Loe raamatut: «Rolien & Ralien», lehekülg 2

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Ralien und Rudolf

Mit großer Hingabe kehrt Rolien nach dieser Reihe von Erfahrungen mit lebendem Spielzeug wieder zu ihren Puppen zurück. All die vorübergehend verschmähte Kleie, die Holz- und Porzellanköpfe entführen sie wieder in die grenzenlose Welt der Phantasie. Diese Rückkehr ist umso bemerkenswerter, weil sie ihr Spiel von nun an bewusst spielt. Nicht das Spielzeug bestimmt, sondern eine andere, nah verwandte Rolien, die sich ständig in ihr Denken und Tun drängt.

»Und sie nennt sie heimlich Ralien«, diktiert ihr zweites Ich.

»Ich denke in Büchersprache.« Mit diesen Worten versucht sie ihrer Mutter diese Stimme zu erklären. »Wenn ich Doras Haare kämme, sagt jemand in mir: ›Jetzt nahm sie den Kamm und kämmte das lange schwarze Ziegenhaar ihrer Lieblingspuppe. Draußen war schönes Wetter, deshalb setzte sie ihr ein hellblaues Mützchen auf.‹« »Ich bin es so leid«, klagt sie ein anderes Mal, »ich fange schon an, in Sätzen zu träumen.«

Agnes und Mieke hatten sich nie so komisch benommen, die Mutter auch nicht, und der Vater ganz bestimmt nicht; pädagogische Schriften brachten auch keine Lösung, deshalb bleibt nur, sich über sie lustig zu machen. Vor allem bei Tisch: »und dann häufte Rolien wieder einen Berg Marmelade auf ihr Brot. Sie bekam davon ganz aufgeblähte Wangen.« Daraufhin wirft Rolien Mieke dieses Marmeladenbrot ins Gesicht. Zur Strafe gibt es eine Woche lang keine Süßigkeiten. Aber es hat gewirkt, denn keiner wagt es mehr, sich über Ralien lustig zu machen.

Die Zeit ist vorbei, in der die Puppen nur für ihr eigenes Glück lebten; nun wird mit ihnen experimentiert. Denn warum sollte Emmie nicht genau wie Nellie Kinder kriegen können? Zur Ermunterung legt Rolien die Puppe nicht mehr in die Wiege, sondern ans Fußende ihrer eigenen rosaroten Daunendecke. Wenn Griets Wecker sie jetzt am frühen Morgen weckt, will sie nicht mehr einschlafen. Sie nutzt die gewonnene Stunde, um die Puppe mit den Füßen hin und her zu schaukeln. So wurden schließlich auch die Kätzchen geboren. Manchmal rennt sie plötzlich schnell weg, in den Gang. Vielleicht will Emmie sie überraschen. Dort wartet sie dann, aber nach mehreren Enttäuschungen gibt sie schließlich auf. Eine Puppe bleibt eine Puppe und kriegt somit keine Kinder.

»Und dann holte sie den Arzt«, sagt Ralien, um ihr noch eine Chance zu geben, »und er untersuchte das Puppenkind.« Rolien hüllt sich in ein Bettlaken und klopft mit ihrer Zahnbürste den rosa Körper ab. Sie beklebt ihn mit buntem Metallpapier, zieht es wieder ab, pinselt die Oberschenkel dunkelgrün und die Waden rot, mit kleinen Herzchen. Weil ihr nicht klar ist, was für Kinder Emmie kriegen könnte (lebende oder welche aus Streichhölzern), gibt sie dieses Projekt ohne großes Bedauern auf und beschäftigt sich jetzt ganze Nachmittage damit, die Nacktheit der kleinen Menschenimitate zu studieren. Dass der Matrose Tom und die kleine schwarze Puppe Jackie genauso glatt und ungestaltet sind wie die Mädchen, fällt ihr nicht besonders auf. Den Geschlechtsunterschied erkennt sie am Haarschnitt und vor allem am Gesichtsausdruck. Tom und Jackie haben immer einen sehnsuchtsvollen Blick und die Mädchen einen so glücklichen, als bräuchten sie nichts mehr ersehnen. Mit Ausnahme von Dora, der griesgrämigen Charakterpuppe, die sie am liebsten mag. Nachdem die makellosen Nacktfiguren mit Gucklöchern durchbohrt sind, und weil sie Zusammenbrüche vermeiden möchte, macht sie aus den Jungen in rosa Seide gekleidete Mädchen und aus den Mädchen Jungen in Matrosenhosen. Weil aber die Matrosenhose nach Sehnsucht und die rosa Seide nach Glück verlangt, versetzt sie alle – nach dem Motto Jungs sind nun mal Jungs und Mädchen Mädchen – wieder in ihren natürlichen Zustand zurück.

