Loe raamatut: «Fall Jeanmaire, Fall Schweiz»
Dieses Buch ist nach den neuen Rechtschreiberegeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckige Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Gestaltung: Christine Hirzel, hier + jetzt
Bildverarbeitung: Humm dtp, Matzingen
© 2006 hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden
www.hierundjetzt.ch eBook-ISBN 978-3-03919-700-2
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
Inhalt
I. Abtreten – Der Schritt in den Ruhestand
II. Mur and Mary
III. Die Überwachung
IV. Die Verhaftung
V. Die Verhöre
VI. Der Schritt in die Öffentlichkeit
VII. Sehstörungen der Bupo
VIII. Irrungen und Wirrungen im Nachrichtendienst
IX. Auf dünnem Eis
X. Störung der KSZE-Kreise
XI. Das politische Tribunal
XII. Der geheime Schauprozess
XIII. Im Gefängnis
XIV. Täter und Opfer
Anmerkungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Zeittabelle
Abkürzungen
Anmerkung und Dank
Personenregister
I. Abtreten – Der Schritt in den Ruhestand
Der Tag sollte lang, aber interessant werden. Kurz nach 9 Uhr bestiegen die Korpskommandanten, Divisionäre und Brigadiers vor der Berner Guisan-Kaserne die Cars. Die Fahrt ging nach Thun, wo orientiert wurde: über den Stand der Evaluation von Flab-Lenkwaffen, der Panzerabwehr-Lenkwaffe BB 77 DRAGON, über die Entwicklung der Hohlpanzerrakete 74 und das Raketenrohr 75. Danach setzten sich die Herren erneut in die Cars und fuhren zum Zielhang; dort demonstrierten tiefere Grade, wozu die Panzerrakete 74 im Feld tauglich war. Zurück in Bern, nahm man in der Guisan-Kaserne das Mittagessen ein, begab sich nach dem Kaffee in den Vortragsraum und folgte weiteren Referaten. Den Abschluss bildete, krönender Kontrapunkt zu den militärischen Fachmonologen, ein Referat über das Verhältnis zwischen Armee und Medien, das der Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung», Fred Luchsinger, zum Besten gab. Abends, es war schon dunkel, verschob sich die Generalität nach Grosshöchstetten in den Gasthof Sternen, wo zehn Tische und eine dienstbeflissene Servierequipe bereitstanden.
Es handelte sich um die traditionelle Jahreskonferenz der Heereseinheitskommandanten und Chefs der Dienstabteilungen des Eidgenössischen Militärdepartements. Für Brigadier Jean-Louis Jeanmaire, den Chef der Luftschutztruppen, war es das letzte Mal, dass er in diesem erlauchten Kreis sass. Man schrieb den 25. November 1975, Jeanmaire hatte seinen 65. Geburtstag bereits hinter sich, zum Jahresende sollte er in den Ruhestand treten. Vielleicht war dies der Grund, weshalb er an den Tisch Bundesrat Rudolf Gnägis, des EMD-Chefs, zu sitzen kam. An den Ehrentisch also.
Zeit seines Lebens war Jeanmaire mit Leib und Seele Soldat gewesen. An der ETH Zürich hatte der Bieler zwar ein Architekturstudium absolviert und anschliessend in Südfrankreich eine paar Monate in seinem Beruf gearbeitet. Aber es war die Welt der Waffen und Uniformen, der Disziplin, des Gehorsams und Taktschritts, die ihn faszinierte. Seine Vorbilder sah er nicht in Koryphäen der Architektur, sondern in strammen Offizieren. Allen voran in seinem Vater, dem Kavallerieobersten und Platzkommandanten von Biel. Als Schüler schon hatte sich Jean-Louis wiederholt vom Unterricht abgesetzt und in die Zuschauerreihen geschlichen, die die Strasse mit defilierenden Truppen säumten. Oder war in jene Geländekammern geradelt, in denen Krieg simuliert wurde.
So stand von allem Anfang an fest, dass der junge Mann, der 1931 die Infanteriere-Rekrutenschule absolviert hatte, nach Höherem strebte. Als er ein Jahr später, frisch brevetiert und herausgeputzt in seiner Leutnantsuniform, vor seine Mutter trat, zog er die Pistole, gab drei Schuss ab und erklärte: «Jetzt bin ich Offizier.»1
Doch bald schon spürte er, dass eine Milizlaufbahn sein Bedürfnis nach soldatischem Sein kaum würde befriedigen können. Immer deutlicher machte sich das Verlangen bemerkbar, Soldat und nur Soldat zu sein und seine jugendlichen Energien ganz in den Dienst der Armee zu stellen. Instruktionsoffizier werden – dieser Gedanke beherrschte nun seine Zukunftspläne. Eine Zeit lang aber trieben ihn noch Zweifel um. Würde er es überhaupt schaffen?
