Loe raamatut: «Medienwandel», lehekülg 2

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Wie man Nutzungsformen unterschiedlicher Ordnung unterscheiden kann, so lassen sich auch Institutionen unterschiedlicher Ordnung differenzieren – wobei man formell geregelte Institutionen auch als Organisationen bezeichnet. Kann man das Fernsehen als Medieninstitution bezeichnen, so lassen sich wiederum private von öffentlich-rechtlichen Organisationen unterscheiden. Zu den öffentlich-rechtlichen Sendern zählen u. a. ARD und ZDF, zu den privaten RTL und Sat1. Ist das World Wide Web eine Institution, so lassen sich Organisationen identifizieren wie Alphabet Inc. oder die Wikimedia Foundation, die das Netz nutzen, um die Suchmaschine Google bzw. die Wikipedia zu betreiben.

Was eine Medieninstitution ausmacht, kann definiert werden, wobei hier das Kino als Beispiel dienen mag. Als Kino bezeichnet man die Projektion von Filmen vor einem Publikum, wenn nichts als oder zumindest ganz überwiegend Filme gezeigt werden. Kinos sind durch eine große historische Vielfalt gekennzeichnet: Ob mobil oder ortsfest, ob die Filme unter freiem Himmel oder in einem geschlossenen Raum vorgeführt werden, ob es sich um eine private oder öffentlich zugängliche Vorführung handelt, ob die Öffentlichkeit etwa nach Maßgabe des Jugendschutzes eingeschränkt wird, ob ein Kurzfilmprogramm gezeigt[21] wird oder ein abendfüllender Spielfilm, ob Eintrittsgeld erhoben wird, welches Publikum adressiert und angezogen wird – alle diese Aspekte können variieren und damit zur Unterscheidung unterschiedlicher Kinotypen dienen. Der Kinotyp, der sich kommerziell durchgesetzt hat, ist ein geschlossener Raum, in dem sich Menschen zu einer Öffentlichkeit versammeln, die sich in aller Regel nicht kennen und aus dem gemeinsamen Schauen einen Gewinn ziehen. In einem weiteren Sinn macht die Institution Kino nicht nur die Projektion von Filmen vor einem Publikum aus, sondern auch die Art, wie die Filme hergestellt, finanziert, vertrieben und vermarktet werden.

Kapitel 6, 7 und 8 zeigen, wie die Institution Kino (im definierten erweiterten Sinn) in Deutschland etabliert wurde. Kapitel 16 stellt dar, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegend verändert hat.

Definitionen, wie die oben vom Kino gegebene, sind immer an bestimmte historische Phänomene gebunden und müssen verändert werden, wenn sich das Phänomen selbst verändert. Die Digitalisierung des Kinos, die sich in den vergangenen Jahren durchgesetzt hat, erfordert zunächst nicht, die gegebene Definition neu zu fassen, da sich allein die Projektionstechnik verändert hat. An die Stelle eines analogen Filmprojektors ist ein digitaler getreten. Diese technische Veränderung ermöglicht es jedoch, anstatt Filmen z. B. Live-Events wie Opernaufführungen oder Sportveranstaltungen in die digital ausgestatteten Kinos zu übertragen. Kino ist demnach nicht mehr allein die Projektion von Filmen, sondern ebenso die von Live-Events. Tritt nun an die Stelle der klassischen Leinwand, auf die das Bild projiziert wird, ein Bildschirm – wie das beim Heimkino der Fall ist, in dem große Flachbildschirme zunehmend Beamer ersetzen –, hat auch dies einen unmittelbaren Einfluss auf die gegebene Definition. Kino wäre demnach nicht mehr allein die Projektion von Filmen, sondern die Vorführung bewegter Bilder vor einem Publikum.

Medieninstitutionen entstehen also unter analysierbaren kulturellen und historischen Bedingungen. Sie prägen Mediennutzungsformen, die sich etwa hinsichtlich des Aufführungskontextes und des jeweiligen Publikums unterscheiden. Die internationalen Varietés in Deutschland zeigten um 1900 andere Filmprogramme als die lokalen Varietés, da sie sozial gesehen ein anderes Publikum adressierten. War in den internationalen Häusern eine Filmberichterstattung über aktuelle Ereignisse zu sehen, die zeitgenössisch als Optische Berichterstattung bezeichnet wurde, so zeigten lokale Varietés ein buntes Unterhaltungsprogramm. Während sich in den internationalen Häusern Angehörige der oberen sozialen Schichten zu einem Publikum versammelten, rekrutierten die lokalen Varietés ihr Publikum aus den unteren sozialen Schichten.11