Ihr Vater teilt diese Auffassung keineswegs. Er beschäftigt sich nicht oft mit ihr, amüsiert sich aber dann und wann damit, sie alle möglichen schwierigen Wörter verwenden zu lassen. Ihr ist ein großer Wortschatz angeboren. Sie lässt sich weder von dessen ungeachtet, noch von nichtsdestotrotz oder obgleich aus dem Konzept bringen. Aber bei »Wie läuft es denn so?« schaut sie hilflos zu ihm auf. »Ist das Reisen gemeint?«, fragt sie.

»Apropos reisen, möchtest du vielleicht nach Paris, Rolien?«

»Nein«, antwortet sie, »lieber nach Amsterdam, denn dort kann ich mich nicht unterhalten.«

»Aber wolltest du vielleicht nach Paris, um dort einen Jungen aus dir machen zu lassen?«

»Einen Jungen?«, wiederholt sie überrascht.

»Ja, das geht wirklich. Aber das muss vor deinem zwölften Geburtstag passieren. Und dann kommst du in einem grünen Cordanzug zurück.«

Jetzt kommt ihre Mutter herein. »Und mit kurzen Haaren«, schiebt Vater nach. Dieses kleine Gedankenspiel schenkt ihm die kindliche Befriedigung, sich für einen Moment einen Sohn herbeiphantasieren zu dürfen. Dass er diese Worte auch an sein Kind gerichtet hat, entgeht ihm. Genauso deren Wirkung. Die meisten Eltern säen wie er mit leichter Hand den ersten Samen, aus dem eine düstere, mächtige Pflanze erwächst, die Einsamkeit. Und trifft deren Schatten sie dann unverhofft, stoßen sie in naiver Verwunderung irgendwelche Sätze heraus, der Art: »Wie kommt unser Kind nur dazu … um Himmels willen, von wem hat sie das bloß?«

Am Abend, nach dem Ausziehen, stellt sie sich nackt vor den Spiegel. »Ich heiße Rolien«, sagt sie. »Und danach werde ich Rudolf heißen. Aber was werden sie dort an mir verändern?« Ihre Hand streift über ihre Brüstchen, umschließt die zaghafte Wölbung, streicht über ihre schmalen Schenkel. Sie entdeckt die ersten flaumweichen Härchen und denkt: So etwas haben die Puppen doch nicht. Sogar die alte Mutterpuppe ist weiß und glatt, aber ich hab es wohl … Ich hab es wohl. Das Streicheln ihrer eigenen kühlen Finger auf ihrer warmen Haut ist etwas sehr Angenehmes. Sie wiederholt es an den folgenden Abenden. So wird es zum Spiel. Zu ihrem Spiel, das sonst keiner auf der Welt kennt …

Dann überlegt sie, nicht ohne Bedauern, dass ein erwachsener Rudolf unmöglich Mutter sein kann. Wenn Vaters Plan aufgeht, muss sie sich einen anderen Berufswunsch ausdenken.