Im Herbst 1935 leistete der Leutnant auf dem Monte Ceneri Dienst. In jenen Tagen fasste er sich ein Herz und schrieb dem Waffenchef der Infanterie, Divisionär Borel, einen Brief: «Nach reiflicher Überlegung und nach einem Gespräch mit meinem Paten, Oberstdivisionär Tissot, habe ich die feste Absicht, mich als Aspirant für den Instruktionsdienst zu melden.»2 Bevor er, liest man darin weiter, seinen Antrag offiziell unterbreiten werde, möchte er den Herrn Waffenchef bitten, ihn in den nächsten Tagen in Bern zu empfangen, damit er ihm die Motive seiner Absicht mündlich auseinander setzen könne. Schon einen Tag später erhielt Leutnant Jeanmaire Antwort von einem Mitarbeiter des Waffenchefs: «Durch einen Zufall erfahre ich, dass der Brief, datiert vom Monte Ceneri vom 30. September, ohne Unterschrift bei uns heute eingegangen, von Ihnen stammt.» Der Entscheid hatte den Anwärter dermassen erregt, dass er tatsächlich vergass, das Schreiben, mit dem er die Weichenstellung seines Lebens ankündigte, zu unterzeichnen.
Vielleicht dachte Jeanmaire an jenem Novemberabend, am Ehrentisch im Gasthaus Sternen, an den leicht stolpernden Beginn seiner Karriere. Vielleicht erfüllte ihn auch die Aussicht, in ein paar Wochen die Uniform endgültig abzulegen und, wie man bei solcher Gelegenheit sagt, ins Glied zurückzutreten, mit ein paar Wehmutsregungen. Keine Befehlsgewalt, keine Mission, keine Auftritte mehr, auch keine salutierende Ehrerbietung von Soldaten und Offizieren, die seinen Weg kreuzten. Nur, ein Kind der Traurigkeit war Jean-Louis Jeanmaire nie. So genoss er auch diese letzte grosse Tafelrunde in vollen Zügen. Tags darauf erzählte er seiner Frau Marie-Louise am Telefon:
Ich war am Tisch von Gnägi und habe ihn richtig zum Lachen gebracht, ich habe Witze erzählt und alles, was man will. Es war ein sehr schöner Tag. Alle waren liebenswürdig mit mir. Ich verdiente auch den Dank der Armee und des Schweizer Volkes, den er mir ausgesprochen hat.3
Zum Jahresende hin durfte der Demissionär noch manche Zeichen der Wertschätzung entgegennehmen. Die herzlichsten, für militärische Verhältnisse geradezu überschwänglich formulierten Sätze sind im Mitteilungsblatt der Schweizerischen Luftschutz-Offiziersgesellschaft nachzulesen:4 «Es gebührt Ihnen Dank für das, was Sie geleistet haben und Dank dafür, wie Sie es geleistet haben. Ihre Begeisterung wirkt anspornend. Trotz Ihres militärischen Berufes und der formell strengen Hierarchie dringt Ihre Menschlichkeit durch und schafft Vertrauen.» Den Verfasser schmerzte offensichtlich der Abschied von jener Persönlichkeit, die den Luftschutz während Jahren geprägt und dessen Ansehen gehoben hatte: «Ihr persönliches Engagement für Ihre Lebensaufgabe wird es mit sich bringen, dass man Sie auch nach dem Stichdatum vom 31.12.75 weiterhin sehen und hören wird.»
Brigadier Jeanmaire trat Ende 1975 in den Ruhestand. Bei einem währschaften Nachtessen in Grosshöchstetten wurden seine Verdienste im Kreis der Generalität gewürdigt. Der Geehrte ahnte damals nicht, dass ihn die Bundespolizei bereits seit drei Monaten auf Schritt und Tritt observierte und seine Telefone abhörte.
Solche Worte schmeichelten dem Brigadier. Aber noch mehr schmeichelte ihm, dass er der obersten Armeeführung offenbar unentbehrlich schien. Denn jener Herr, der im «Sternen» in Grosshöchstetten den Vorsitz des Tisches Nr. 2 innehatte, Divisionär Weidenmann, Chef des Nachrichtendienstes, wandte sich um den Jahreswechsel an ihn mit der Anfrage, ob er bereit wäre, eine Studie über die Zivilverteidigungsmassnahmen in andern Ländern anzufertigen.