[22]Medientechnologien sind grundsätzlich politisch neutral, Mediennutzungsformen und Medieninstitutionen sind es nicht. Medientechnologien, die zur Übertragung von Bewegtbildern bzw. zur Kommunikation benutzt werden, können zu konträren politischen Zwecken dienen. Bewegtbilder können dazu benutzt werden, Menschen ideologisch zu indoktrinieren – Beispiele dafür sind etwa die im World Wide Web verbreiteten Videoclips des sogenannten Islamischen Staates (IS), mit denen insbesondere junge Männer zum Kampf gegen alle, die sich nicht dem islamischen Fundamentalismus anschließen, geworben werden sollen. Bewegtbilder können andererseits auch zur Aufklärung über solchen Terror produziert werden. Soziale Medien wie Twitter und Facebook können benutzt werden, um – wie der »arabische Frühling« 2010/11 gezeigt hat – Diktaturen wie das Regime von Zine el-Abidine Ben Ali in Tuniesien zu stürzen. Sie können aber auch dazu benutzt werden, ein Terrorregime wie den Islamischen Staat zu etablieren, indem sich IS-Kämpfer via Social Media organisieren.

Mediennutzungsformen können politisch neutral sein, sind es aber in der Regel nicht. Publizierte wissenschaftliche Studien wie etwa repräsentative Meinungsumfragen des Pew Research Centers in den USA oder des Allensbacher Instituts in Deutschland analysieren die Meinung der Bevölkerung, ohne die Analyse etwa von religiösen Überzeugungen der Forscher beeinträchtigen zu lassen. Unterhaltung ist dagegen in einem hohen Maß kulturell differenziert, da sich die Kulturen der Welt unterscheiden und Vergnügen vor allem bereitet, was den eigenen Anschauungen entspricht (mehr dazu weiter unten).

Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte man

 von Medientechnologien, Mediennutzungs formen und Medieninstitutionen sprechen oder

 nur von Technologien, Nutzungsformen und Institutionen sprechen, wenn kontextuell klar ist, dass von Medien die Rede ist, oder

 von Medien sprechen, wenn kontextuell hinreichend klar ist, ob die Technologie, die Nutzungsform oder die Institution gemeint ist oder

 von Medien sprechen, wenn von Technologien, Nutzungsformen und Institutionen zugleich die Rede ist.

Grundfunktionen der Medien

Technische Mittel zur Verbreitung von Informationen werden von Menschen für unterschiedliche Zwecke benutzt. Menschen nutzen Medien, um mit anderen zu kommunizieren, sich zu orientieren bzw. sich unterhalten zu lassen. Medien erfüllen also Grundbedürfnisse nach Kommunikation, Orientierung und Unterhaltung. Diese Grundbedürfnisse sind in verschiedenen Zeiten und Gesellschaften[23] bei jeweils anderen sozialen Schichten und Altersgruppen unterschiedlich ausgeprägt. Sie dürften aber in Gesellschaften jedweder Art, also in Stämmen wie in Staaten, ob sie nun demokratisch oder diktatorisch verfasst sind, vorkommen und damit eine anthropologische Grundlage haben.

Sowohl Kommunikation (als Gespräch von Angesicht zu Angesicht), Orientierung via Wissenserwerb (durch mündlichen Unterricht) als auch Unterhaltung (durch Schauspieler auf der Theaterbühne) sind ohne technisch vermittelte Medien (wie Telefon, Buch und Fernsehen) nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich. Medien werden zur Erfüllung der Grundbedürfnisse erst unter analysierbaren Bedingungen eingesetzt. So setzen Medien eine vergleichsweise weit entwickelte Gesellschaft voraus. Sind Gesellschaften überschaubar, dann brauchen sie auch kaum technische Mittel zur Informationsübermittlung, Mediennutzungsformen und -Institutionen. Je komplexer eine Gesellschaft ist, desto notwendiger wird eine mediale Vermittlung.

Was verstehen wir unter Kommunikation, Orientierung und Unterhaltung? Als Kommunikation bezeichnet man den Austausch von Informationen zwischen zwei oder mehr Menschen. Kommunikation erfüllt dabei grundsätzlich einen doppelten Zweck: Über den Austausch von Informationen hinaus befriedigt Kommunikation auch das Grundbedürfnis nach menschlicher Zuwendung.