Sie hat gerade beschlossen, Arzt zu werden, als Marguérite, der französische Besuch der Nachbarn, sie auf andere Gedanken bringt. Rolien lauscht gern den wunderlichen Pariser Geschichten, die ihr Marguérite in einem ebenso wunderlichen Niederländisch auftischt. Aber immer irgendwo dort, wo keine ihrer Schulfreundinnen sie sehen kann. Denn Marguérite hat so komische, vornehme Kleider an, den Kopf voll unechter Locken, eine gepuderte Nase, rosa lackierte Fingernägel, und sie verbreitet, wo sie geht und steht, einen seltsam süßlichen Geruch. Deshalb lotst sie Marguérite, nach deren alberner Begrüßungsverbeugung vor ihrer Mutter, immer möglichst schnell in den Garten, in eine sichere Ecke im oder hinter dem Schuppen.

»Weißt du«, beginnt Marguérite heute, »wer in Paris die nettesten Männer sind? Ich weiß es von Rosy, unserem früheren Dienstmädchen, und der kann man glauben.«

»Nein«, antwortet Rolien. »Und ich will sehr gern ein netter Mann werden.«

»Heißt das nicht kriegen?«, fragt Marguérite.

Und Rolien, ohne weitere Erklärung: »Nein, werden.«

»Sie sind nicht distinguiert, aber witzig. Wenn Maman ein Diner gibt, sind sie sehr distinguiert, aber lachen gibt’s nicht. Und nie tun oder sagen sie etwas, um mich zum Lachen zu bringen. Doch über Rosys Mann lacht man sich schief. Außerdem ist er mutig. Allerdings nicht vorsichtig, denn jetzt ist er tot. Rosy sagt, das ist nicht so schlimm, ihr Temperament war ohnehin zu verschieden. Ich weiß nicht genau, was das bedeutet; ich denke mir, dass er sie nicht fest genug geküsst hat.«

»Aber was war er denn eigentlich?«

»Clown und Akrobat bei einem Wanderzirkus.«

Rolien ist enttäuscht. Zwischen distinguiert und Clown gibt es unendlich viele Berufe.

Und Ralien sagt: »Sie starrte düster vor sich hin. Mit einem Mal sah sie die beiden großen Pfosten neben dem Schuppen, an denen mit Ketten befestigte Ringe hingen. Und ihr Gesicht hellte sich auf. Was Rosys verstorbener Ehemann konnte, das kann sie auch, nur ohne zu sterben.«

»Warum sagt du nichts?«, fragt Marguérite ungeduldig.

Rolien geht zu den ledernen Turnringen, nimmt einen großen Anlauf. »Glaubst du«, fragt sie, gibt Schwung und ruft, »glaubst du wirklich, dass ich das auch werden kann?« Sie verschränkt die Beine über dem Kopf, macht ein Vogelnest. Und mit feuerrotem Vogelköpfchen und funkelnden Augen ruft sie: »Jetzt den Todessprung!« Sie schwingt sich so hoch, dass ihre Zehen das Grün der Kastanie berühren; dann lässt sie jäh die Ringe los und fällt vornüber ins hohe Gras.

Marguérite drückt die rosa Fingernägel in ihre Handflächen: »Pauvre chérie, tu t’es fait mal?«

»Bist du verrückt? Ich habe mir einen wunderbaren Plan ausgedacht. Wir geben zusammen eine Zirkusvorstellung, gegen Eintritt, und von dem Geld, das wir kassieren, nehme ich Akrobatikunterricht.«

Der Garten steckt voller Überraschungen. Nicht nur, dass am Festabend dort überall Gänseblümchen und Butterblumen blühen, auch das Licht, das die Windlichter verbreiten, gibt den Blättchen der Rosensträucher einen blau-silbrigen Glanz, wodurch die Rosen an Muscheln erinnern und Rolien sogar einen Augenblick lang wünscht, die Vorstellung würde von höherer Stelle abgesagt, damit sie die Blumen und das Licht für sich allein haben kann. Aber nur für einen Augenblick, denn dann versetzt sie Marguérite, im dottergelben Badeanzug, mit einem von ihrem Cousin geliehenen Akrobatenkostüm (einer langen Hose von Jaeger mit dazu passendem, reich mit Mottenlöchern verziertem Hemd) in Verzücken und Verwirrung. Alles hängt in weiten Falten um Rolien herum, zusätzlich wickelt sie sich in ein verregnetes Fahnentuch.