Nichts lieber als das. Bevölkerungsschutz war sein Fachgebiet, da machte ihm keiner etwas vor. Und ein solcher Auftrag würde dem kontaktfreudigen Pensionär erst noch Gelegenheit bieten, seine Beziehungen weiterzupflegen, bei den Leuten zu bleiben, den Blick über die Landesgrenze zu werfen.
Am 13. Januar 1976 setzte sich P. B.,5 Weidenmanns Adjunkt, mit Jeanmaire telefonisch in Verbindung, um die Einzelheiten des Auftrags zu besprechen: Honorar, Spesen, Befristung, Arbeitsort. Jeanmaire gab sich kulant, man wurde rasch handelseinig. Kurz danach läutete das Telefon erneut bei Jeanmaire. Am Apparat war Verena Ogg.6
Ogg: Machst Du etwas?
Jeanmaire: Ich schaffe, ja.
O: Ich wollte schauen, ob Du «pfusest».
J: Nein, nein, ich schaffe, ich bin hinter dem Telefon, siehst, nur einmal geläutet.
O: Das ist wunderbar, das ist in Ordnung.
J: Ich will heute mein Papier erledigen.
O: Ja … dann kann man nachher hinter das Andere, gell.
J: Mhm.
O: Mhm. Ist es gut gegangen diesen Morgen?
J: Ja, ich habe sogar den Seppli gesehen.
O: Welcher Seppli?
J: Der Seppli F(V)ischer.7
O: Ah der Seppli Fischer …
J: Ja, und er hat gesagt: «Was machen Sie da»? hat er mir gesagt, non «que faites-vous là, que faites-vous là».
O: … hat er gemacht.
J: Im Treppenhaus und nachher sind wir in den Gang gegangen und er hat noch lange mit mir gesprochen. Und dann habe ich ihm gesagt, ich ginge zum Weidenmann. «Ja ja, er habe scheints etwas für mich», der Herr Weidenmann, etc. und er hat gefunden, ich sähe gut aus und ob es mir gut ginge, und er glaube, mein Nachfolger habe gut begonnen, hat er mir gesagt, und heute Nachmittag habe er Rapport mit ihnen, nicht wahr.
O: So, ist in Ordnung.
J: Um 14 Uhr, in 10 Minuten, müssen sie in den Saal rein, nicht wahr.
O: Das ist in Ordnung, Du.
J: Voilà,
O: Er soll sie nur bürsten, «die Sieche».
J: Mh, «die dumme Cheibe», nicht wahr.
O: Hahahaha.
J: «Chüe».
O: Ist das etwas, das, was der Weidenmann hat?
J: Ja ja, ich bekomme es schriftlich.
O: Und würde es Dir passen?
J: Es würde mir passen. Ich bekomme ein Büro an der Thunstrasse 22.
O: Ou! das wäre ganz toll.
M: Das ist gerade bei der Tramhaltestelle Luisenstrasse. Ich bin zu Fuss gegangen, schauen gehen, es ist eine alte Hütte, aber sie haben dort ihren Technischen Dienst.8 […] Also die Bedingungen wären diese: Ungefähre Dauer des Auftrages 6 Monate. 2. 500 Franken pro Monat. 3.
O: Aber das ist noch schön, das zahlt Dir gerade schön die Reise.
J: Und nachher die Reisen Lausanne–Bern unbeschränkt bezahlt.
O: A-a!
J: Und 4. wenn ich in Bern übernachte 40 Stein.
O: Das ist aber toll.
J: Und 5. pro Mahlzeit 20 Franken.
O: Du, das ist aber grosszügig.
J: Voilà.
O: Aber, und es interessiert Dich, der Job an und für sich? […]
J: Ja, nicht wahr, ich muss prospektieren, einfach ein Inventar machen über die Massnahmen, die getroffen werden, zuerst einmal in allen Staaten, wo wir Vertreter haben […]. Und zweitens, in allen anderen möglichen Staaten – und da habe ich schon wieder Glück gehabt, etwas wahnsinniges, als ich zum Bundeshaus herausgekommen bin, läuft vorbei der Colonel Jacques Frémond.9 Der Jacques Frémond ist bei mir Generalstäbler geworden im Jahre 47 mit dem Zermatten.
O: Ja.
