen Mannwerdung ist. Eine Frage in den Männerkursen ist daher immer: Wie können wir uns heute auf die Suche nach unseren Vätern machen? Wie können wir über sie sprechen, damit da eben nicht »dieses Schweigen zwischen Vater und Sohn« bleibt, von dem das Lied spricht? Wie können wir dieser wichtigen Figur, die uns auch noch als Söhne mit vierzig, fünfzig und älter beschäftigt und prägt, Raum geben? Wie gelingt es uns, sie aus dem Unbewussten ins Bewusste zu holen und die Erwartungen und Mechanismen zu durchschauen, die uns in Bezug auf den Vater häufig das Leben schwermachen?
Eine erste Übung, die ich oft in den Kursen anbiete, kann meiner Ansicht nach helfen, dem auf die Spur zu kommen. Ich frage die Teilnehmer: Wie würdest du deinen Vater einem Menschen vorstellen, der ihn nicht kennt und auch nicht kennenlernen wird?
Es kann sinnvoll sein, dazu ein Foto des Vaters zu betrachten. Das hilft, ein realistisches Bild von ihm zu zeichnen, eines, das ihn nicht auf einen Sockel stellt, aber auch nicht abwertet, ihn also so zeigt, wie er wirklich war oder ist. Unsere Väter dürfen Schwächen haben, sie müssen nicht perfekt sein – weder »in echt« noch in unserer Vorstellung. Wir dürfen sie mit unseren eigenen Augen sehen, die vielleicht nicht immer wirklich objektiv sind, aber es kann eben auch hilfreich sein, sie einmal mit anderen, fremden Augen anzuschauen.
Ich bitte daher die Männer, zu den Kursen ein solches Foto ihres Vaters mitzubringen. Sie werden an eine Pinnwand geheftet. Und meist sind wir dann schon mitten in der Auseinandersetzung mit diesem »Vaterbild«. Ich gebe den Männern Raum, sich zu erinnern, zu klagen, auch zu beklagen, dankbar zu sein und schließlich auch den Vater zu würdigen. Dann werden die Fotos wieder abgenommen, wozu jeder einzeln nach vorne tritt und mit einem abschließenden Satz, einem Bild oder einer Geste, die er sich zuvor überlegt hat und die für ihn passt, das Bild ablöst.
Dann folgt die Übung: Ich bitte die Teilnehmer, sich zu zweit zusammenzutun, einer in der Rolle des Sohnes, der über den Vater erzählt, der andere in der Rolle des Vaters, der zuhört. Den Schluss bildet immer, dass der Mann in der Rolle des Vaters einen Wunsch an den Sohn formuliert, etwas, das er in der Rolle des Vaters herausgehört hat, spürt, empfindet. Der Sohn antwortet dann: »Ich habe dich gehört und gesehen. Ich danke dir.«
So kann sich der Mann in der Rolle des Sohnes von Erwartungen und Verletzungen, von Zuschreibungen und vielem anderen, was zwischen Vater und Sohn stand, lösen. Dann wird im besten Fall ein Neuanfang in der Beziehung zwischen Vater und Sohn möglich. Oder es kommt zu einem endgültigen Bruch, wobei das Bild des Vaters häufig als das eines »Übervaters« erkannt wird und tatsächlich zerbrochen werden kann, um einem neuen Bild Platz zu machen. Denn die Lösung vom Übervater meint nicht, dass man kein Vaterbild mehr braucht. Diese Stelle wird jedoch von einem »Ersatzvater« übernommen.
Gerade junge Männer in der Pubertät suchen sich oft solche Ersatzväter. Es sind häufig ältere, als weise empfundene Männer, die begleiten und Rat geben können, aber auch beschützen. Diese Figur findet sich ebenfalls häufig in Märchen, aber auch in archetypischen Erzählungen wie der König-Artus-Sage. Hier ist es Merlin, der das alte Bild des Magiers verkörpert und den Krieger auf seinem Heldenweg begleitet. Dieses archetypische Bild des weisen alten Mannes wird jedoch auch in vielen zeitgenössischen Fantasyromanen und -filmen aufgegriffen, wie am Zauberer Gandalf in »Herr der Ringe«, dem Jedi-Ritter Obi-Wan Kenobi in »Star Wars« oder dem Zauberer Albus Dumbledore in »Harry Potter« deutlich wird.