So empfängt sie die Gäste an der Gartenpforte. Dora und Emmie baumeln an Mutters Arm. Niemand verweigert den Cent Eintrittsgeld, für den ein weiß nummeriertes Kärtchen überreicht wird. Dass einige der Besucher mehr erwarten, als ihnen für diesen einen Cent geboten werden kann, beweisen die achtundzwanzig Kupferstücke, die in dem rosa Fingerschälchen liegen, nachdem fünfzehn Nummern ausgegeben wurden. Dass sich auch Rolien mehr von diesem Abend erhofft hat, beweist ihre Niedergeschlagenheit am Ende des so begeistert begonnenen Fests.

Und trotzdem … zunächst einmal war jeder nett. Zum Beispiel Fräulein Vola, unsere hochgeschätzte Hausfreundin, wie Vater sie nennt. Denn während Rolien, kopfüber an den Ringen hängend, heimlich über die violetten Strumpfbänder lachte, die sie um deren unförmige Knie entdeckt hatte (wie schön stachen dagegen Mutters runde Knie in den schimmernden Strümpfen und die kurzen, glattgeschmirgelten Puppenbeine ab), hörte sie auch Vola lachen, ein fröhliches Kichern, und während sie langsam bis hundert zählte, bevor sie absprang, hörte sie die Bemerkungen: »Was ist das nur für ein merkwürdiges Kind«, und zu Roliens Vater: »Marius, deine Tochter hätte eigentlich ein Junge werden sollen.« Als sie benommen und wohlbehalten wieder aufrecht stand, versprachen Fräulein Vola und auch ihre Mutter, sie bei nächster Gelegenheit in einen richtigen Zirkus mitzunehmen. Nein, an den Erwachsenen hat es heute Abend bestimmt nicht gelegen. Sie schienen sich so zu amüsieren, dass sie ihren unausstehlichen, beschützenden Tonfall ganz und gar ablegten. Und es lag auch nicht an Marguérite, die sich instinktiv völlig im Hintergrund gehalten hatte. Und nicht einmal an dem berüchtigten Todessprung, der misslang, weil der vernünftige Teil von Agnes ausgerechnet in diesem Augenblick schrie: »Lass das, Rolien, oh bitte, lass das sein!« Das Geschrei erschreckte Rolien so, dass sie eine Vierteldrehung zu früh absprang und mit dem Kopf auf der Samtweste des Notars von gegenüber landete; er griff ihr daraufhin ins Haar, zog sie an den Ohren, küsste sie mitten auf den Mund und sagte, selbst wenn sie zehn Jahre älter wäre, wüsste er immer noch nicht, was er tun solle. Am Ende hatten sich alle so höflich bei ihr bedankt, als ob sie es ehrlich meinten.

Marguérite erwartet sie mit dem rosa Fingerschälchen und den achtundzwanzig Cents.

»Weißt du schon, wer dein Professor sein wird, Rolien?«, fragt sie interessiert.

»Professor?«, gibt sie abwesend zurück, und dann: »Oh nein, ich werde keinen Unterricht nehmen, ich werde kein Akrobat. Und hier, die Hälfte ist für dich.«

Worauf Marguérite froh mit der unerwarteten Beute nach Hause rennt.

4
Experimente mit Leben und Tod

Sie bleibt nun allein zurück, ein mageres kleines Mädchen in einem schmuddeligen Fahnentuch; allein mit den ausgebrannten Windlichtern und dem Gras mit den zertretenen Gänseblümchen und Butterblumen. Fern ist jetzt die stille Freude, die der Begeisterung des Festabends voranging. Die Unordnung entmutigt sie, aber wie kann sie dem entkommen? Es ist wie damals, als sie bei dem Katz-und-Maus-Spiel wie angenagelt dastand, obwohl sie am liebsten weggerannt wäre. Sie streckt die Arme nach den Rosen aus, doch die Blütenblätter sind bereits geschlossen und duften unbekannt nach Nacht. Dann stößt ihr Fuß gegen etwas Hartes. Sie bückt sich und greift in Doras langes schwarzes Haar; sie reißt sich das Fahnentuch vom Leib und wickelt die kalte Lieblingspuppe damit ein. »Rolien!«, ruft ihre Mutter, »ich habe im Garten eine Puppe verloren.«