J: Ist ehemaliger Regimentsoberst, ist Professor und Direktor der Ecole Internationale Politique in Genf […] und Oberst im Generalstab: «Qu’est-ce que tu fais, mon cher Jean-Louis, j’ai cru que tu étais en retraite. Tu sors du Département Militaire fédéral?» J’ai dit, «oui, je viens de recevoir une nouvelle mission.» Und er ist ja sogar Direktor des Roten Kreuzes gewesen, vor zwei Jahren ausgetreten, ist aber noch im Verwaltungsrat drin, und er hat ja mit der relation internationale saumässig viel Beziehungen. […] Und er hat gesagt: «Je te conseille, 1. (Pause, weil O. rasch weg musste) Und da habe ich gleich auf meiner La Suisse notieren können und jetzt habe ich es bereits hier auf einem Kärtli notiert, die Nr. vom Oberst im Generalstab de Mülinen, der ist im Roten Kreuz und hat Beziehungen mit allen Ländern der Erde.
O: Das ist natürlich Schwein.
J: Und kann gerade zu ihm gehen, nachher die zweite Adresse, der Rubli, der ist Arzt in Zürich, ist gegenwärtig in Schuls im Guardaval.10
O: Hahahahaha.
J: Und da haben wir gelacht, und er hat mir gesagt, ich soll zum Rubli gehen, der Rubli ist ja in Vietnam gewesen, überall, er hat gesagt, er kennt alle Völker der Erde, der könne mir Adressen und Zeugs und Sachen geben, an wen ich mich wenden kann, nicht wahr. Voilà!
O: Das ist gut, du, da bin ich also froh für Dich. Weisst, da regst Du Dich nicht auf, Du kannst komplett frei machen.
J: Keine Beschwerden und nichts […].
O: Genau, also etwas besseres könnte Dir nicht passieren.
J: Mhm-mhm, nein.
O: Das ist fein. Aber bei Dir ist man d’accord daheim?
J: Ja ja, sehr.
O: So.
J: Sehr sogar.
O: Ah, dann ist das in Ordnung.
J: Nein nein, meine Frau selber und der Arzt hat es mir auch gesagt, es sei besser, ich mache noch etwas als Übergang als einfach anzufangen herumzusaufen, nicht wahr.11
Wenig später konnte er sich eines weiteren Zeichens seiner Unentbehrlichkeit erfreuen. Brigadier Schuler, Direktor der Abteilung Militärwissenschaften an der ETH Zürich, fragte an, ob er im Sommersemester 1977 eine Freifachvorlesung über «Zivilschutz in der Schweiz und im Ausland» halten wolle.12
Für Jeanmaire hätte der Wechsel in den Ruhestand kaum idealer beginnen können. Geehrt, umworben und erst noch die Aussicht, mit einem kleinen Pensum die Rente ein bisschen anzuheben. Was hätte ihm Besseres widerfahren können?
Dieser glückliche Mann hatte allerdings nicht die leiseste Ahnung, dass er landesweit auch der am schärfsten beobachtete Mann war. Selbst an jenem Morgen des 25. November 1975, als er um 7 Uhr das Haus verlassen hatte, zum Büro und anschliessend zur Guisan-Kaserne fuhr, waren ihm die Beamten der Berner Sicherheits- und Kriminalpolizei auf den Fersen – genau bis 9.07 Uhr,13 als er mit den anderen Generälen den Car nach Thun bestieg. Er ahnte nicht, dass der Bundesrat, den er abends im «Sternen» so erheiterte hatte, im Bild darüber war, was sich um ihn, den fröhlichen Possenreisser, zusammenbraute. Wie er auch nicht den geringsten Verdacht schöpfte, als ihm Divisionär Weidenmann jenen Auftrag für die Zivilschutzstudie zuhielt, der kein wirklicher Auftrag war, sondern den Zweck hatte, ihn auch nach der Pensionierung besser überwachen zu können und womöglich in eine Falle zu locken.14
Dies alles trug sich um den Jahreswechsel 1975/76 zu. Doch drehen wir den Film um vierzehn Monate zurück.
II. Mur and Mary
Die ersten Hinweise
Bupo-Kommissär Hans Hofer war eben aus London zurückgekehrt. Er hatte dort am 22./23. Oktober 1974 an einer Zusammenkunft des so genannten 9er-Klubs1 teilgenommen, einer losen Vereinigung von Abwehrdiensten, deren Mitglieder sich regelmässig trafen, um Fragen der terroristischen Bedrohung, der Spionageabwehr, der kommunistischen Unterwanderung zu erörtern. Kaum hatte Hofer seine Koffer ausgepackt, rief ihn der Chef in sein neues Büro – Bundesanwaltschaft und Bundespolizei hatten unlängst das fertig gestellte Verwaltungsgebäude an der Taubenhalde unterhalb des Bundeshauses bezogen.