Wenn wir in diesem Zusammenhang wieder auf den Vaterlosen Jesus schauen, so kann dieser Ersatzvater oder »neue Vater« auch Gott selbst sein oder eben eine Figur aus der Geschichte, der Sagenwelt, bei gläubigen Christen auch immer wieder ein Heiliger. Das Suchen nach dem Ersatzvater kann ein schmerzlicher Prozess sein, da der junge Mann dabei feststellen wird, dass auch die neue Vaterfigur Schwächen und Schattenseiten hat.
Sei es nun der Vater, der Magier oder Mentor, das Vorbild aus Geschichte oder Sage oder der Heilige, den wir uns als Mann auf der Suche nach Vorbild und Führung aussuchen, wir werden uns ihm anvertrauen. Was aber noch viel wichtiger ist als das Vertrauen, ist die Zusage des Vaters, dass wir gut sind, wie wir sind, dass er uns nicht nur akzeptiert, sondern liebt – und dass er uns in die Welt entlässt, um unseren eigenen Weg zu finden.
Übung für zu Hause
Nimm dir Zeit, setze dich an einen ungestörten Ort und schreibe einen Brief an deinen Vater. Sage ihm alles, was bisher zwischen euch verschwiegen wurde, du ihm aber eigentlich immer schon sagen wolltest. Da kann es um Verletzungen gehen, die er dir beigebracht hat – oder du ihm. Es kann aber auch eine Liebeserklärung sein. Vielleicht möchtest du ihm auch sagen, was du von ihm gelernt hast, worauf du stolz bist, was du erreicht hast, trotz seiner Zweifel oder gerade weil er dich unterstützt hat. Versuche dabei neutral zu schreiben, wie es ist, ohne etwas auszulassen, aber auch, ohne ihn anzuklagen.
Falls dein Vater schon tot ist, kannst du ihm dann diesen Brief an seinem Grab laut vorlesen. Wenn dir das zu viel oder zu öffentlich ist, suche dir einen Ort in der Natur oder einen anderen Platz, an dem du dich wohlfühlst, und stell dir hier deinen Vater als Zuhörer vor.
Wenn dein Vater noch lebt, kannst du dir überlegen, ob du ihm diesen Brief nicht geben oder schicken oder eben in seinem Beisein vorlesen möchtest. Wenn sich das für dich nicht gut anfühlt, hebe den Brief auf. Vielleicht gibt es einen späteren Zeitpunkt, an dem es für dich passt.
Eine andere Übung: Such dir im Wald einen »Vaterbaum« – ein Baum, der dir irgendwie als Gegenüber erscheint, wenn du ihn siehst, ihn berührst. Geh mit ihm in einen Dialog oder lies ihm deinen Brief vor. (Man kann mit Bäumen sprechen! Und sie geben auf ihrer Art eine Antwort. Versuch es einfach einmal!)
Der Segen der Väter
Spürbar und begreiflich wird dies im väterlichen Segen, der lange Zeit eine wesentliche Rolle im Werden und Vergehen, im Wohl und Wehe von Generationen gespielt hat. Ohne den väterlichen Segen hatte eine Unternehmung oder ein Vorhaben keine Chance, ob es nun um eine Heirat oder eine Berufsausbildung ging oder auch einen Umzug oder einen Hausbau. Dabei verstand man den Segen nicht mehr unbedingt wörtlich, wie dies in biblischen Zeiten wohl der Fall war (dazu gleich mehr), sondern eher als Zusage des Vaters: »Ja, du bist auf dem richtigen Weg, ich unterstütze dich, lebe nun dein eigenes Leben, ich entlasse dich in die Welt.« Wunderschön und einzigartig dargestellt findet sich diese Situation an der Kathedrale von Santiago de Compostela: Auf einem Relief sieht man Gott als Vater segnend hinter Adam stehen, er entlässt ihn aus dem Paradies in die Welt hinein. Es ist hier nicht das Hineingeworfenwerden in eine feindliche Umgebung, ins Chaos des Lebens, wie der biblische Text zu dieser Szene vermuten lässt (Genesis 3,17–20), sondern hier wird das Vertrauen Gottes sichtbar, dass Adam seinen Weg in dieser Welt finden wird.