Kommunikation kann immer wieder gestört sein – was man sich anhand des Spiels »Stille Post« verdeutlichen kann. Je komplexer die Information, desto wahrscheinlicher ist, dass sie im Lauf des Kommunikationsprozesses verfälscht wird. Anders als oft behauptet wird, ist Kommunikation jedoch nicht grundsätzlich gestört, sondern ihr Funktionieren der Regelfall. Ohne dass Kommunikation gelingt, ist kein Zusammenleben von Menschen möglich.

Wie kommuniziert wird, ist u. a. kulturell und sozial differenziert. Menschen sprechen nicht nur unterschiedliche Sprachen; die Art, wie sie kommunizieren, ist zudem von einer Fülle von Faktoren abhängig. Ein wichtiger Faktor ist die Abhängigkeit der Menschen voneinander. So unterscheidet sich die Kommunikation des Angestellten einer Firma mit seinem Chef von der eines Liebespaares untereinander. Die Kommunikation in einer militärischen Befehlskette ist eine völlig andere als die in einer Veranstaltung an einer Universität. Die Kommunikation unterliegt zudem einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel: Der Wertewandel, der sich infolge des Zweiten Weltkriegs in den westlichen Industriegesellschaften seit den 1960er-Jahren vollzogen hat, hat die Kommunikation in Firmen bzw. Universitäten in gewissem Umfang liberalisiert. Angestellte können heute ungezwungener mit ihren Chefs sprechen als in den 1950er-Jahren, und Studierende kommunizieren heute informeller mit ihren akademischen Lehrern.

Mit Medientechnologien wie dem Telefon oder Social Media wie Facebook oder Twitter wird eine Kommunikation über räumliche Distanzen hinweg möglich.

[24]Menschen tauschen sich über Privates oder Berufliches innerhalb der eigenen Stadt, des eigenen Landes oder über Kontinente hinweg aus. Die Kommunikation findet zeitgleich statt (wie beim Telefon oder Skypen) oder erfolgt nur in einem geringen Maß zeitverzögert (wie bei den Social Media Facebook oder Twitter).

Als Orientierung bezeichnet man die Fähigkeit des Menschen, sich zeitlich, räumlich und in Bezug auf sich selbst und seine Mitmenschen zurechtzufinden und die Welt in einem bescheidenen Maß kontrollieren zu können. Ein wichtiges Mittel zur Orientierung ist das Wissen, das symbolisch mittels Sprache und Schrift repräsentiert wird. Mithilfe des Wissens sind Menschen handlungsfähig; sie können sich zwischen Alternativen entscheiden und entsprechend handeln. Das Wissen ist jedoch keineswegs das einzige Orientierungsmittel. Menschen handeln auch, weil sich andere Menschen in einer bestimmten Art verhalten oder weil Menschen, die mit einer bestimmten Autorität ausgestattet sind, es von ihnen verlangen. Menschen orientieren sich oft am Verhalten anderer Menschen und treffen ihre Entscheidungen sogar wider besseres Wissen.

Grundsätzlich lassen sich zwei Formen des Wissens unterscheiden: das realitätsgerechte und das nicht-realitätsgerechte Wissen, wobei wir ein Wissen dann als realitätsgerecht bezeichnen, wenn es intersubjektiv einer Überprüfung standhält. Ein Beispiel dafür sind etwa die über GPS vermittelten räumlichen Daten, die es uns ermöglichen, mittels eines Navigationsgeräts oder einer entsprechenden App auf dem Smartphone einen Weg von A nach B zu finden. Ein anderes Beispiel ist etwa das Wissen um die Ansteckungswege bestimmter Krankheiten, das es uns ermöglicht, uns nicht zu infizieren, wenn wir uns entsprechend vorsehen.

Zum nicht-realitätsgerechten Wissen gehören Vorurteile, Gerüchte, Klatsch, Legenden und Märchen, aber auch das Religiöse. Viele Menschen glauben an überirdische Kräfte (die sie etwa als Ahnen, Geister oder Götter oder den einen Gott begreifen). Da etwa Christen und Moslems glauben, ihr religiöses Wissen stamme von Gott, fühlen sie sich daran gebunden. Da dieses (wie jedes andere) Wissen der Interpretation bedarf, spalten sich Religionsgemeinschaften oft in unterschiedliche Gruppen auf, wie z. B. Katholiken und Protestanten oder Sunniten und Schiiten. Religion ist immer ein kulturelles bzw. soziales Phänomen: Ein bestimmter Glaube bindet Menschen aneinander, indem er Menschen in Gläubige und Anders- bzw. Nichtgläubige differenziert. Da der Glaube nicht intersubjektiv überprüfbar ist, birgt er einen sozialen Sprengstoff, wenn unterschiedliche religiöse Gruppierungen aufeinandertreffen. Dies kann bis zur physischen Vernichtung der Anders- bzw. Nichtgläubigen führen.