»Verloren«, antwortet Rolien, »hast du auch schon mal ein Kind verloren?«

Nun lacht die Mutter, in dem Augenblick, in dem sie selbst weint; zwar nicht so weint, dass man es hören oder sehen kann, aber das muss die Mutter doch begreifen. Und hat dieses Lachen, das sie sonst (wegen der zwei perlweißen Reihen) so liebt, jetzt nicht etwas Spöttisches? Später im Bett gibt es keinen Grund zu schlafen, aber gute Gründe, wach zu bleiben und an die unförmigen Knie von Fräulein Vola zu denken, wobei sie es jetzt bedauert, dass sie die Knie nicht kurz angefasst hat, um genau zu wissen, wo der Knochen anfängt und das Fleisch aufhört. Auch der warme Mund des Notars kehrt zurück, mit diesem kitzelnden Schnurrbart auf ihren Lippen. Und wieder hört sie: »Rolientje, selbst wenn du zehn Jahre älter wärst, wüsste ich immer noch nicht, was ich tun sollte.« Was würde er dann tun, und warum sollte er es jetzt noch nicht wissen? Und nein, Akrobatin will sie nicht mehr werden, und das mit Paris wird natürlich auch nichts, Vater sagt öfter solche Sachen, und Mutter … wie hat sie nur die arme Dora im Garten vergessen können, und wie konnte sie danach auch noch darüber lachen? Dasselbe Lachen wie nach einem Streit mit Vater, wenn sie seine Krawatte neu bindet. Und trotzdem bleibt sie stolz auf ihre Mutter: Wenn die sie von der Schule abholt, ist sie schließlich immer die Schönste von allen Müttern. Und für ihren Vater schämt sie sich weiterhin: Er spuckt auf die Straße, direkt neben sie, einmal sogar auf ihre weißen Schuhe. Sie hat sie danach nicht mehr anziehen mögen, konnte es der Mutter aber nicht sagen, sonst wäre die Mutter wieder böse auf Vater geworden, und das ist schlimmer als alles andere. Morgen wird sie Marguérite den Akrobatenanzug zurückgeben. Komisch, die Hose wird vorn zugeknöpft, das hat sie noch nie gesehen, sie wird sich auch so eine wünschen. He, da sind sie ja wieder, diese komischen Knie, nun sind sie an Mutters Beinen, nein, Mutter, du hast schlanke Beine, aber du hast falsch gelacht. Du begreifst nicht, dass Dora lebt, auch wenn sie keine Kinder kriegen kann, und sterben kann, genau wie die Gänseblümchen und die Butterblumen. »Liebe, liebe Dora« (sie drückt einen Kuss auf das harte Puppenhaar), »du hättest tot sein können wie das Kätzchen, aber nun du lebst noch. Du lebst noch, denn du bewegst deine Arme und du küsst mich zurück, nicht so eklig wie der Notar, sondern ganz zart. Was sagst du, mein Schatz? Du willst nicht, dass deine Mutter Rudolf heißen soll? Aber nein, ich bleibe Rolien und dein Mütterchen, und später werde ich eine richtige Mutter. Oh, jetzt weiß ich’s, vielleicht hätte der Notar mich in zehn Jahren zur Mutter machen wollen. Aber was auch immer passiert, selbst wenn aus mir achtzehn echte Kindchen herauskommen, darfst du trotzdem bleiben und mit ihnen spielen, du musst mir nur versprechen, dass du nie sterben wirst, auch nicht, falls meine dumme Mutter dich nochmal draußen liegen lässt. Ach Dora, du sollst nie sterben …«

Und während Rolien Dora dann in ihre Achselhöhle bettet und viermal hintereinander sagt, jedes Mal mit der Betonung auf einem anderen Wort, »Dora wird nicht sterben müssen«, und schläfrig überlegt, ob sterben müssen zusammengeschrieben wird, kommt Ralien (und Roliens Herz hämmert bei diesem unerwarteten Besuch) und wiederholt noch einmal, mit der Betonung auf nie: »Dora wird nie sterben müssen, wenn du, Rolien, tust, was ich dir sage:

Steig aus dem Bett,

drück auf den Lichtschalter,

nicht auf das weiße Lämpchen,

sondern den schwarzen Schalter,

halte den Schalter

zehn Sekunden lang fest.«

Rolien schält sich zitternd aus ihren Decken, schlittert mit nackten Füßen über das Linoleum.