Dr. André Amstein, der Chef der Bundespolizei,2 konnte mit Aufsehen erregenden Neuigkeiten aufwarten. Ihm hatte dieser Tage William (Bill) Hood wieder einmal einen Besuch abgestattet. Diesmal war Mister Hood angereist, um dem Schweizer Abwehrchef zu eröffnen, verschiedene in unserem Land lebende Personen, darunter ein hoher Offizier der Armee, leiteten den Sowjets seit langem Informationen weiter. Am 29. Oktober und 1. November 1974 traf sich dann Hood in dem im 7. Stock gelegenen Besprechungszimmer an der Taubenhalde mit Kommissär Hans Hofer, dem er den Sachverhalt genauer schilderte und je eine schriftliche Notiz zu den Fällen «Ron», «Belo», «Hals Farner», «Alkoser» sowie «Mur and Mary» überliess – alles Decknamen von Personen, auf denen angeblich ein Verdacht lag. Das Protokoll jener Besprechung vermerkt unter dem Stichwort «Gegenstand»: «Fall ‹Della Casa› TOP SECRET! GRU-Agenten3 in CH der Mitte der 60er-Jahre.»4
Dr. André Amstein, in Personalunion Chef der Bundespolizei und der Abwehr. Bei Amstein traf Ende Oktober 1974 der erste Hinweis der CIA auf «Mur and Mary» ein. Später behauptete Amstein vor der parlamentarischen Arbeitsgruppe Jeanmaire, der erste «Tipp» sei Mitte Mai 1975 erfolgt.
Bill Hood war ein alter Fuchs im nachrichtendienstlichen Geschäft. Führung von Agenten und Doppelagenten, Organisation konspirativer Treffs, Bedienung toter Briefkästen, die Technik des Beschattens, Abhörens, Anwerbens und Umdrehens – in allen diesen Disziplinen hatte er reiche Erfahrung.5 Als junger Mann war Hood 1942 in die amerikanische Armee eingetreten, die ihn dem OSS (Office of Strategic Services), der Vorläuferin der CIA, zuteilte. Während des Kriegs diente er im OSS-Hauptquartier in London, 1945 wurde er nach Bern zu Allen Dulles versetzt, dem grossen, legendenumwobenen Mann des US-Geheimdienstes, der in einem herrschaftlichen Haus an der Herrengasse 23 residierte. In der Nachkriegszeit entfaltete CIA-Mann Hood seine Aktivitäten im osteuropäischen Raum und in Lateinamerika, bis er in seine Heimat zurückkehrte und dort in der Zentrale in den Rang eines Executive officer of the Counterintelligence Staff aufstieg.
Als sich Hood in jenem Oktober 1974 nach Bern begab, betrat er also vertrautes Gelände, und das nicht nur seiner persönlichen Biografie wegen. Die Abwehr des neutralen Kleinstaats Schweiz lebte in ausserordentlich enger Symbiose mit so genannt befreundeten6 Diensten der westlichen Hemisphäre. Man bildete eine Community, man kannte sich, man warnte sich, man tauschte aus – das übliche do ut des, das die Basis nachrichtendienstlicher Arbeit bildet, seit es diese Arbeit gibt.7
Die enge Verdrahtung unseres Landes lässt sich leicht rekonstruieren anhand jener Meldungen und Berichte, die von den befreundeten Diensten täglich in Bern einliefen und die Eingang fanden in die Fichen, die die Bundespolizei über Diplomaten und andere Akteure führte.
Jeder Verbindung zu einem befreundeten Dienst ordnete die Schweizer Abwehr eine römische Ziffer zu.8 Auffallend häufig tritt die Ziffer XX in Erscheinung. Sie steht für die Verbindung zur CIA. Die Company, wie sie im Jargon heisst, war so etwas wie die Nährmutter des bescheidenen Schweizer Dienstes. Ohne sie wäre die Bupo im ideologischen Gestrüpp jener Jahre blind gewesen. Wenn immer östliche Diplomaten in oder durch die Schweiz reisten, lieferten XX und die andern befreundeten Dienste Personaldaten. So stossen wir etwa in der Fiche des Obersten Wassili K. Denissenko, der Jeanmaires Leben nachhaltig verändern sollte, unter dem 16. Dezember 1960 auf folgenden Eintrag: «v. Komm. IV/XX 496–60: D. fig. auf Liste Mitglieder der GRU-Residentur in Bern. Ist vermutl. Resident.»