Ich selbst hatte das große Glück, meinen Vater im Sterben zu begleiten. Zuvor war mein Bild von ihm immer davon geprägt, dass ich ihn als schwachen Mann wahrnahm. Ich glaube im Nachhinein übrigens nicht, dass er es tatsächlich war. In der Sterbebegleitung begegnete mir dann ein ganz anderer: jemand, der mit seinem Lebensweg im Frieden war, obwohl es kein geradliniges Leben war, das er geführt hat. Diese Wahrnehmung und der Segen, den er mir, wenn auch ohne Worte, etwa zwei Stunden vor seinem Tod gegeben hat, waren für mich eine sehr wichtige Erfahrung und sie haben mich mit meinem Mannsein versöhnt.
Dieses Vertrauen der Väter, dass ihre Söhne den Weg gehen, ihren ganz eigenen »Heldenweg« bestreiten und so Mitschöpfer und Mitgestalter der Welt werden, fehlt vielen Männern, die selbst diesen Segen des Vaters nicht erhalten haben. Ihr Weg wird dadurch oft zusätzlich schwierig. Sie müssen wie alle anderen diesen »Kampf« bestreiten, ihren Weg zu finden, haben aber keinen Mentor, keinen »Magier« zu Seite. Niemand zeigt ihnen, wie Merlin es bei Artus tat, wo das Schwert Excalibur zu finden ist, um gegen die feindlichen Mächte anzukämpfen.
Im Alten Testament in der Genesis wird uns Esau als dieser segenslose Sohn gezeigt: »Als Isaak Jakob gesegnet hatte und Jakob gerade von seinem Vater Isaak weggegangen war, kam sein Bruder Esau von der Jagd. Auch er bereitete ein leckeres Mahl, brachte es seinem Vater und sagte zu ihm: Mein Vater richte sich auf und esse von dem Wildbret seines Sohnes, damit deine Lebenskraft mich dann segne! Da fragte ihn sein Vater Isaak: Wer bist du? Er antwortete: Ich bin dein Sohn Esau, dein Erstgeborener. Vor Schrecken überkam ihn ein heftiges Zittern und er fragte: Wer war es denn, der das Wild gejagt und es mir gebracht hat? Ich habe von allem gegessen, bevor du gekommen bist, und ich habe ihn gesegnet; gesegnet wird er auch bleiben. Als Esau die Worte seines Vaters hörte, schrie er heftig auf, aufs Äußerste verbittert, und sagte zu seinem Vater: Segne auch mich, Vater! Er entgegnete: Dein Bruder ist mit List gekommen und hat dir deinen Segen weggenommen. Da sagte Esau: Hat man ihm nicht den Namen Jakob – Betrüger – gegeben? Er hat mich jetzt schon zweimal betrogen: Mein Erstgeburtsrecht hat er mir genommen, jetzt nimmt er mir auch noch den Segen. Dann sagte er: Hast du mir keinen Segen aufgehoben? Isaak antwortete und sagte zu Esau: Siehe, ich habe ihn zum Herrn über dich gemacht und alle seine Brüder habe ich ihm als Knechte gegeben. Auch mit Korn und Most habe ich ihn versorgt. Was kann ich da noch für dich tun, mein Sohn? Da sagte Esau zu seinem Vater: Hattest du denn nur einen einzigen Segen, mein Vater? Segne auch mich, Vater! Und Esau erhob seine Stimme und weinte. Sein Vater Isaak antwortete ihm und sagte ihm: Siehe, fern vom Fett der Erde musst du wohnen, fern vom Tau des Himmels droben. Von deinem Schwert wirst du leben. Deinem Bruder wirst du dienen. Doch reißt du dich los, so schüttelst du ab sein Joch von deinem Nacken« (Genesis 27,30–40).
