Loe raamatut: «Jetzt spuck's endlich aus»
Einleitung
Eine Frau, die stottert, schreibt ein Buch, um andere stotternde Frauen zum Stottern zu inspirieren? Klingt nach ziemlich viel Gestotter, nicht wahr? Und überhaupt: wozu das Ganze? Sollten wir das Stottern nicht viel lieber verbergen oder noch besser, es bis zur endgültigen Elimierung bekämpfen? Ist dieses Buch denn wirklich nötig? Ja! Es ist sogar längst überfällig.
Würde ich abnehmen oder fasten wollen, einen Triathlon laufen oder meine Fingernägel verlängern, eine Sprache in 5 Tagen, einen Kopfstand, das Programmieren oder Häkeln lernen wollen – ich fände zu allem unzählige Bücher. Sogar gestaffelt. Ob 100kg, 50kg oder 5kg – zu jedem Abnehmziel ein Buch. Vegane Küche mit roten, grünen oder gelben Früchten? Alles kein Problem. Aber ich fand nie ein Buch über das Stottern. Wie gehen andere Frauen damit um? Womit haben sie zu kämpfen? Hört der Kampf jemals auf? Ich fand kein Buch, das mich als stotternde Frauen dazu aufrief, ich selbst zu sein und dass ich mein Stottern akzeptieren darf, ja sogar muss. Ich fand kein Buch, das mir stotternd aus dem Herzen sprach. Also entschloss ich mich, selbst ein Buch zu schreiben, meine Geschichte zu erzählen und damit das Buch zu schreiben, was ich selbst nie im Bücherregal fand.
Laut Statistik stottert 1% der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland chronisch. Das sind rund 800.000 Menschen. Ein Fünftel davon sind Frauen. Und von diesen 160.000 bin ich selbst die einzige, die mir bekannt ist. Wow. Ich bin Mitte Dreißig und die einzige stotternde Frau, die ich kenne. Ist das nicht irre? Wo seid ihr anderen?
Ich wurde das Gefühl nicht los, dass eine große Anzahl unter den 159.999 anderen Frauen aus ähnlichen Gründen unsichtbar und damit auch nicht hörbar ist, die auch bei mir dazu geführt haben, jahrelang unter dem Radar zu fliegen und nicht gesehen und gehört werden zu wollen. Neben dem Fakt, dass ich mich unendlich für mein Stottern schämte, war es besonders meine Angst vorm Sprechen, die mich nicht nur sprachlich ausbremste.
Stottern hier, Stottern da, Stottern everywhere. In meinen sechsunddreißig Lebensjahren gab es nur zwei Jahre in denen ich nicht stotterte, um genau zu sein, die ersten beiden. An eine Zeit ohne sprachliches Gestolper kann ich mich nicht nur nicht erinnern, es gab diese Zeit in meinem Leben nicht. Stattdessen beherrschte lange Zeit das Stottern mein Denken und Fühlen auf eine besonders negative Art und Weise. Heute sage ich Stotter-Paranoia dazu.
Ich war viele Jahre fest davon überzeugt, dass mich mein Stottern daran hindern würde, in das Bewerbungsgespräch für meinen Traumjob zu gehen, allein in den Urlaub zu fahren, Telefonkonferenzen in einer fremden Sprache zu führen oder ganz alltägliche Dinge zu tun. Wie ein Telefonat zu führen, um einen Friseurtermin zu vereinbaren, eine Sprachnachrichten nach dem Aufnehmen auch wirklich mal zu versenden, eine Runde schwitzfreien Smalltalk mit der Nachbarin zu halten oder das Ansprechen einer wildfremden Person, um nach dem Weg zu fragen. Diese Alltäglichkeiten gehen mit einem hohen Maß sprachlicher Spontanität und gesprochener Schlagfertigkeit einher, was für mich beides einem Sechser im Lotto glich. Mit Superzahl. Und zwar jeden Tag. Wenn du selbst stotterst, weißt du sicher, wovon ich rede.