Anders als das Religiöse ist das realitätsgerechte Wissen nicht kulturell oder sozial differenziert. Die Anforderungen an die Statik einer Brücke sind kulturübergreifend, das Wissen um die Übertragungswege von Krankheiten wie Cholera, HIV oder Ebola gilt grundsätzlich in allen Gesellschaften. Die Relevanz des Wissens[25] ist jedoch sehr wohl kulturell und sozial differenziert: Eine Stammesgesellschaft, die in einer Region lebt, in der es weder Flüsse noch Schluchten gibt, braucht das Wissen über die Statik von Brücken nicht, da sie keine Brücken baut. In Regionen, in denen eine bestimmte Krankheit wie Ebola grassiert, ist das Wissen um die Ansteckungswege dieser Krankheit von größerer praktischer Bedeutung als in Regionen, in denen es keine derartigen Krankheitsfälle gibt.

Zur Orientierungsfunktion der Medien gehört neben der Wissensvermittlung auch die Meinungsbildung. Um sich in der Welt orientieren zu können, muss die Relevanz des Wissens fortlaufend bewertet werden. Dies ist für den Mediennutzer allein dadurch möglich, dass Presse und Fernsehen über Ereignisse berichten – auch wenn sie selbst das Berichtete nicht bewerten. So kann sich der Leser bzw. Zuschauer eine Meinung über eine Regierung bilden, über deren Handeln berichtet wird. Darüber hinaus ermöglichen Kommentare zu Ereignissen bzw. Diskussionen in Tageszeitungen, im Rundfunk bzw. Fernsehen den Mediennutzern, ihre eigene Meinung zu bilden, indem sie sich das Urteil anderer zu eigen machen, das eigene gegen das Urteil anderer abgrenzen oder es modifizieren.

Unmittelbar mit der Orientierungs- hängt auch die Kontrollfunktion der Medien zusammen. Wer sich mittels Wissen in der Welt orientiert, indem er das Wissen selbst bewertet, wird handlungsfähig. Dies drückt sich etwa im Wahlverhalten der Menschen in demokratischen Gesellschaften aus. Entsprechend der eigenen Meinung, die auch in der Auseinandersetzung mit medialer Berichterstattung gebildet wird, wählt X etwa die Partei B und Y die Partei A. Investigative Journalisten aus Presse, Rundfunk und Fernsehen berichten über politische Entscheidungsträger und deren Handlungen. Indem sie etwa einen Machtmissbrauch aufdecken und diesen veröffentlichen, haben sie die gleiche Funktion wie Untersuchungsausschüsse von Parlamenten. Sie kontrollieren diejenigen, die Entscheidungsmacht haben, sodass Politiker ggf. zurücktreten müssen oder auch vor Gerichte gestellt werden.

Wissenserwerb jedweder Art beruht auf Lernen, das der Anstrengung jedes Einzelnen bedarf. Für die Wissensvermittlung bilden sich eigene Institutionen heraus, insbesondere Schulen und Universitäten, aber auch Medieninstitutionen wie Verlage, Rundfunk und Fernsehen.

Wissen kann angehäuft und so von Generation zu Generation weitergegeben werden. Mittel der Wissensspeicherung sind Medientechnologien. Das ständig wachsende Wissen, das Forscher weltweit täglich neu schaffen, wird mithilfe der Schrift festgehalten und via Medien (Zeitschriften, Bücher, World Wide Web) anderen zugänglich gemacht. Um etwas Neues zu erfahren, das bereits anderen, aber einem bestimmten Mediennutzer noch nicht bekannt ist, kann er etwa Zeitung lesen, eine Enzyklopädie zurate ziehen oder wissenschaftliche Literatur lesen. Auch das nicht-wissenschaftliche Wissen wird mittels Medientechnologien gespeichert[26] und von Generation zu Generation weitergegeben. So ist das Grundwissen von Hochreligionen wie Christentum oder Islam in Form von autoritativen Büchern, der Bibel bzw. dem Koran, symbolisch repräsentiert.