Auffallend ist auch, dass bei Jahresbeginn die Zahlen hinter den römischen Ziffern niedrig, am Jahresende bedeutend höher waren. Offensichtlich versahen die ordentlichen Schweizer Beamten jede eingehende Information mit einer Nummer. Wenn also, wie in Denissenkos Ficheneintrag von Ende 1960, «XX 496» vermerkt ist, so darf daraus geschlossen werden, dass allein die CIA die Bupo jährlich mit mindestens 500 Hinweisen aller Art belieferte. Manchmal ist auch einfach «Routinebesuch» vermerkt. Solche Besuche stattete der CIA-Verbindungsmann ab, der der Berner US-Botschaft fest zugeteilt war. 1974/75 hatte ein Mann namens Paul van Marx diese Funktion inne.
Aber der Nachrichtenfluss bezog sich nicht nur auf echte oder vermeintliche Spione. In diesem Fluss, man muss eigentlich eher von Strom reden, schwammen auch zahlreiche andere Verdachtspersonen mit, Kommunisten, Aufwiegler, Flüchtlinge, vorwiegend Menschen, die die Berner Behörden dem Lager des ideologischen Gegners zuordneten. Dazu nur ein Beispiel: Als nach dem Putsch von General Pinochet im September 1973 auch in der Schweiz zahlreiche chilenische Flüchtlinge um Asyl nachsuchten, kam es zu harten und gehässigen Disputen. Hilfs- und kirchliche Organisationen traten für eine grosszügige Aufnahme ein, während die Behörden die Tür aus Angst, mit den Allende-Anhängern kämen Kommunisten ins Land, nur einen Spalt breit öffnen wollten. Auch damals lehnte sich die Abwehr vertrauensvoll an ihre Nährmutter an. Über eine Tagung des 9er-Klubs rapportierte Bupo-Chef Amstein seinem Departementsvorsteher, Bundesrat Kurt Furgler:
Was die Chilenen anbetrifft, haben die holländischen und die französischen Dienste festgestellt, dass es unter den Flüchtlingen Terroristen hat. Unsere Methode, vor der Asylgewährung die amerikanischen Dienste (CIA) über den Betreffenden anzufragen, hat sich bewährt.9
«A very sensitive source»
Für ansässige Berner wie für den ganzen Tross von Politikern, Journalisten und Lobbyisten, die sich im Dunstkreis des Bundeshauses bewegen, steht das «Della Casa» für Geselligkeit und bodenständige Kost. Man trifft sich im Restaurant dieses Namens, geniesst das Fondue, die Rösti, die Schlachtplatte, man pokuliert und spekuliert, entwirft hochfliegende Strategien und geniesst die Behaglichkeit der dämmrigen, verrauchten Wirtsstube.
Della Casa! Die Bupo benützte den Wohlklang dieses Genitivs zur Verschleierung eines weniger behaglichen Sachverhalts. Mit «Della Casa» taufte sie jene «Info-Pakete», die ihr Bill Hood und Paul van Marx über die angeblich vom GRU umgarnten Personen zustellten. Das Material kam in den Genuss dieses Namens, weil es auch seinen Überbringer, CIA-Mann Bill Hood, jedes Mal, wenn er seine Berner Kollegen besuchte, mit Macht in die gemütliche Wirtsstube an der Schauplatzgasse zog. Der Amerikaner, erinnert sich Kommissär Hofer, wäre dort lieber zweistatt nur einmal pro Tag eingekehrt.10
Diskretion gehört zu den Grundprinzipien des nachrichtendienstlichen Geschäfts. Als Hood in jenem Spätherbst seinen Schweizer Kollegen das erste «Della Casa»-Paket überbrachte, pochte er besonders nachhaltig auf dieses Prinzip. Jedenfalls drückte er seinen Wunsch nach Verschwiegenheit nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich aus, indem er ausser der Personenliste den mit «Top Secret» überschriebenen Vermerk deponierte:
A very sensitive source, who has provided reliable and documentary informations, but who currently ist not in a position to respond to questions about previously reported informations. It is absolutely essential that knowledge of the fact such a source exists and his information be handled with extreme discretion.11