Stottern ist kein Leberfleck, den man abdecken und damit nach Belieben verstecken kann. Stottern ist kein Kilo zu viel, das sich wegtrainieren lässt. Es bleibt für immer, auch wenn es sich durch Therapien, bestimmte Atemtechniken, sowie andere Methoden und Strategien zumindest teilweise verbessern oder gut verbergen lässt.
Und dennoch. Mit meiner Art zu sprechen wurde ich bereits als Jugendliche und später auch als junge Frau weniger ernst genommen und meine Karrierechancen schienen durch unsichtbare Grenzen von vornherein eingeschränkt zu sein. Wenn ich sprach und dabei stotterte, war es ein Leichtes für andere, dies für sich zu nutzen, mich zu übertönen oder manchmal sogar ganz zum Schweigen zu bringen, da ich mich verbal weder wehren noch durchsetzen konnte. Ich ging Diskussionen und anderen Situationen schnell aus dem Weg, die sprachliche und mentale Durchsetzungskraft von mir verlangt hätten, einzig und allein, weil ich Angst vorm Sprechen hatte und gelernt hatte, mich für mein Stottern zu schämen. Ich hielt mich lieber zurück oder schwieg eben ganz. Chefin, CEO, Politikerin, Selbstständige? – No way! Das ist nur was für andere, normale Frauen, aber auf keinen Fall etwas für Stotternde.
Mein altes Denken und mein eigener Weg ließen mich vermuten, dass es noch viele Tausend Mädchen und Frauen da draußen gibt, die ihr Stottern ebenfalls bekämpften oder es noch immer tun, sich dafür schämen und mit einem bremsenden Gemisch aus Selbstzweifeln, geringem Selbstwert und Angst, weit hinter ihren Möglichkeiten bleiben und sich nicht das Leben schaffen, das sie sich wünschen und damit nicht zu der Frau werden, die sie sein wollen. Diesen Mädchen und Frauen droht ein unverschuldetes Leben im Schattendasein einer falschen Scham, mit ungenutzten Potentialen und ungelebten Träumen. Ich weiß leider, wovon ich rede und ich möchte an diesen Aussichten etwas ändern.
Die Klassifizierung als Sprachstörung setzt uns Betroffene per se schon außerhalb des normalen und damit akzeptierten Gesellschaftsfeldes. Aus diesem Grund werde ich diesen Begriff auch nur verwenden, wenn es unvermeidbar ist. Zu lange wurde mir die Sprachstörung als Mantel übergeworfen und galt damit mir als Person. Ich, nicht meine Sprache, war gestört und nicht normal. Diesem Umstand trete ich besonders entgegen. Ich höre mich vielleicht manchmal anders an, aber das war auch schon alles. Ich bin nicht mein Stottern und damit auch nicht gestört, auch wenn mir das immer wieder begegnet.
Stotternde Frauen haben keine Lobby oder hörbare FürsprecherInnen. Wir sind regelrecht unsichtbar und noch weniger zu hören als zu sehen. Und wenn wir nicht selbst für uns einstehen, macht es keiner. Daran möchte ich etwas ändern.
Ich bin eine souveräne, selbstbewusste Frau, die neben ihrer Homosexualität auch offen mit ihrem Stottern umgeht. Heute bin ich aber nicht nur die Frau, die mit ihrem Stottern gesehen und gehört werden will, ich möchte auch andere Frauen zu mehr Mut im Umgang mit ihrem Stottern inspirieren. Deshalb teile ich meine Erfahrungen und berichte von Ereignissen und Menschen, an denen ich drohte zu scheitern und es manchmal auch tat. Ich packe meine größten Erfolge aus, die ich mit, trotz und wegen meines Stotterns einfuhr. Ich wünsche mir so sehr, dass ebenfalls betroffene Mädchen und Frauen aufhören, sich zu schämen, weil es einfach nichts gibt, wofür sie sich schämen sollten!