Als Unterhaltung bezeichnen wir eine menschliche Beschäftigung, die in erster Linie darauf ausgerichtet ist, Vergnügen – oder anders gesagt: Freude oder Spaß – zu bereiten, und dabei grundsätzlich ohne Konsequenzen für das wirkliche Leben bleibt. Menschen sehen sich Fernsehserien an, weil sie davon ausgehen, dass ihnen das Vergnügen bereitet. Sie gehen auf Pop- oder Rockkonzerte, weil sie sich für die Musik begeistern. Sie versammeln sich in Fußballstadien, um ihre Mannschaften gewinnen zu sehen. Natürlich stellt sich bei Fernsehserien oder Fußballspielen nur dann eine Freude ein, wenn dem Zuschauer die Serie gefällt bzw. die favorisierte Mannschaft gewinnt. Grundsätzlich bleibt das Vergnügen jedoch ohne Konsequenzen: Der Zuschauer wird nicht dafür bestraft, wenn er den Bösewicht eines Films umbringen möchte oder die gegnerische Fußballmannschaft lautstark wüst beschimpft.

Unterhaltung kann unterschiedlichen Zwecken dienen. Die wichtigste Funktion von Unterhaltung in Industriegesellschaften ist wahrscheinlich – darin dem Schlaf durchaus ähnlich –, eine Erholung von den Anstrengungen des Lebens zu ermöglichen. Wer sich nicht erholt, ist auf Dauer nicht mehr in der Lage, effektiv zu arbeiten und den eigenen Alltag zu bewältigen. Unterhaltung kann aber auch dem Zweck dienen, Menschen ein gewisses Erregungsniveau zu ermöglichen, das ihnen im Alltag fehlt – wie das etwa bei Bewohnern von Altenheimen oder Häftlingen in Gefängnissen der Fall sein kann. Unterhaltung kann darüber hinaus natürlich auch – darin besteht eine Ähnlichkeit zum Spiel – dem Probehandeln dienen, etwa wenn Zuschauer von Fernsehserien oder -filmen Liebes- und Familienbeziehungen gedanklich und emotional durchspielen oder lernen, mit Emotionen wie Eifersucht und Hass umzugehen. Die Emotionen, die sich beim Zuschauer von fiktionalen Fernsehserien oder Filmen einstellen, sind nicht virtuell, sondern real. Freude, Ekel, Verachtung oder Liebe werden wirklich empfunden.

Was Menschen unterhält, ist in einem erheblichen Maß hinsichtlich der Kultur, der sozialen Schicht, der Psyche, des Geschlechts, der Religionszugehörigkeit differenziert, sodass bestimmten Menschen bestimmte Formen an Unterhaltungsangeboten gefallen. Man kann auch sagen, Unterhaltung hängt von Werten ab. Werte sind »innere Führungsgrößen des menschlichen Tuns und Lassens, die überall dort wirksam werden, wo nicht biologische ›Triebe‹, Zwänge oder ›rationale‹ Nutzenerwägungen den Ausschlag geben.«12 Werte müssen nicht für alle Menschen verbindlich sein. Sie können sich nicht nur hinsichtlich Alter, Geschlecht und Bildung eines Menschen, sondern auch hinsichtlich seiner Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder Nation unterscheiden. Die Werte bestimmter sozialer Gruppen verändern sich oft über einen längeren Zeitraum; ändern sie sich, spricht[27] man von einem Wertewandel (siehe dazu Kapitel 17).

Was von Menschen als unterhaltsam empfunden wird, hängt u. a. von religiösen Werten ab. So ist Bollywood bei Muslimen in Asien und Afrika beliebter als Hollywood, und Hollywoodfilme gelten in einem stärkeren Maß als Gefährdung der eigenen Moral.

»While many Muslims [rund 40 % außerhalb Europas] say they personally like Western music, movies and television, most Muslims [67,7 %] also agree that Western popular culture has hurt morality in their countries. On balance, more Muslims say they like Bollywood movies and music than say the same about Western entertainment [etwa im Verhältnis 50 zu 40 %]. Muslims also see Bollywood as less harmful to morality than Western popular culture is [rund 44 gegenüber 66 %].«13

Dass Zweidrittel der nicht-europäischen Muslime glauben, Popmusik und Hollywood hätten einen negativen Einfluss auf die Moral, ist gut nachvollziehbar. Während 85 % aller Muslime glauben, Frauen müssten ihren Männern immer gehorchen, triumphieren in der angloamerikanischen Popmusik (u. a. Madonna, Lady Gaga) und in US-Fernsehserien (u. a. SEX AND THE CITY) Frauen, die ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen – hinsichtlich der eigenen Meinung, der Berufs- und Partnerwahl und nicht zuletzt auch hinsichtlich ihrer Sexualität.