Es ist eine Art »Nichtsegen« oder »Antisegen«, den Isaak hier ausspricht: »Du wirst nicht …« Auch in unserer Zeit gibt es immer noch viele Söhne, die mit diesem »Nichtsegen« in die Welt entlassen werden. Der Wortlaut ist nur häufig ein anderer. Sätze wie: »Ich bin so enttäuscht von dir« oder »Aus dir wir nie etwas« drücken heute aus, was mit »fern vom Fett der Erde musst du wohnen« gemeint war. Aber Isaak gibt Esau auch die Lösung mit auf den Weg. Er sagt ihm: »Doch reißt du dich los, so schüttelst du ab sein Joch von deinem Nacken.« Er und jeder Sohn, der den Segen des Vaters nicht bekommt kann, kann sich freimachen von dieser Last, die auf ihm liegt. Wir werden weiter unten noch sehen, wie das konkret aussehen kann.
Vielleicht muss er dazu den Vater von seinem Sockel stürzen – und sich selbst darauf stellen. Bei einer Übung im Wald habe ich dazu eine ganz eigene Erfahrung gemacht: In einem Kreis von Bäumen gab es in der Mitte einen nicht sehr hohen Baumstumpf. Ich habe mich darauf gestellt und es fühlte sich an, als ob ich mich so in die Männergestalten meiner Biografie einreihen würde. Der Segen des Vaters allein war nicht mehr ausschlaggebend, ich wusste mich getragen von den vielen Groß- und Urgroßvätern, die vor mir waren.
»Du bist unser geliebter Sohn« – leider hören wir diesen Satz zu selten von unseren Vätern. Und daher bemühen wir uns oft ein Leben lang und nach allen Kräften, ihn von anderen – beispielswiese von unserem Chef, Lehrer oder Trainer – zu hören. Zu oft sind wir Männer dann bereit, unsere eigenen Vorstellungen vom Leben und unsere Sehnsucht nach Freiheit hintanzustellen. Wir lassen uns verbiegen. Wir leben und handeln wie Charlie Chaplin es in seinem Film »Modern Times« zeigt, in der Hoffnung, so die Anerkennung als Mann zu bekommen, nach der wir uns seit unserer Kindheit sehnen. Aus: »Du bist mein geliebter Sohn« wird dann aber: »Du bist ein braver Junge.« Eine Zeitlang mag uns dieser Gedanke und diese Art von Lob guttun, aber aus »braven Jungs« werden keine erwachsenen Männer.
Brave Jungs bleiben zudem immer im Einflussbereich der Mutter, das heißt, sie gelangen nicht zu ihrer eigenen Identität, sondern hängen sozusagen auch im Erwachsenenalter am Rockzipfel der Mutter. In dem Lied »Hänschen klein« in der Textfassung von Ernst Schmid (1891) und Otto Frömmel (1900) wird dies auf eindrucksvolle Weise besungen:
Hänschen klein ging allein
in die weite Welt hinein.
Stock und Hut steht ihm gut,
ist gar wohlgemut.
Aber Mutter weinet sehr,
hat ja nun kein Hänschen mehr.
Da besinnt sich das Kind,
läuft nach Haus geschwind.
»Lieb Mama, ich bin da!«,
ruft das Hänschen hopsasa.
»Ich bin hier, bleib bei dir,
geh nicht fort von hier!«
Da freut sich die Mutter sehr
und das Hänschen noch viel mehr;
denn es ist, wie ihr wisst,
gar so schön bei ihr.