Ich entscheide mich, aus vollem Herzen und aus voller Überzeugung, meine Stimme und mein Stottern zu nutzen und damit meinen Beitrag dazu zu leisten. Ich will mit meinem Buch etwas bewegen. Das Denken in vielen Köpfen umkehren, auf den Kopf stellen, erschüttern und zur Neuordnung anregen. Es gibt so viele Dinge, die im Zusammenhang mit stotternden Frauen ungesagt und ungedacht sind.
Ich habe zum Beispiel erlebt, dass Stottern nicht nur die Betroffene selbst hemmt, sondern auch ihre ZuhörerInnen. Wie geht man als Mutter, Kollegin oder als PartnerIn damit um? Wie halten beide Seiten das Stottern während eines Streits aus? Was bleibt wegen des Stotterns ungesagt? Wie verhält man sich, wenn das Stottern zur Beleidigung oder zur Waffe wird? Auch das sind Fragen, die ich beantworten möchte und weitere Gründe, weshalb ich dieses Buch schreiben muss. Aber vor allem möchte ich dir als stotternde Frau mit diesem Buch sagen und zeigen, dass du nicht alleine bist, auch wenn es sich für dich manchmal noch immer so anfühlt.
Als Jugendliche und junge Frau hielt ich meine Augen und Ohren ständig nach einer stotternden Frau offen, die ich als Vorbild oder Inspiration ansehen konnte. Die mit, wegen oder trotz ihres Stotterns hörbar, erfolgreich und auf ihre Art außergewöhnlich war. Souverän und selbstbewusst. Ich wollte zu so einer Frau aufsehen, die sprach wie ich, die irgendwie war wie ich. Aber da war niemand. Ich wollte mich orientieren, aber an wem? Wer sprach denn wie ich? Wem war ich ähnlich? Wer teilte mein Schicksal? Wer konnte meine Angst vorm Sprechen verstehen? Wer konnte mir vielleicht unbewusst helfen?
Es ist bekannt, dass Marylin Monroe stotterte. Nichts gegen Marylin, aber come on! Das darf es doch einfach nicht gewesen sein. Wo sind die Vorbilder unserer und die der folgenden stotternden Generationen Frauen? Das Stottern ist so wenig erforscht, dass es sicher nicht in wenigen Jahren ausgemerzt sein wird. Von wem erzählen wir unseren Töchtern, Freundinnen und Bekannten? Ich wünsche mir deshalb, dass jede stotternde Frau selbst zu dem Vorbild wird, die sie, die wir alle gebraucht hätten und nach denen wir heute an bestimmten Tagen immer noch suchen. Dafür schreibe ich dieses Buch.
Mein Ziel ist es nicht, durch mein Buch anderen stotternden Frauen meine Stimme zu geben oder in ihrem Namen zu sprechen. Ich will niemandem meinen ganz persönlichen Umgang mit dem Stottern aufzwingen. Wir alle haben vielmehr unsere eigene wundervolle Stimme und unsere Art zu sprechen, die gehört werden darf. Mein Wunsch ist es, die stotternden Frauen zu mehr Mut zu inspirieren, die ebenfalls spüren, dass es da mehr im Leben zu erreichen gibt, als uns alte Glaubenssätze und falsche Scham weismachen wollen. Euch möchte ich dazu motivieren, ganz selbstverständlich von euch hören zu lassen. Um das zu schaffen, teile ich meine Erfahrungen und hoffe, damit auch einen Mehrwert zu liefern. Sei es als Erkenntnis: „Das passiert mir so auf keinen Fall.“ Oder als Inspiration, im Sinne von: „Das will und schaffe ich auch.“
Ich bin weder Psychologin noch Therapeutin und will es auch nicht sein. Ich bin eine Frau die stottert und etwas bewegen will. Und das schaffe ich nur, wenn ich endlich ausspucke, was mich bewegt. Dabei war und ist das Stottern ein Teil von mir. Ich habe keinen 10-Punkte-Plan, kein Mantra und keine neuartige Methode, die mein Stottern verschwinden lässt. Mein Stottern ist nie verschwunden. Im Gegenteil. Je mehr ich es bekämpfte, desto schlimmer wurde es. Bis ich eben aufgehört habe, es zu bekämpfen und es stattdessen akzeptierte. Ich stottere seitdem jeden Tag mutig drauf los. Mal wild, mal mehr, mal weniger und manchmal überhaupt nicht.