Auch Bundesanwalt Rudolf Gerber bläute seinen Beamten später wiederholt ein, um keinen Preis auch nur die geringsten Anspielungen auf den «Tipp» und dessen Herkunft nach aussen sickern zu lassen – nicht zuletzt deshalb, weil entsprechende Informationen jene Personen, die an der Quelle stehen, an Leib und Leben gefährden könnten. In einer der regelmässigen Sachbearbeitersitzungen gab er die Devise durch, man müsse die eigenen Bemühungen in den Vordergrund rücken.12 Zur Verschleierung der Quellen trugen auch die Spekulationen der Medien bei. Nach Bekanntgabe des Falles kam nämlich das Gerücht auf, den «Tipp» hätten die Deutschen gegeben. Dieses Gerücht machte so fleissig die Runde, dass seine Botschaft beinahe als Tatsache verstanden wurde – und später sogar im Deutschen Bundestag kurz zu reden gab.13
Die mit Abstand brisanteste, jedenfalls folgenschwerste jener ersten fünf Notizen, die Hood an der Taubenhalde ablieferte, betraf Mur and Mary. Sie hat folgenden Wortlaut:14
MUR und MARY (GRU-Codenamen)
1. Im Lauf des Jahres 1964 stand der GRU Resident in Bern, Wassili Konstantinowitsch Denissenko, mit einem in Lausanne wohnenden Ehepaar in Kontakt. Die Eheleute wurden im Juni 1964 bei einem Treffen in St. Gallen einem anderen GRU-Führungsoffizier übergeben. Dieser Offizier war vermutlich Viktor Nikolajewitsch Issaev.15 (Penkowski hatte Issaev als Angehöriger des GRU-Illegalen-Direktorates identifiziert).
2. Unsere Informationen sind nur fragmentarisch, doch rapportierte Issaev eine Äusserung des MUR, wonach dieser gerne schweizerischer Militärattaché in Moskau sein würde, «um russisches Leben und die Bräuche studieren zu können». Issaev rapportierte auch, dass MUR wegen seiner Kontakte zu Sowjets Befürchtungen hege und ihn (Issaev) ersucht habe, ihren Kontakt zu verbergen. Ein Hinweis auf den clandestinen Aspekt der Beziehungen des MUR/MARY zu Denissenko und Issaev wird durch ihre Kontakt-Arrangements enthüllt. Issaev organisierte Kontakte durch Mary, wobei er seinen (Issaev’s) Vornamen (Viktor) oder einen französischen Namen verwendete.
3. Mary könnte russischen Ursprungs sein, da sie von ihrem Gatten als «ein Opfer der russischen Revolution von 1917» bezeichnet wurde, wobei er jedoch vermerkte, dass sie keinen Hass gegen die Sowjetunion hege. Mary wurde in der frühen Jugendzeit in einer Pensionats-Schule in Fribourg erzogen und betrachtet das Französische als ihre Muttersprache. Sie spricht kein Russisch. Ihr Vater soll ausgedehnte Verbindungen im schweizerischen Generalstab gehabt haben. Mary schloss die Sekundarschule in Bern ab und erhielt durch ihren Vater eine Stelle als Sekretärin in einer der Abteilungen des schweizerischen Generalstabes, wo sie MUR kennenlernte.
4. Anfänglich hatte Issaev das Gefühl, dass MUR und MARY nicht mit ihm zusammenarbeiten wollten; nach Erhalt eines Briefes von Denissenko – anfangs Oktober 1964 – lieferte MUR jedoch dem GRU ein Exemplar eines Berichtes über Leute in Schlüsselstellungen im schweiz. Generalstab. Issaev betrachtete die Eheleute nicht als ausgebildete oder rekrutierte Agenten und er war der Ansicht, dass es weder möglich, noch durchführbar sei, Druck auf sie auszuüben. Issaev hatte jedoch den Eindruck, dass sie habgierig seien und dass dieser Charakterzug ausgebeutet werden könnte.
5. Denissenko’s Nachfolger als Militärattaché und GRU-Resident war Pavel Michailowitsch Zapenko, welcher am 16. Juni 1964 ankam. Zapenko sagte Ende 1964, MUR und MARY hofften eine Reise nach der Sowjetunion zu machen und das GRU werde versuchen, sie vor der Reise einige wenige, wichtige Dokumente beschaffen zu lassen, damit das GRU eine realistische Basis für die Vornahme der Rekrutierung dieser Leute während ihres Aufenthaltes in der Sowjetunion haben würde.