Das »Hänschen«, von dem hier die Rede ist, kann gar nicht seinen Weg in der Welt finden, da es nicht von der Mutter wegkommt, die ihn durch emotionalen Druck (»Aber Mutter weinet sehr«) an sich bindet. Auch wird in dem Text suggeriert, dass es nirgends schöner sei als bei der Mutter. In der Originalfassung des Liedes von Franz Wiedemann geht es noch um das Erwachsenwerden von Hänschen, was durch die Loslösung vom Elternhaus in Gang kommt. »Hänschen« kann zu »Hans« werden:
Hänschen klein geht allein
in die weite Welt hinein,
Stock und Hut steht ihm gut,
ist auch wohlgemut.
Aber Mutter weinet sehr,
hat ja nun kein Hänschen mehr.
Wünsch dir Glück, sagt ihr Blick,
komm nur bald zurück!
Viele Jahr, trüb und klar,
Hänschen in der Fremde war.
Da besinnt sich das Kind,
ziehet heim geschwind.
Doch, nun ist’s kein Hänschen mehr,
nein, ein großer Hans ist er;
schwarz gebrannt Stirn und Hand.
Wird er wohl erkannt?
Eins, zwei, drei geh’n vorbei,
wissen nicht, wer das wohl sei.
Schwester spricht: Welch’ Gesicht!
Kennt den Bruder nicht.
Kommt daher die Mutter sein,
schaut ihm kaum ins Aug hinein,
ruft sie schon: Hans! Mein Sohn!
Grüß dich Gott, mein Sohn!
Beim ersten Hinsehen könnte man meinen, dass der Text der Originalfassung ein Aufruf zum Mannwerden ist, zur freien Selbstverwirklichung des Mannes, der seine Wildheit leben kann und darf. Die Loslösung vom Elternhaus und von der Mutter wird hier thematisiert. Es ist die Welt des Biedermeiers, die dem Lied als Grundlage dient. Auffallend ist, dass es darin keinen Vater gibt. Familie und Haus sind der Ort der Mutter und Schwester. Junge Männer dürfen zwar eine Zeitlang in der Wildheit der Welt leben. Sie dürfen sich »ihre Hörner abstoßen«, sollen sich dann aber in die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft einfinden. Sie sollen eine Zeit der Loslösung durchmachen und dann den ihnen zugewiesenen Platz in der Gesellschaft einnehmen. Noch ist in dieser Gesellschaftsform der Mann Oberhaupt der Familie. Die Erziehung des Jungen zum Mann liegt aber schon zu großen Teilen in den Händen der Frauen.
Zum Ende des 19. Jahrhundert macht das Lied eine Veränderung durch. Nun ist nicht mehr die Rede davon, dass der Junge sieben Jahre in der Welt umherzieht, um dann als Mann zurückzukehren. Jetzt geht er gar nicht mehr weg, sondern bleibt nach kurzem Versuch, sich zu lösen, unter dem emotionalen Druck der Mutter (»Aber Mutter weinet sehr«) zu Hause. Es ist das Bild des Jünglingsgeliebten, auf das später noch genauer eingegangen wird. Eine Initiation zum Mann wird hier von der Mutter verhindert.
In beiden Textvarianten fällt aber auf, dass hier ein Prozess zwischen Mutter und Sohn beschrieben wird. Der Vater taucht nicht auf. Mit dem Beginn der bürgerlichen Gesellschaft war die Mutter die vorherrschende Kraft bei der Erziehung der Kinder. Mag diese Entwicklung am Anfang noch für die eher begüterten Familien gegolten haben, so setzt sich dieses Denken immer weiter durch. Es wird zum Ideal der Gesellschaftsordnung in Europa. Mit dem Beginn der Industrialisierung wird dieser Prozess dann von der Mutter an die »Fabrik« übertragen: Männer gehen hier zur Arbeit. »Die Fabrik« nährt den Mann, erwartet aber als Gegenleistung Unterwerfung. »Die Fabrik« weint nicht mehr, sondern bestraft durch Verweigerung der notwendigen Nahrung. Es ist eine der großen Entfremdungen, die die moderne Industriegesellschaft mit sich gebracht hat. Mit ihr begann die große Krise der Männer. Der Vater und sein Segen werden immer seltener und sind für ein Genährtwerden – im körperlichen wie im psychischen Bereich – nicht mehr so entscheidend.