Wenn du dieses Buch in den Händen hältst, bist du den ersten und wichtigsten Schritt bereits gegangen. Er zeigt nämlich, dass du bereit bist, dich offen auf das mutig drauf los Stottern einzulassen. Dich damit zu beschäftigen, weil du neugierig und offen bist. Ganz egal, ob du selbst stotterst oder einen anderen Bezug zum Stottern hast. Etwas in dir, will etwas darüber erfahren und wissen, was es damit auf sich hat.
Vielleicht kannst du dir als stotternde Frau noch nicht vorstellen, wie das ist, dich nicht mehr zu verstecken, die Scham beiseite zu schieben und deinem Selbst Platz zu verschaffen, aber ich verspreche dir, dass du in den folgenden Kapiteln Geschichten von Mut, Inspiration, Erfolg und Motivation lesen wirst, die dir zu dieser Vorstellungskraft verhelfen können. Du wirst erfahren, dass Unmögliches eben doch möglich war und immer wieder ist. Vielleicht erkennst du dich in einigen Passagen auch wieder und vielleicht macht dir gerade das Mut, einen neuen Blick auf dein Stottern zu werfen und es kein Scham- oder Angstthema mehr sein zu lassen.
Nun aber auf …
Die Ursache gibt es nicht
Warum? Weshalb stottere ich? Was sind die Gründe dafür? Warum kam es so plötzlich? Wieso verschwand es nicht genau so schnell wieder? Warum habe ich das nicht unter Kontrolle? Wieso bin ich die einzige aus meiner Familie und in meinem Umfeld die stottert? Warum stottere ich manchmal so schlimm und im nächsten Moment gar nicht? Diese Fragen stellte ich mir als Kind, als Jugendliche oder als Erwachsene immer wieder und konnte sie mir nie beantworten. Als ich anderen Menschen diese Fragen stellte, meiner Mutter oder einem Arzt zum Beispiel, hatten auch sie keine Antworten für mich.
Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass ich deshalb nachts nicht ruhig schlafen konnte. Ich war nicht verzweifelt auf der Suche nach Antworten und ich war auch nicht getrieben davon, endlich zu wissen, weshalb ich mit dieser Sonderausstattung versehen bin. Aber ich gebe zu, dass mich diese Fragen von Zeit zu Zeit packten und nicht recht loslassen wollten.
Als ich noch zur Schule ging, suchte nicht der Teil in mir nach Antworten, der zum Ziel hatte, vom Kopf her zu verstehen oder das Stottern auch für andere begreifbar zu machen. Als Kind und Jugendliche, suchten mal meine Hilflosigkeit, meine Wut oder meine Traurigkeit und Verletztheit nach Antworten auf diese Fragen. Angetrieben vom emotionalen Schmerz, den ich damals spürte und der Verzweiflung darüber, endlich verstehen zu wollen, weshalb ich anders war. Weshalb ich ausgegrenzt, gehänselt und beleidigt wurde. Weshalb ich als „gestört“, „behindert“ oder „dumm“ betitelt wurde. Darauf versuchte ich damals Antworten zu finden.