»Eins, zwei, drei, vier …«

»Viel langsamer,

öffne die Lade an dem hohen Schränkchen,

genau, so …

mach eine tiefe Verbeugung,

eine Tanzstundenverbeugung,

über die die Jungs gelacht haben,

weil du anders bist

als alle anderen,

noch einen Moment, einen kleinen Moment,

öffne die Lade an dem niedrigen Schränkchen

und halte dein Nachthemd wie ein Ballkleid.«

Jetzt sieht sie in den Spiegel und erschrickt vor dem bleichen Gesicht. Dann lässt Ralien diese feindselige Anrede in der zweiten Person sein und fährt mit ihrer vertrauten Bücherstimme fort: »Sie stolperte fast, so schnell lief sie nach dieser bangen Begebenheit in ihr Bett zurück, wo Dora wieder in ihre Achselhöhle kroch.«

Als Rolien im Winter darauf mit Dora im Schnee spielt, warnt Fräulein Vola sie: »Rolientje, zieh deiner Puppe doch ein Mäntelchen über, sonst holt sie sich noch den Tod.«

»Das kann nicht sein«, antwortet Rolien, und sie denkt an die Sommernacht, in der Ralien Doras Leben gerettet hat. Denn dieses den Schalter Festhalten und dieses sich vor Schubladen Verbeugen und dieses Nachthemd in ein Ballkleid Verwandeln, das sie mindestens dreimal pro Woche wiederholt, bürgt für Doras Leben.

Bevor sie nachmittags zur Schule geht, lässt sie die Puppe im weißen Garten zurück. Es ist barbarisch, sie zu verlassen: Schon kleben die ersten Schneeflocken auf den pechschwarzen Haaren, eine große Flocke auf dem roten Mund küsst sie noch rechtzeitig weg. Und sie ist bereits am Ende der Straße, als sie noch einmal zurückläuft. »Dora«, sagt sie, »das ist ein Test. Nichts weiter als ein Test, ob Fräulein Vola recht hat oder Ralien. Es muss sein, und glaub mir, ich bin wirklich nicht böse. Später, wenn du alt genug bist, werde ich es dir ausführlich erklären.«

Doras eines Auge, das noch nicht eingeschneite, blickt sie freundlich verstehend an. Vier Stunden später kommen dieses eingeschneite Auge und der restliche perfekte Puppenkörper wieder vollkommen unversehrt aus der weißen Schicht hervor, neben dem Baum, in den Marguérite einst ein Herz mit einem Pfeil und zwei Buchstaben geritzt hatte.

Im nächsten freien Aufsatz, in dem es um etwas Aktuelles gehen soll, schreibt Rolien über Schneemänner und eingeschneite Puppen: » … sobald es zu tauen beginnt, bleibt von einem Schneemann nichts übrig; aber die eingeschneite Puppe bekommt nicht einmal eine Erkältung, und deshalb sterben Puppen nie« (deshalb und nie unterstrichen) »und deshalb können sie nur zerbrechen oder kahl werden …« Danach, wieder in Klammern … »(Kinder können sie auch nicht kriegen)«. Als die Lehrerin die Aufsätze in der Woche darauf zurückgibt, reicht sie Rolien das Heft, doch ohne wie üblich ihren Aufsatz laut zu loben. Ihr spitzer rosaroter Nagel deutet auf die Buchstaben am Seitenende. Und Rolien liest: »Sowohl Tod als auch Geburt sind keine Aufsatzthemen für elfjährige Mädchen.«

Tasuta katkend on lõppenud.

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