Unterhaltung ist in einem erheblichen Maß kulturell und sozial differenziert. So können sich die Filmpräferenzen zwischen den Publika verschiedener Länder ebenso unterscheiden wie die Filmvorlieben verschiedener sozialer Gruppen.

Kapitel 8 und 9 zeigen, wie die Filmpräferenzen unterschiedlicher Kinopublika kulturell und sozial differenziert sind.

Kapitel 8 handelt von kulturell differenzierten Filmpräferenzen im Europa der 1930er-Jahre. So unterscheiden sich die beim französischen, deutschen, britischen, niederländischen, österreichischen, tschechoslowakischen, polnischen bzw. norwegischen Publikum erfolgreichsten 30 Filme so stark voneinander, dass es so gut wie keine gemeinsamen Top-Filme gab. Die Zuschauer dieser Länder liebten vor allem Filme aus dem jeweils eigenen Land und sahen zudem diejenigen ausländischen Filme gerne, die optimal kulturkompatibel waren.

Kapitel 9 widerspricht der weit verbreiteten Auffassung, dass Charles Chaplins Filme bei allen Menschen gleichermaßen populär waren. Die Studie zeigt, dass Chaplins Filme in der Weimarer Zeit nur bei bestimmten Teilen des Publikums erfolgreich waren. So wurden Chaplin-Filme stärker in Groß- als in Kleinstädten geschätzt. Von der großstädtischen Bevölkerung wiederum gehörten vor allem Intellektuelle und Arbeiter zum Stammpublikum Chaplins.

[28]Die Vorlieben der Menschen für die angebotene Unterhaltung sind darüber hinaus auch hinsichtlich ihrer Persönlichkeit differenziert. Sogenannte High Sensation Seeker bevorzugen körperlich fordernde Unterhaltung (Gleitschirmfliegen, Bungeejumping, Achterbahnfahren), während Low Sensation Seeker eher rezeptive Unterhaltungsformen vorziehen (Fernsehen, Musikhören). In Bezug auf die Unterhaltungsformen, bei denen der Nutzer in der Rolle des Zuschauers bzw. -hörers ist, mögen High Sensation Seeker lieber Actionfilme und Rockmusik, während Low Sensation Seeker sich eher an Beziehungsdramen und klassischer Musik erfreuen.14

Die Grundfunktionen der Medien treten oft in Kombination auf, wobei eine Funktion primär, eine andere sekundär ist. In einem Telefonat mit dem Partner mag es primär um den Austausch von Zärtlichkeiten gehen, was aber nicht ausschließt, dass dabei auch Neuigkeiten über die Erlebnisse des Tages mitgeteilt werden. Eine Unterhaltungssendung wie WER WIRD MILLIONÄR? will primär unterhalten, bildet aber ohne Zweifel auch. Wer hier nichts Neues erfährt, ist ein sicherer Gewinner der Million! Ein wissenschaftliches Buch vermittelt in erster Linie Wissen, kann dies aber in einer Art machen, die dem Lernenden Freude macht. Der Lernerfolg wird sogar umso größer sein, je mehr Vergnügen das Lernen macht.

In Bezug auf die gegebene Bestimmung der Grundfunktionen der Medien können zwei Abgrenzungen vorgenommen werden. Die erste bezieht sich auf die Frage, ob Kunst eine eigenständige Grundfunktion der Medien ist, und die zweite grenzt die gegebene von der weit verbreiteten stark politisch motivierten Definition ab.