Als ich Anfang Dreißig war, ging ein anderer Teil meines Selbst auf die Suche nach Antworten. In meiner eigenen Vergangenheit und in meiner Familiengeschichte kramte ich immer tiefer, um mein Stottern auf andere Weise zu verstehen. Ich machte mich auch zum aktuellen Stand der Wissenschaft schlau und verknüpfte das, was ich herausfand, mit Teilen meiner Lebensgeschichte. So erhielt ich erst eine Ahnung und letztlich eine Vorstellung davon, wie ich zu meiner sprachlichen Sonderausstattung kam. Das Zusammenführen der verschiedenen Puzzleteile, die mit meinem Stottern in Verbindung stehen, war für mich nicht nur aufschlussreich, sondern irgendwie auch heilsam. Ich verstand Vieles, was ich als Kind und Jugendliche nicht verstehen konnte oder wollte und hörte immer mehr auf, das Stottern abzulehnen. Ich fand einen ganz anderen Weg damit umzugehen. Davon werde ich dir in diesem Buch berichten.
Am Anfang dieses Weges stand aber erst einmal ein „Ach was?!“ Denn das war meine erste Reaktion auf das Ergebnis meiner Recherche zum wissenschaftlichen Stand zum Thema Stottern. Die wichtigste Erkenntnis hinsichtlich all meiner Fragen, war, dass es weder die Ursache noch den Auslöser für das Stottern gibt. Vielmehr ist es ein Geflecht aus genetischen, psychologischen und neurologischen Faktoren.
Forscher und Wissenschaftler die sich den genetischen Ursachen des Stotterns widmeten, gehen heute von einer familiären Veranlagung aus, da Betroffene häufig nicht die einzigen in ihren Familien sind, die von dieser Redeflussstörung betroffen sind. Diese Veranlagung kann auch genetisch vorhanden sein, ohne dass das Stottern jemals ausgelöst wird. So kann sie beispielsweise unentdeckt über Generationen weitervererbt werden, ohne dass ein einziges Familienmitglied jemals sprachliche Symptome zeigt oder stottert. Darüber hinaus ist bekannt, dass die genetische Weitergabe nicht gesichert erfolgt. Ob und wie sie also weitervererbt wird, ist vorerst noch ein gut verstecktes Geheimnis der Natur.
Ehrlich gesagt, kamen noch einige Fragezeichen in meinem Kopf hinzu, als ich das in Erfahrung brachte. Es wirkte auf mich wie: Alles kann, nichts muss. Selbst wenn ich die einzige in meiner Familie bin, die stottert – und das ist definitiv der Fall – kann es also dennoch sein, dass beispielsweise meine Mutter diejenige war, von der ich die Veranlagung geerbt hatte. Auch wenn sie selbst nie gestottert hat. Vielleicht war es aber auch mein Vater oder es war in meinem Fall eben doch keine erbliche Veranlagung vorhanden. Auch diese Möglichkeit besteht. Viel wichtiger als die Frage ob Veranlagung oder nicht, war für mich aber, was der eigentliche Auslöser meines Stotterns war und welche Schalter da in mir kippten, damit ich sprach, wie ich sprach.
Auf letzteres erhielt ich Antworten bei der Kasseler Stottertherapie, die sich hinsichtlich der Fragen nach Ursache und Auslöser des Stotterns auch auf neurologische Studien beziehen. So haben Wissenschaftler Hinweise darauf gefunden, dass eine strukturelle Veränderung und eine schwächere Hirnaktivierung des Sprachzentrums der linken Hirnhälfte bei Stotternden vorliegen. Es konnte also sein, dass mein neurologischer Schaltplan mein Stottern begünstigte. Zusammen mit der eventuellen genetischen Veranlagung, waren es für mich diese zwei Gesichtspunkte, die ich für mich in die Kategorie „körperliche Prädisposition“ einordnete. Blieb die spannende Frage nach den psychologischen Faktoren.
Psychologische Faktoren werden vor allem zu den Auslösern des Stotterns gezählt und nicht als Ursache bezeichnet. Traumatische Kindheitsereignisse beispielsweise, wie ein Unfall, die Trennung der Eltern oder der Tod eines nahen Familienmitglieds können solche Faktoren sein. Bei solch seelischem Schmerz reagiert jedes Kind auf seine eigene Weise. Es hängt stark davon ab, wie das Kind gelernt hat mit Schmerz und Stress umzugehen. Hinzu kommen das Alter des Kindes, sein persönliches Umfeld, die Bindungserfahrungen und einige weitere Faktoren.