Tappen im Dunkeln
Damit war die Schweizer Abwehr im Besitz jenes «Tipps», der die Jeanmaire-Affäre ins Rollen brachte.
Einstweilen rollte allerdings gar nichts.
Die Beamten der Bupo standen vor einem Rätsel. Sie hatten keine Ahnung, wer sich hinter MUR und dieser MARY verstecken könnte.
Was tun? Abwarten? Aktiv werden? Die Abwehr steckte in einem Dilemma. Einerseits hatte sich Mister Hood persönlich an den Aarestrand begeben. Dies konnte nichts anderes bedeuten, als dass die Amerikaner erwarteten, die Schweizer würden dem verdächtigen Offizier «Mur» das Handwerk so rasch als möglich legen. Andererseits hatte derselbe Hood, um die Sowjets keinesfalls nervös zu machen und die Quelle zu schützen, die Parole ausgegeben: «keine falsche Bewegung».
Die strikte Auflage des Amerikaners, auf forsches Vorgehen zu verzichten, hatte ihre Gründe – und die lagen möglicherweise bei dem in der «Mur and Mary»-Notiz erwähnten Penkowski.
Oleg Penkowski spielte im west-östlichen Nachrichtenkrieg, wenn auch nur für kurze Zeit, eine zentrale Rolle. In der Trophäensammlung, die die CIA vorzuweisen hat, gehört er jedenfalls zu den glanzvolleren Stücken.
Artillerieoffizier Penkowski hatte sich in der Dserschinski-Militärakademie zum Fachmann auf dem Gebiet der Raketentechnologie weitergebildet. Er spekulierte darauf, General zu werden. Die Beförderung kam nicht. Und zwar deshalb nicht, wie er vermutete, weil sein Vater im Bürgerkrieg auf der Seite der «Weissen» gegen die Bolschewiken gekämpft hatte. Die Enttäuschung darüber und sein Bedürfnis, gleichwohl eine herausragende Rolle zu spielen, bewogen ihn 1961, für den Westen zu arbeiten. Er stellte Kontakte zur CIA und zum britischen MI6 her, denen er Tausende von Seiten hochklassifizierter Daten über sowjetische Strategien und den Stand östlicher Raketenentwicklung lieferte.16 Seine detaillierten Angaben erlaubten es den Amerikanern, die sowjetischen Absichten während der Berlin-Krise (1961) und der Kuba-Krise (1962) realistisch einzuschätzen. Im Oktober 1962, auf dem Höhepunkt der Raketenkrise, wurde Penkowski von den Sowjets enttarnt, im Mai des folgenden Jahres vor Gericht gestellt, zum Tod verurteilt und exekutiert.
Nach Angaben von Kommissär Hofer gingen die ersten Hinweise auf Jeanmaires Kontakte mit den GRU-Agenten auf eben diesen Oleg Penkowski zurück – wohl eher indirekt als direkt. Die Informationen, die Penkowski geliefert hatte, ermöglichten den westlichen Diensten, auch zahlreiche in aller Welt tätige Sowjetagenten zu enttarnen und, wie es in der Fachsprache heisst, umzudrehen. Solche Personen, im Jargon «Maulwürfe» genannt, gewährleisteten den Fortgang des Informationsflusses auch über den Tod des Hauptinformanten hinaus. Dies erklärt, weshalb die CIA ihre Quellen unter keinen Umständen gefährden wollte – schon gar nicht wegen ein paar den Kleinstaat Schweiz betreffender Lappalien, die erst noch mehr als zehn Jahre zurücklagen.
So sass die Bupo auf dem brisanten «Tipp», ohne recht zu wissen, was sie damit anfangen sollte. Ihre Büros an der Taubenhalde jedenfalls scheint jener Hinweis nicht gerade in einen Taubenschlag verwandelt zu haben. Bern bewahrte vorerst Ruhe. Das mochte auch damit zu tun haben, dass die Informationen, die die CIA in der Vergangenheit geliefert hatte, nicht immer über alle Zweifel erhaben waren. Andere westliche Abwehrdienste bekundeten für das CIA-Material ebenfalls nur mässige Wertschätzung.17 Umgekehrt gingen in Bern Meldungen befreundeter Stellen ein, die Fälle aus derselben Quelle bearbeiteten und Abwehrerfolge verzeichneten.18 Und die Bupo testete ihrerseits die Bonität des Materials anhand des ehemaligen Walliser Polizisten B. (Deckname «Belo»), der überführt und bestraft werden konnte.