Zu 1.: Mit Kunst kann man ohne Zweifel kommunizieren, aber auch bilden und unterhalten. Werke der Kunst vermitteln mitunter Ideen (wie die der religiösen Toleranz in Gotthold Ephraim Lessings NATHAN DER WEISE [1783 uraufgeführt]) oder eröffnen neue Sichtweisen (wie Literatur aus anderen Kulturen). Die Übertragung einer Opernaufführung im Fernsehen kann bilden (»eine große Inszenierung«, »ein bedeutendes Werk der Musikgeschichte«), aber auch unterhalten. Man kann den Unterhaltungswert von Kunst als ein distinguiertes Vergnügen von Kunstsinnigen definieren; Kunst lässt sich demnach also als eine Form der Unterhaltung für Gebildete verstehen. Dieses besondere Vergnügen setzt eine Kennerschaft voraus. Kennt man ein Theaterstück wie Lessings NATHAN DER WEISE oder ein Werk der Chormusik wie Giuseppe Verdis MESSA DA REQUIEM (1874 uraufgeführt), so wird man an einer bestimmten Aufführung ein besonderes Vergnügen (oder auch ein besonderes Missvergnügen) haben, das derjenige nicht hat, der mit den Werken nicht vertraut ist. Kunst oder ästhetische Kommunikation ist demnach keine eigenständige Grundfunktion, sondern hinreichend durch die drei genannten Grundfunktionen erfasst.

[29]Zu 2.: In demokratischen Gesellschaften wird der Medienbegriff oft auf die sogenannten Massenmedien verkürzt und ihre Grundfunktionen dann so definiert, dass sie den Zielen der Demokratie entsprechen. Presse, Radio und Fernsehen sollen sachgerecht informieren, zur Meinungsbildung der Bürger beitragen und durch eine kritische Berichterstattung staatliche Entscheidungsträger kontrollieren.

»Die Massenmedien sollen so vollständig, sachlich und verständlich wie möglich informieren, damit ihre Nutzerinnen und Nutzer in der Lage sind, das öffentliche Geschehen zu verfolgen. Mit ihren Informationen sollen sie dafür sorgen, daß die einzelnen Bürgerinnen und Bürger die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zusammenhänge begreifen, die demokratische Verfassungsordnung verstehen, ihre Interessenlage erkennen und über die Absichten und Handlungen aller am politischen Prozeß Beteiligten so unterrichtet sind, daß sie selbst aktiv daran teilnehmen können – als Wählende, als Mitglieder einer Partei oder auch einer Bürgerinitiative. […] Im parlamentarischen Regierungssystem obliegt in erster Linie der Opposition die Aufgabe der Kritik und Kontrolle. Diese wird unterstützt und ergänzt durch die Kritik- und Kontrollfunktion der Medien.«15

Als Grundfunktionen der Medien gelten in diesem Sinn also Information, Meinungsbildung und Kontrolle. Die Idee dabei ist, Menschen zu mündigen Bürgern zu machen, die bei der Wahl der politischen Vertretungen ihre Stimme entsprechend ihren Überzeugungen abgeben, und die Gewählten zugleich durch eine kritische Beobachtung zu kontrollieren. Dabei werden die Medien als vierte Macht im Staat neben Exekutive, Legislative und Judikative begriffen. Im Unterschied zu dieser politisch motivierten Definition verengt die oben gegebene die Medien nicht auf Presse, Rundfunk und Fernsehen und orientiert sich an den beobachtbaren und nicht an den gewünschten Funktionen der Medien.

Wie soll man Medien nennen, die der Kommunikation, der Orientierung bzw. der Unterhaltung dienen? Medien, die der Kommunikation dienen (wie Telefon oder E-Mail), werden als Kommunikationsmedien bezeichnet. Medien, die nicht der persönlichen Kommunikation dienen, werden oft Massenmedien genannt. Der Begriff Massenmedium wird unterschiedlich verwendet: Zum einen gilt als Massenmedium ein Medium, das sich an ein Publikum richtet, dessen Zuhörer bzw. Zuschauer sich nicht kennen, und zwar unabhängig von der Frage, wie groß die Reichweite dieses Mediums ist. Zum anderen wird der Begriff gerade in Bezug auf die Reichweite verwendet, wobei ein Medium erst dann als Massenmedium gilt, wenn es von sehr vielen Menschen (eines Landes, einer bestimmten sozialen Schicht, eines Alters etc.) genutzt wird. Der Begriff ist zudem oft negativ besetzt, insofern der Begriff der Masse mit Anonymität und Unbildung verknüpft wird.