Einige Kinder werden beispielsweise aggressiv und entladen ihre Gefühle dann nach außen. Sie wissen manchmal einfach nicht wohin mit ihrer Wut, dem Ärger, der Angst und dem Schmerz, und so brechen diese Emotionen unkontrolliert aus ihnen heraus. Andere Kinder ziehen sich wiederum zurück. Sie werden passiv oder kapitulieren vor solch einschneidenden Erlebnissen. Auch das Stottern kann eine Reaktion auf ein traumatisches Ereignis aus der Kindheit sein. Wenn die Emotionen keinen anderen Kanal gefunden haben und somit nicht nur das kleine Leben, sondern auch die Sprache eines Kindes ins Stocken gerät.
Aber auch hier muss ein Sternchen fürs Kleingedruckte angefügt werden. Denn psychisch belastende Situationen müssen nicht dazu führen, dass das Stottern ausgelöst wird. Auch dann nicht, wenn die genetische Veranlagung vorliegt oder neurologische Hinweise vorliegen. Umgekehrt kann so aber auch das Stottern ohne jede Prädisposition ausgelöst werden, also allein durch ein traumatisches Erlebnis.
Je mehr ich über die vielleicht-Ursachen und die eventuell-Auslöser las, um so mehr wollte ich wissen, wie es denn nun bei mir war. Denn so interessant die Thematik auch war, bis zu diesem Punkt war die eigentliche Erkenntnis für mich noch recht weit weg. Vorerst klang das alles nach: Alles kann, nichts muss. Ich kam also nicht umhin, das Thema buchstäblich persönlich zu nehmen, um mein ganz individuelles Netz aus Ursachen und Auslösern zu ergründen. Ich spürte, dass ich mehr Antworten finden würde, wenn ich mich trauen würde, tief genug zu graben. Auch wenn es keine wissenschaftlichen Beweise für mein Stottern sein würden, würde ich es zumindest für mich besser verstehen, wie es bei mir dazu kam.
Ich sprach zuerst mit meiner Mutter. Ich erklärte ihr, dass ich wissen muss, was alles mit meinem Stottern zusammenhängt, dass ich verstehen will, warum ich diejenige bin, die in unserer Familie stottert und was dahintersteckte. Ich beschoss sie regelrecht mit meinen Fragen, auch wenn mir bewusst war, dass auch ihre Antworten mehr Vermutungen als gesicherte Erkenntnisse sein würden. „Wie war das damals, als ich angefangen habe zu stottern?“ „Wie hast du das eigentlich bemerkt?“ „War ich irgendwie anders?“ „Was glaubst du, warum ich stottere?“ „War da irgendetwas? Ist da was passiert?“
Ich schien instinktiv die richtigen Fragen zu stellen und ich bekam Antworten, die in mir etwas bewegten. Sie arbeiteten regelrecht in mir. Es war, als würde sich etwas in mir direkt angesprochen fühlen und mich darauf hinweisen, genau zuzuhören und immer weiter zu fragen, um immer tiefer an das zu kommen, was noch verschüttet in mir war. Auch wenn ich gleichzeitig Unsicherheit und Aufgeregtheit in mir spürte, sprudelte es weiter aus mir heraus. „Erzähl doch mal genauer, wie das damals war.“ „Was hat das mit dir gemacht?“ „Wie ging es dir damit?“ „Wie hast du das damals alles gemacht?“
Mein Oberkörper zitterte, ich hatte kalte Hände und zog meine Schultern nach oben. Nach außen war ich ein einziges verkrampftes Wesen, während in mir die Emotionen tobten und mir einen Schauer nach dem anderen durch den Körper jagten. Als hätte jemand in mir den Alarmknopf gedrückt und damit alles in mir auf Aufmerksamkeit geschaltet.