[30]Aufgrund der Bedeutungs- und Wertungsambivalenz scheint es sinnvoll zu sein, auf die Verwendung dieses Begriffs zu verzichten und stattdessen Begriffe wie Wissens- und Unterhaltungsmedien zu wählen. Wissensmedien sind Medien, die der Vermittlung von Wissen dienen. Sie sind in aller Regel Speichermedien wie Buch oder Computer. Unterhaltungsmedien sind alle Medien, die primär dazu benutzt werden, Menschen zu unterhalten. Film und Fernsehen sind in diesem Sinn Unterhaltungsmedien – nicht aufgrund der verwendeten Technologien als solcher, sondern aufgrund der dominanten Verwendungsweise dieser Medientechnologien (denn der Film hätte auch primär für Bildungszwecke, das Fernsehen zur Überwachung von Objekten oder Menschen eingesetzt werden können). Was als primär gilt, kann das sein, was objektiv vorherrschend ist, kann aber auch nur das sein, was als vorherrschend wahrgenommen wird – etwa weil sich die Forschung überwiegend auf diesen Aspekt konzentriert hat.

Der Begriff Programmmedien ist als eine Spezifizierung des Begriffs Unterhaltungsmedien sinnvoll. Alle Programmmedien sind de facto primär Unterhaltungsmedien, aber nicht alle Unterhaltungsmedien sind auch Programmmedien. Als Programmmedien werden alle Medien verstanden, die ein Programm bieten wie das Kino, das Radio oder das Fernsehen. Programme bestehen grundsätzlich aus mehreren Angebotsteilen, die von den Veranstaltern in einer vorab festgelegten Abfolge dem Publikum dargeboten werden. Medieninstitutionen entwickeln bestimmte Programmschemata, die die Orientierung der Zuschauer bzw. -hörer erleichtern. So zeigte das Kino vor der Etablierung des Fernsehens typischerweise eine Wochenschau, Werbung (für Waren wie für die Filme, die »demnächst in diesem Theater« zu sehen waren), einen Kulturfilm und als eigens beworbene Hauptattraktion einen abendfüllenden Spielfilm. Radio und Fernsehen entwickelten nach Wochentagen differenzierte Programmschemata (freitags läuft seit 1969 um 20:15 Uhr im ZDF ein Krimi, angefangen mit DER KOMMISSAR über DERRICK, DER ALTE bis hin zu DER KRIMINALIST, sonntags ist seit 1970 um 20:15 Uhr in der ARD unter anderem der TATORT zu sehen). Video on Demand (VoD), DVD oder Blu-Ray sind Beispiele für Unterhaltungsmedien, die keine Programmmedien im definierten Sinn sind, da mit ihnen kein vom Veranstalter festgelegtes Programm angeboten wird. Der Nutzer wählt mit diesen Speichermedien selbst, was er zu welcher Zeit sehen oder hören möchte. Oft bieten VoD-Anbieter Flatrates an, die es den privaten Mediennutzern erlauben, sich zu einem festen Betrag pro Monat ohne Begrenzung Spielfilme bzw. Serien anzusehen. Statt etwa pro Woche nur eine neue Folge einer Serie sehen zu können, ermöglichen VoD bzw. DVD/Blu-Ray neue Sehgewohnheiten, wobei die ganze Staffel einer Serie in einer kurzen Zeitspanne konsumiert werden kann.

Neben dem Begriff Programmmedien ist der Begriff Leitmedien sinnvoll, da er darauf abzielt, die Dynamik mehrerer Medien in ihrer Interaktion zu beschreiben. [31]Als Leitmedien gelten Medien, die Standards setzen, sodass sich andere Medien an ihnen orientieren. Das Deutsche Fernsehen der 1950er-Jahre orientierte sein Programm an dem des Kinos: Das Fernsehprogramm wurde mit der TAGESSCHAU um 20 Uhr eröffnet. Es schloss sich etwa eine Dokumentation wie EIN PLATZ FÜR TIERE an, beendet wurde der Abend mit einer Hauptattraktion wie einer Spielshow. Wenn eine der heutigen führenden Tages- oder Wochenzeitungen wie die Süddeutsche Zeitung oder Die Zeit – um ein weiteres Beispiel zu nennen – ein literarisches Werk rezensieren, ziehen häufig andere Zeitungen nach, die damit diesen Zeitungen eine Meinungsführerschaft und damit eine Funktion als Leitmedium zuerkennen. Mit dem Begriff Leitmedien wird nicht nur derart die Dynamik von Medienfigurationen beschrieben, sondern darüber hinaus auch die Wirkungsmacht von Medien auf die Gesellschaft. Ein Leitmedium ist in dieser Hinsicht etwa eine bestimmte Wochenzeitschrift wie Der Spiegel, weil sie meinungsbildend ist.16

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